III. Kapitel. Südamerikanische Sitten und Gebräuche; geselliges Leben.

Ein merkwürdiges Abendessen. — Spanische Höflichkeit. — Die Bedürfnislosigkeit der Einheimischen. — Schmuck und Putz der Frauen. — Die Feier meines Geburtstages. — Eine Angelfahrt. — Ein Osterausflug. — Die Gesellschaft der Freunde des Buddhismus. — Die Buddhalehre. — Musikalische Übungen. — Eine Hochzeitsfeier. — Eisenbahnfahrten in Paraguay.




Mit den Inhabern derjenigen Handelshäuser, welche die Waren-Aus und -Einfuhr in großem Maßstabe betrieben, stand ich ohne Ausnahme auf freundschaftlichem Fuß. Nahezu alle unterhielten mehr oder minder lebhaften Briefwechsel mit meinem väterlichen Handelshause in Hamburg. Dagegen kam ein gesellschaftlicher Verkehr, wie er sich in der Heimat aus obwaltenden Umständen als selbstverständlich ergeben haben würde, nicht in Frage. Nur einmal hatte ich den Vorzug, zusammen mit einem Engländer von einem angesehenen Kaufmann spanischer Abstammung in der Stadt zum Abendessen in seinem Hause eingeladen zu werden. Der Engländer und ich betraten das Wohnzimmer, in dem wir von unserm Wirte willkommen geheißen wurden. Die Senora fanden wir in einem Nebenzimmer, wo sie in der Frisierjacke und ohne Schuhe auf einer Art Sopha lag und sich fächerte. Mit den freundschaftlichsten Begrüßungen erwiderte sie die unsrigen, ohne sich im übrigen mehr zu rühren, als zum Fächern notwendig erschien. Wir wurden in das Esszimmer geleitet, in dem der Tisch mit einem ganz unsagbar schmutzigen, durchlöcherten Tuch überdeckt war. Eine große Menge Brotkrumen und einzelne Wursthäute lagen darauf. Unser Wirt war rücksichtsvoll genug, diese nicht zu unserer Mahlzeit gehörigen Speisereste mit der Hand auf die Erde zu fegen, worauf wir geladenen Gäste Platz nahmen. Unser Freund brachte eine Anzahl Teller, die er zuvor mit einem Tuch reinigte, ehe er sie vor uns niedersetzte. Unter diesen befanden sich nicht zwei derselben Art. Sodann holte Don Féderico Brot und Konserven. Mittlerweile hatte ich die Gelegenheit benutzt, mir das Zimmer des näheren zu betrachten. Vieles starrte vor Schmutz, die Cucarachas bis zu 8 cm Länge liefen an den Wänden umher und besudelten alles, ohne dass augenscheinlich jemals Bedacht genommen war, die so geschaffene Unsauberkeit zu entfernen. Auf dem Anrichtetisch stand eine Reihe benutzter Gläser und von den zwölf Fensterscheiben waren drei, augenscheinlich vor Monaten, eingeworfen. Unter lebhafter Unterhaltung verlief das Essen. Schließlich ging unser Wirt an den Eisschrank, um eine Flasche Wein daraus hervorzuholen. Etwas vorschnell trank der Engländer in großem Zuge, spie aber einen Augenblick später das Genossene ins Zimmer: unser Freund hatte aus Versehen die Essigflasche erwischt. Er wurde tatsächlich verlegen, entschuldigte sich mit der den Spaniern zu Gebote stehenden Flut von Worten und brachte eine andere Flasche. Diese enthielt Bier. Nach dem Essen ging ein Bocksbeutel um den Tisch herum. Indessen ließ ich, nicht ganz uneigennützig, die Freunde vor mir trinken, weil mir nicht ausgeschlossen erschien, dass der Bocksbeutel Schwefelsäure, Benzin oder ähnliches enthalten möge. Darauf brachte man Mate. Unser Wirt prüfte jede Tasse auf ihre Reinheit, bevor er sie uns überreichte. Eine Stunde nach dem Tee verabschiedeten wir zwei Gäste uns unter der Versicherung, selten einen so angenehmen Abend verbracht zu haben.

Kleine Ursachen, große Wirkungen. Dieser Tag sollte der Wendepunkt in meinem La Plata-Aufenthalt werden. Bevor wir, der Engländer und ich, unsere Wohnungen aufsuchten, gingen wir noch in ein Kaffeehaus, um alles an diesem Abend Erlebte mit europäischem Verständnis zu besprechen. Der Reinertrag unserer Unterredung gipfelte in meinem Beschluss, Paraguay im Juli zu verlassen und nach Argentinien überzusiedeln. Ein längeres Verweilen im Lande war ohne Frage mit manchen Gefahren verknüpft. Ich vergegenwärtigte mir auf Anregung des Engländers, dass ich seit dem 22. Dezember, also seit 10 Wochen, es nicht für notwendig erachtet hatte, einen Kragen umzulegen, von Manschetten gar nicht zu reden. Dementsprechend verlief mein übriges Leben. Wenn ich mir auch noch nicht alle Landessitten zu eigen gemacht hatte, wenn ich beispielsweise bei Gelegenheit der Mahlzeiten Knochen nicht unter den Tisch oder meinem Nachbar in den Schoss warf, so war ich doch in Ermangelung einer Serviette gezwungen, an ihrer Stelle regelmäßig das Tischtuch zu benutzen. Recht häufig waren Fälle bekannt geworden, in welchen junge Leute, die nach einigen Jahren Aufenthalts in Paraguay dieses Land mit Buenos Aires vertauscht hatten, zurückgekehrt waren, weil sie die Sitten der wohlgebildeten Europäer in jener Stadt als lästig empfanden. Nun lag es durchaus nicht in meiner Absicht, mich zum Urmenschen zurückzubilden, und somit wollte ich denn, wie bemerkt, nach der La Plata-Mündung übersiedeln.

So unwürdig die Sitten in mancher Beziehung bei den eingeborenen, spanischen und italienischen Familien in Asuncion auch sein mögen, so lässt sich doch von dort manches aufzählen, was zur Nachahmung in Deutschland recht dringend zu empfehlen wäre. Wenn die Bedeutung der Höflichkeit auch selten über die äußeren Formen hinausgeht, so sind diese doch gewiss geeignet, das Leben vielfach angenehm zu gestalten.

Sitzen beispielsweise 4 Freunde in Deutschland im Cafe, so ruft man schließlich den Kellner und meist legt jeder einzelne gewissenhaft seine wenigen Groschen nieder. Ein derartiges Verfahren würde man in Paraguay, wie so ziemlich im ganzen Amerika, als einen Verstoß gröbster Art ansehen. Mit Recht, denn wesentlich angenehmer gestaltet sich die Frage des Zahlens für alle Teile, wenn in einem Falle wie dem vorliegenden einer zahlt und die übrigen dies als selbstverständlich auffassen. Das ist eine Sitte, wie ich sie zuerst in Paraguay allgemein fand; später sah ich, dass man auch in andern außereuropäischen Ländern dieselbe Gewohnheit hat. „In the long run“ ist das Ergebnis für alle gleichbedeutend mit einer jedesmaligen Einzelzahlung. Das, was man in Deutschland burschikos einen „Nassauer“ nennt, scheint mir in einem außerdeutschen, wenigstens in einem amerikanischen Lande eine unmögliche Figur zu sein. Ich will einzelne Fälle zur Erläuterung des Vorstehenden anführen; was mir später selbstredend erschien, musste mir in Paraguay noch auffallen. Ich sitze z. B. bei einem Glase Bier und bald nachher setzt ein Fremder sich zu mir mit den Worten: „Con su permiso, senor“. Wir unterhalten uns kaum, jeder liest seine Zeitung, der Herr entfernt sich zeitiger als ich, sagt mir Lebewohl und zahlt. Als ich später den Kellner rufe und mein „Mozo, cuanto es?“ vorbringe, antwortet er mir: „Ya está pagado, senor“. Fälle wie dieser sind keine Ausnahmen, sondern die Regel. Wenn ich während der ersten Monate meines Aufenthalts in Asuncion in die Pferdebahn stieg und diese gedrängt voll fand, was gar nicht selten der Fall war, erhoben sich dem Fremden gegenüber alle jungen Leute und boten mir ihren Platz an. Ich erinnere mich ferner eines Herrn, der mich in der Pferdebahn um Feuer bat. Als der Schaffner von seiner Seite zu uns trat, um Zahlung zu empfangen, zahlte der Herr selbstverständlich für mich: eine Art Gegendienst für das erhaltene Feuer. Hätte ich den Versuch gemacht, ihm meine 30 Pfennige anzubieten, würde ich als eine Art Tonguse die abfälligste Aufmerksamkeit aller Mitfahrenden auf mich gelenkt haben.

Die Bedürfnislosigkeit der Einwohner Paraguays ist beachtenswert. Der „peón“ (Arbeiter) kennt genau genommen gar keine Bedürfnisse. Wenn er seine Cana*), wenige Maniocastengel und ein kleines Stück Fleisch hat, ist er zufrieden; eigene Wohnung besitzt er selten, er schläft bei seinem Arbeitgeber, trägt eine baumwollene Unterhose, ein ebensolches Hemd, eine Hose und den Poncho. Weiter nennt er nichts sein eigen. In der Woche arbeitet er 3, selten 4 Tage, sein Verdienst beläuft sich auf 1 Dollar, oder 60 Pfennig täglich. Er erhält somit für die Woche durchschnittlich 2 — 3 Mark. Damit lebt er gut. Auch der Städter und Leute von einiger Erziehung haben wenig Bedürfnisse, so lange sie unvermählt sind. Einer der vornehmsten und bemitteltsten Geschäftsfreunde meines Hamburger Hauses besaß hinter seinem Laden einen Raum, der ungefähr 5 m im Geviert messen mochte. Dieser Raum war durch einen billigen japanischen Wandschirm in zwei Teile geteilt; in dem größeren lagerten Waren aller Art, in dem kleineren hing an der Decke eine Hängematte, an der Wand standen zwei Koffer und auf einem Stuhl befand sich ein kleines Waschbecken aus verzinntem Eisenblech und daneben ein Stück Seife. Weiter besitzt der Inhaber dieses in Europa angesehenen Hauses nichts zu seiner Bequemlichkeit. In diesem Raum lebt er und ist zufrieden. — Ganz anders verhält die Sache sich freilich, sobald die Leute sich entschließen, ihre sorglose Junggesellenwirtschaft gegen das Familienleben einzutauschen.

„All you who mean to lead a happy life
First learn to rule and then to have a wife.“

Frauen und Mädchen des Landes würden das Notwendigste verpfänden, um ein neues Kleid oder anderen Schmuck und Putz beschaffen zu können. Sie kleiden sich in Gewänder, die in Paris, Wien und Berlin in den Straßen als besonders geschmackvoll, teilweise auch als reich, Aufsehen erregen würden. Äußerst selten sieht man Kleider ohne den Schmuck baumwollener oder leinener Spitzen, sowie seidener Bänder in allen Farben und Breiten. Ferner trägt jede Dame um Kopf und Mieder ein schwarzseidenes, mehr oder minder reich gesticktes Tuch mit langen Fransen; ein gewisses Geschick, unter Umständen auch mit wenigen Mitteln den Witterungsverhältnissen entsprechende geschmackvolle Kleidung herzustellen, ist den Frauen in Paraguay nicht abzusprechen.

Als im Lande verfertigte Schmuck- und Putzgegenstände könnte ich Ringe und Spitzen erwähnen. Die ersteren sind, aus 5 oder 6 künstlich ineinander geschlungenen Reifen zu einem vereinigt, in Gold oder Silber gearbeitet. Die in Paraguay verfertigten Spitzen dürften zu den gesuchtesten zählen. An einem Taschentuch arbeitet eine Frau 6 — 8 Wochen, um schließlich dessen Wert mit 24 Mark zu ernten.

Am 8. März feierte ich meinen 19. Geburtstag. Weyer war am Morgen der erste, der zur Beglückwünschung erschien. Abends hatte ich alle meine Freunde nach einem Café geladen und Sorge getragen, dass Bier in gehöriger Menge zur Stelle war. Wir hatten einen herrlichen Abend, an dem wir in einer Laube von Schlinggewächsen Platz nahmen. Chinesische Papierlampen waren darin aufgehängt, soviel sich deren überhaupt nur anbringen ließen. An der einen Seite der Laube hing die Hamburger, an der andern die Bremer Flagge, während an der Rückwand die drei deutschen Farben prangten. In einer Stadt, nicht größer als Asuncion, war sehr bald bekannt geworden, dass der „Hijo Hamburgés de C. W. & M.“ Geburtstag feiere. Meine Freunde und ich saßen, nichts Böses ahnend, bei unsern Schoppen, ich mit meiner ständigen Festbegleiterin, der Guitarre, als von allen Seiten eine Menge ungeladener Gäste sich einfand, unter denen ungefähr 98 v. H. zu meinen Landsleuten zählen mochten. Es war tatsächlich ein unvergleichlich schöner Abend. Wir Deutschen sangen alle unter Begleitung meiner spanischen Zither; die andern hörten mit offenem Munde zu und fanden unsern Gesang großartig.

Leider muss ich bekennen, dass der Weg nach Hause sich weder für Alvarez, noch für Gramer, Weyer oder mich als ehrenvoll herausstellte. Vorauf schwankte mein Brotherr mit der Laterne, dann folgten Gramer und Weyer, die mich liebevoll in ihre Mitte genommen hatten. Die beiden letztgenannten Freunde hatte ich in den nächsten beiden Tagen keine Gelegenheit zu treffen, Alvarez dagegen glich am folgenden Morgen dem grauen Elend und trank ein Dutzend Flaschen Sodawasser, jede einzelne, in andauernder Feststimmung, auf mein Wohl. Weil diese Feier von allen Teilnehmern mit großem Beifall aufgenommen war, wurde sie am 12. März, dem Geburtstage meines Vaters in Hamburg, zum zweitenmal unter gleich glücklichen Umständen abgehalten.

Am 20. März lud Alvarez mich ein, mit ihm und einigen Freundinnen und Freunden zum Fischen zu gehen. Wir waren sechs Damen und vier Herren; unter jenen befanden sich zwei zu einem kurzen Aufenthalt aus dem Innern angekommene nicht schöne, aber fesselnde junge Italienerinnen.

Mit einer von ihnen bestieg ich ein kleines Boot, während die übrige Gesellschaft in einem großen Kahn Platz nahm. Es war eine herrliche Vollmondnacht, so klar und hell, dass man ohne Schwierigkeiten hätte lesen können. Die Damen trugen tadellose, seidene Kleider mit den üblichen Spitzen. Nach drei Stunden kehrten wir zurück, leider mit einem wenig ermutigenden Erfolg; es wurde festgestellt, dass nur ein einziger Fisch ins Garn gegangen sei: und das war ich! Ich hatte nämlich gänzlich vergessen, Angelgerät mit in das Boot zu nehmen und wurde auf diesen Irrtum unter schallendem Gelächter der übrigen erst aufmerksam gemacht, als wir wieder am Land standen. Natürlich brachte ich meine schöne Anglerin ohne Angel nach Hause, unter dem bekannten Wahlspruch: „The longest way round is the shortest way home“.

Am 22. März, dem Gründonnerstage, holte Weyer mich um 6 Uhr morgens ab. Wir pilgerten zusammen nach dem Bahnhof. Genau wie in den deutschen Städten an Feiertagen hatte sich auch hier eine große Menschenmenge zusammengefunden: Alles wollte ins Freie, um Ostern nicht in der Stadt zubringen zu müssen. Gewiss ein Dritteil aller Versammelten bestand aus Deutschen.

Wir fuhren nach einem kleinen Dorfe, in dem wir nach ungefähr fünfstündiger Fahrt anlangten. Unser Besuch galt einer Weyer befreundeten Familie. Am Bahnhof erwarteten uns zwei reichgesattelte Pferde; ihre Führer gaben sich Offenbar alle erdenkliche Mühe, die hohen Herren aus der Hauptstadt standesgemäß zu empfangen. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte Weyer die Tiere und behauptete dann mit großer Sicherheit, es seien die Pferde des Polizeivorstehers oder einer ähnlichen hochgestellten Persönlichkeit. Er sollte Recht behalten. An Ort und Stelle angekommen, wurden wir in einem Rancho besonders liebenswürdig empfangen. Nach einem Bade im Flusse wurde das Mittagessen zubereitet, zu welchem Zwecke wir alle in die eine Hand einen Holzspieß, in die andere ein gerupftes Huhn erhielten; sodann wurde ein großes Feuer angezündet, und so saßen wir, 10 oder 11 Personen, um dieses herum und brieten jeder sein Huhn. Nach dem Essen folgte die übliche Ruhe in den Hängematten. Am Nachmittag hatten die Frauen ihre Sonntagskleider angelegt und wir spazierten mit unsern feierlich geschmückten Damen auf Nachbarbesuche. Die Ranchos auf dem Lande sind auch nur, wie diejenigen in der Nähe von Asuncion, aus Lehm, Bambus und Stroh zusammengebaut, sehen aber wesentlich freundlicher und sauberer aus, als diejenigen bei der Stadt. In jedem Rancho erhielten wir neue Cigarren, ohne Ausnahme aus zarter Hand. Der Betreffende sucht sich die Cigarre aus, um sie sogleich an die Dame zurückzugeben, welche die Kiste überreicht. Diese beisst die Spitze ab, zündet mit unvergleichlicher Anmut die Cigarre an einem brennenden Holzstück an, um sie nach vier oder fünf Zügen an ihren Herrn zurückzugeben. Durch die zierlichen Bewegungen fast aller Südamerikanerinnen, selbst wenn sie keine weiteren Reize aufzuweisen haben, wird einem derartigen Brauch ungemein viel Anregendes verliehen. Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, entlud sich über unserm Rancho ein Platzregen, wie er nur in der heißen Zone vorkommt. In einer Zeit von wenigen Minuten war die ganze Umgebung unseres Hauses in einen See verwandelt, auf dem man ohne Schwierigkeiten in kleinen Booten hätte fahren können. Allmählich löste dieser Guss sich auf in einen Landregen, der drei Tage andauerte. Der Humor Weyers ließ indessen keine Langeweile aufkommen. Im übrigen beschäftigten wir uns mit Hängemattenflechten, Cigarrendrehen und Tanzen.

Bald nach dem Osterfest hatte ich zu meiner Freude endlich einmal Gelegenheit, Alvarez die Erzeugnisse meines Vaterlandes unter vorteilhaften Umständen vorfuhren zu können. Von unserm Zwischenhändler in Paris erhielten wir wollene, mit Seide durchwirkte Umhängetücher; als ich Alvarez den Inhalt der Kiste zeigte, erklärte er mir: „Sehen Sie, solche Sachen bekommt man nur aus Frankreich. Derartiges können Sie nicht machen!“ Indessen hatte ich schon auf dem Äußern der Kiste den bekannten grünen Zettel: „Ausfuhrgut via Hamburg“ bemerkt, und als ich Alvarez frohlockend darauf aufmerksam machte, musste mein Herr Vorgesetzter ziemlich kleinlaut seinen Irrtum zugeben.

Im Laufe des März hatte ich auf Cramers Anregung meinen Namen in die „Sociedad de los amigos de la doctrina de Buda“ eintragen lassen. Der Mangel an geistiger Anregung im alltäglichen Leben in Asuncion hatte veranlasst, dass sowohl Eingeborene als Deutsche und Engländer sich mit der Weisheit des Buddha befassten und befreundeten. Aus den kleinsten Anfangen, aus den Betrachtungen eines Engländers, war diese Sociedad entstanden. Es gehörten ihr derzeit so ziemlich alle Einwohner der Stadt an, denen es Freude macht, selbständig zu denken über Gott, Ewigkeit und Unsterblichkeit. Die Werke über Buddha und seine Lehre von Oldenberg, Neumann, Rhys Davids, Alabaster und Max Müller standen den Mitgliedern der Gesellschaft zur Verfügung.

Eine, zum Teil aus Europäern und von Australien Eingewanderten, in Amerika gebildete Gesellschaft, die sich ausschließlich mit dem großen asiatischen Denker beschäftigt, erscheint mir so eigenartig, dass ich einige Worte über die Sociedad einzuflechten für geeignet erachte.

Zu einer eingehenden Beschäftigung mit dem Leben des großen Weisen, dem eigentlichen Gehalt seiner Lehre, bin ich nicht gekommen, dagegen nahm ich regen, wenn auch größtenteils untätigen Anteil vornehmlich an zwei Fragen, die an den Versammlungsabenden in unserer Gesellschaft mehrfach erörtert wurden. Die erste behandelte die Stellungnahme zu der christlichen Mission in Japan und China, die zweite das mutmaßliche zukünftige Verhältnis des Buddhismus zur Lösung der Arbeiterfrage in Europa. Es wurde besprochen, dass ungeheure Summen — aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika allein jährlich 20 Millionen Mark — für christliche Missionäre verausgabt würden, und zwar zum größten Teil in China, einem Lande, das durch die Lehrsätze der buddhistischen Weisheit in religiöser Beziehung ganz auf der Höhe aller christlichen Staaten stehe, während die nach Millionen zählenden Beiträge für darbende Christen bessere Verwendung finden könnten.

Die zweite Frage gipfelte in folgender Ausführung: Der Sozialismus der christlichen Staaten hat vornehmlich in der Religionslosigkeit der großen Menge seinen Grund. Während einerseits Kirchen über Kirchen gebaut werden, lehrt man auf den Hochschulen, die ewigen Gesetze der Natur als Höchstes anzuerkennen. Man begründet diese Lehre mit den Ergebnissen der Stern-, der Erd-, der Versteinerungskunde, der vergleichenden Entwicklungsgeschichte, der Lehre von den Organen, von ihren Verrichtungen u. s. w. Gleichzeitig unterrichtet man in den Volksschulen nach wie vor aus dem ersten Buch Mose. Die aus diesen Widersprüchen sich ergebende Folge ist die Religionslosigkeit und daraus wieder entspringend der Sozialismus. Von den Freunden der buddhistischen Lehre in Asuncion wurden nunmehr folgende Voraussetzungen aufgestellt. Wenn die Lehrer des Christentums sich nicht entschließen, auch in Volksschulen den Unterricht so zu gestalten, dass er den neueren Weltanschauungen entspricht, so werden die Kirchen, so viel man deren auch bauen mag, leerer und leerer. Die Menge dagegen braucht einen Anhalt für ihr geistiges Leben in der Religion, und auf Grund dieses Naturgesetzes wird das Christentum in seiner, wenige Jahrzehnte nach dem Leben seines Begründers in Glaubenssätze gefassten Unduldsamkeit dem Buddhismus weichen müssen.

Ich habe hier nur das Gedankengebiet andeuten wollen, über das ich manche Abende von ohne Zweifel geistvollen Männern Äußerungen hören konnte, die um so anregender waren, als sie oft stark voneinander abwichen. Zur Erläuterung des Vorstehenden teile ich für den dem Buddhismus fremd Gegenüberstehenden — im Anhang — einzelne Teile aus dem vor ungefähr 12 Jahren erschienenen buddhistischen Katechismus von Subhadra Bhikschu mit.

Meine deutschen Freunde in Asuncion machten mich aufmerksam auf die vielfache Übereinstimmung der buddhistischen Anschauungen mit den Lehren Immanuel Kants. Aus den Werken des Königsberger Weisen, herausgegeben von Rosenkranz & Schubert, schrieb ich mir z. B. aus dem 10. Bande, S. 210 folgenden Satz ab, der sich so ziemlich mit dem eigentlichen Kern der Buddhalehre deckt:

„Der allem Religionswahn abhelfende oder vorbeugende Grundsatz eines Kirchenglaubens ist: dass dieser neben den statutarischen Sätzen, deren er für jetzt nicht gänzlich entbehren kann, doch zugleich ein Prinzip in sich enthalten müsse, die Religion des guten Lebenswandels, als das eigentliche Ziel, um jener gar dereinst entbehren zu können, herbeizuführen.“

Ein solches förmliches Hand in Hand gehen der Anschauungen des Königsbergers mit den Buddhalehren erschien mir zum mindesten beachtenswert. ? ? ?

Wenn ich von dem Bildungsgrad meiner Mitarbeiter in der Tienda bisher nicht viel anderes berichten konnte, als dass sie notdürftig in die Geheimnisse des Abc eingeweiht seien, so ließ sich von ihnen, wenn auch nicht viel, so doch einiges in musikalischer Beziehung erlernen. Abends pflegte ich häufig mit den fünf Berufsgenossen vor der Tür an der Straße zu sitzen und unter ihrer Anleitung mein bis dahin ziemlich mangelhaftes Guitarrespiel, wenn auch nur in bescheidenem Masse, zu vervollkommnen. Eigentliche Lehrer für die spanische Zither gibt es in Paraguay nicht, aber jeder Eingeborene lernt dieses in Europa unterschätzte Instrument von anderen spielen. Solchen Übungen konnten wir mehr und mehr nachgehen mit dem Herannahen des Winters. Zur Zeit meiner Ankunft im Dezember 1893 ging der Handel gut, im Februar 1894 mäßig, im April wurde wenig und im Juni eigentlich gar nichts mehr verkauft Alvarez sowie die übrigen Kaufleute Ließen allmählich die Köpfe hängen. Im Lande hatten Heuschrecken und Dürre die Ernte teilweise vernichtet, und wenn das Land keine Erzeugnisse hervorbringt, wird in der Stadt nichts verkauft.

Als der Sommer seinem Ende entgegen ging, wurden die Ausflüge auf die Estancias seltener; ich benutzte nunmehr an jedem Morgen die herrliche Umgebung der Stadt zu einem mehr oder minder ausgedehnten Ritt in flottester Gangart, um mich nach frostiger Nacht warm zu reiten. Ende April sank der Wärmemesser auf 20 — 25° R. während der Tagesstunden. Mein nächtliches Unterkommen verlegte ich unter diesen Umständen vom Hof in der Mitte des Hauses in die Schreibstube, indem ich meine Hängematte zwischen dem Geldschrank und dem Pult meines Brotherrn befestigte.

Am 3. Mai wurden Weyer und ich von einem Herrn Jertas, Ladenbesitzer und angesehenem Kaufmann, zur Hochzeit seiner Schwester nach Villa Rica, einer Stadt im Innern, eingeladen. Mit Dank versprachen wir der Aufforderung zu folgen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Wir waren neugierig gemacht durch die Zeitungen, die lange Aufsätze gebracht hatten über Sonderzüge, die die erlauchten Eingeladenen an Ort und Stelle führen sollten. Nachdem wir uns abends zuvor mit Konserven aller Art reichlich versehen hatten, standen wir am Sonntag morgens 6 Uhr auf dem Bahnhof und fragten nach dem Sonderzug für Villa Rica. Der Beamte starrte Weyer und mich an: weder er noch irgend jemand wussten etwas von einer solchen Merkwürdigkeit. Nach einer halben Stunde erschien Herr Jertas; wir lösten Fahrkarten, um in dem regelmäßigen Zuge Platz zu nehmen. Die Fahrt ließ in keiner Weise zu wünschen übrig. Man lachte und rauchte; alle Eingeladenen blieben in vortrefflicher Stimmung. Unterwegs schloss sich der Gesellschaft ein Baron von Lessel an, der nicht wenig zu der allgemeinen Unterhaltung beitrug. Dieser Baron war seit 14 Jahren im Lande und betreibt eine Schnapsfabrik im Chaco, der Wildnis jenseits des Flusses. Als wir 30 bis 40 Hochzeitsgäste am Endziel unserer Reise anlangten, bedauerten wir, dass die neunstündige Fahrt ihr Ende erreicht hatte.

Villa Rica bietet nichts Anziehendes, liegt aber in ganz besonders hübscher Umgebung. Im einzigen Gasthof der Stadt stiegen wir ab, um zu erfahren, dass infolge des Hochzeitsfestes kein Platz mehr zu haben sei. Weyer und ich waren erbost und klagten uns gegenseitig an, überhaupt mitgegangen zu sein. Billigerweise hätten wir beide wissen müssen, dass das Einladen in Paraguay nichts Seltenes ist, dass indessen die europäische Sitte, sich um seine Gäste und deren Bequemlichkeit zu bekümmern, in jenem Lande noch ganz unbekannt sei. Indessen machten wir doch einigen Lärm, der zur Folge hatte, dass wir die Erlaubnis erhielten, auf dem Billard schlafen zu dürfen. Vorerst unternahmen wir einen Spaziergang durch die Stadt und trafen den „distinguido caballero“, dem wir die Einladung verdankten. Er machte uns die erfreuliche Mitteilung, dass die Hochzeit auf nachts 12 ½ Uhr festgesetzt sei! Die gute Laune ließ Weyer bei dieser Gelegenheit zum erstenmale im Stich. Wir verschafften uns schließlich Pferde und ritten, um unsere Langeweile zu vertreiben, um 6 Uhr abends in der herrlichen Umgebung der Stadt spazieren. Darauf aßen wir im Gasthof zu Mittag und nahmen dann noch die vorsichtigerweise mitgebrachten Mundvorräte in Anspruch; ohne sie hätten wir hungern müssen. Das im Gasthof Vorgesetzte war das unwürdigste Futter, das ich jemals Menschen habe bieten sehen. Nach dem Mittagsmahl spielten wir 4 Stunden Billard, bis die Uhr mit Gottes Hilfe elf schlug.

Um nach der langen Tagesfahrt vor den uns erwartenden Feierlichkeiten noch einige Ruhe zu genießen, legten wir uns aufs Billard. Als ich erwachte, zeigte die Uhr 3, somit hatten wir die Hochzeit verpasst; mit einigen deutschen Kernflüchen drehten wir uns um und schliefen weiter bis zum nächsten Morgen 8 Uhr. Wir nahmen Pferde und ritten abermals spazieren. Bei der Gelegenheit sah ich zum erstenmale einen Schuppen, in dem die rohen Ochsen- und Kuhhäute ausgespannt, gewaschen, getrocknet und versandfertig gemacht werden. 5000 — 8000 Felle lagerten in dieser „barráca“ Wir besichtigten noch eine größere Reisanpflanzung und kehrten nach Hause zurück. Am selben Abend aßen wir bei Herrn Meyer, einem Deutschen, in Villa Rica und hielten uns für die Unbilden des letzten Mittagsmahles schadlos. Am nächsten Tage dampften wir nach Asuncion zurück.

Eine Eisenbahnfahrt in Paraguay hat genau genommen etwas gemütlich Anheimelndes. Die Einrichtungen in den Wagen gestatten den Reisenden alle nur mögliche, den Sitten des Landes entsprechende Behaglichkeit. Wer den Zug entlang sieht, kann mancherlei bemerken, was man in Europa kaum beobachten dürfte. Hier hängt einer seine Beine zum Fenster hinaus, dort sitzt ein Papagei, an einem andern Fenster klettert eben ein gezähmter Affe heraus, um es sich auf dem Dach bequem zu machen. Das Getriebe auf den Halteplätzen bietet ebenfalls viel Abwechslung: Bananen, Ananas, Apfelsinen und Cigarren sind für die kleinste Sorte Scheidemünze zu haben; 5 oder 6 Sprachen hört man überall.

Gegen Ende Mai wurde von den vornehmsten Ein- und Ausfuhrhäusern der Stadt eine Eingabe an die Regierung aufgesetzt, in der dieser vorgestellt wurde, dass das Land zu Grunde gehen müsse, falls man fortfahre, das Volk in bisheriger Weise zu leiten. Der Dollar, der einen Wert von 4 Mark haben sollte, galt zur Zeit 57 Pfennige. Wer überhaupt Waren verkaufen konnte, war nicht imstande, an ihnen soviel zu verdienen, um den Geldwertverlust auszugleichen. Unter diesen Umständen hielt einer der Handelsfreunde meiner väterlichen Firma es für geraten, seinen ganzen Warenvorrat in öffentlicher Versteigerung abzugeben. Den Reinerlös von ungefähr 8000 Dollars legte er sich zurück, um ihn gelegentlich zu einer Reise nach Europa zu verwenden. Vorläufig wählte man ihn zum Leiter einer Bank mit langem, vielversprechendem Namen, ohne dass er auch nur die entfernteste Ahnung von Bankgeschäften hatte. Viel Schaden ließ sich an dieser Bank übrigens insofern nicht anrichten, als sie keinen Cent Barvermögen besaß.

Anfang Juni hatte der sogenannte Winter Einzug bei uns gehalten. Wer monatelang in einem Wärmezustand von 27 — 32° R. gelebt hat, dem erscheinen + 12 — 15° als empfindliche Kälte. Dazu kam, dass in meiner nächtlichen Herberge der Fußboden aus Steinen zusammengesetzt war und von den Fensterscheiben in unserer Schreibstube kaum eine einzige ihre ursprüngliche Gestalt beibehalten hatte. Trotz 3 wollener Decken fror mich nachts in meiner Hamaka, und Dona Pepita hatte früh morgens alles aufzubieten, um mich einigermaßen in Wärme zu bringen.




*) Eine Art Zuckerbrantwein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderjahre eines jungen Hamburger Kaufmannes.