I. Kapitel. Von Hamburg über Buenos Aires nach Asuncion-Paraguay.

Die Reede von Funchal (Madeira). — Die Taufe unter dem Äquator. — Montevideo. — Ankunft vor Buenos Aires. — Acht Tage Schiffssperre. — Erste Eindrücke in der Stadt. — Die Schönheit der Frauen. — Das Geschäftsleben. — Die öffentlichen Gebäude. — Ausflug an den Tigre. — Rosario u. Asuncion. — Empfang durch die Herren Gramer, Weyer & Müller. — Don Jsidoro Alvarez.




Der letzte Choleratodesfall in Hamburg aus dem Schreckensjahre 1892 lag ungefähr 12 Monate hinter uns, als ich am Abend des 31. Oktober 1893 am Baumwall an Bord der „San Nicolas“ ging. Weder mir noch irgend einem Mitreisenden kam der Gedanke, dass uns wegen Choleraverdachts auf der Reise nach dem La Plata Schwierigkeiten erwachsen könnten.

Aber schon auf der Reede von Funchal, der Hauptstadt von Madeira, sollten wir eines andern belehrt werden. Keinem der Fahrgäste unseres Dampfers war gestattet, an Land zu gehen, ja, es machte sogar die größten Schwierigkeiten, irgend welche Gegenstände oder Briefe von Bord des aus einem „durchseuchten“ Ort kommenden Dampfers an das Land zu befördern. Beispielsweise beabsichtigte ich, für mein Hamburger Haus ein kleines Kistchen an die Handlung Blandy Brothers & Co., die Vertreter unseres Schiffes, abzugeben, musste indessen meine Absicht trotz aller Anstrengungen aufgeben, weil es unmöglich war, die Kiste für Geld oder gute Worte von Bord gelangen zu lassen.

Die Stadt Funchal bot einen herrlichen Anblick, nicht großartig, aber ungemein reizvoll. Sie besteht aus weißen Häusern mit durchbrochenen grasgrünen Läden an den Fenstern. Diese Häuser liegen in anmutigen Gruppen oder auch einzeln die Berge hinauf zerstreut. Die ganze Insel, soweit wir die Höhen von der „San Nicolas“ aus sehen konnten, prangt in herrlichem Grün, mit Ausnahme der Spitzen der Berge, die kahl sind und die wir in Wolken eingehüllt fanden. Ich unterschied umfangreiche Weinfelder, Orangenbäume, verschiedene Palmenarten, sowie auch bunte Vögel. Nach einer ungünstigen Seereise in der Nordsee und im Meerbusen von Biscaya waren alle Mitreisenden von diesem Anblick entzückt. Funchal liegt im Scheitelpunkt des Landwinkels, welcher die Bucht einfasst. Wir mochten 800 m von der Stadt entfernt vor Anker gegangen sein. Der tiefblaue Himmel und das gleichfarbige Meer trugen dazu bei, die Stadt in ihrer Anmut besonders freundlich erscheinen zu lassen. Am Abend machte der erleuchtete Ort ebenfalls einen recht vorteilhaften Eindruck. Während am vorderen Teil des Schiffes musiziert und getanzt wurde, genoss ich die Freuden einer lauen Nacht unter dem herrlichen Sternenhimmel in meinem bequemen Verdeckstuhl.

Bald nach Sonnenaufgang am nächsten Morgen entspann sich in unmittelbarer Nähe unserer „San Nicolas“ ein reges Leben. Zuerst erschienen schmale Boote, bemannt mit nackten Knaben, die uns in portugiesischer Sprache aufforderten, Silberstücke ins Meer zu werfen. Als meine Mitreisenden und ich dieser Aufforderung nachkamen, tauchten die Jungen mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit nach den kleinen Münzen, die sie jedesmal in dem klaren Wasser zu erhaschen verstanden. Für ein Fünfzigpfennigstück tauchten sie unter die „San Nicolas“, um an der anderen Seite wieder zum Vorschein zu kommen. Als Zugabe zu ihren bezahlten Wasserkünsten drehten die Knaben ihre Boote um, setzten sich auf den Kiel und pfiffen das portugiesische Vaterlandslied. Diese jungen Gewerbetreibenden hatten sich noch nicht entfernt, als andere Boote erschienen, in welchen Bananen, Orangen, Kaktusfeigen und verschiedene Nüsse zum Verkauf angeboten wurden. Ich erwarb mir eine ganze Bananenkrone mit ungefähr 85 Früchten für den Preis von 2 Mark, für ebenso viel zwei große Körbe mit Mangos und Orangen. Übrigens musste ich handeln in einer Art, die einem Armenier zur Ehre gereicht haben würde. Die Verkäufer forderten das Sechsfache des Preises, den ich ihnen schließlich bewilligte. Um die erstandenen Herrlichkeiten zu bekommen, ließen wir vom Deck ein Band hinunter, an das die Betreffenden die Waren, sauber in Körbe gelegt, befestigten.

Sodann erschienen Männer mit großen Blechkisten, die mit den bekannten Madeira -Stickereien gefüllt waren. Auch von diesen guten Dingen kaufte ich einige Kleinigkeiten. Die nahezu kupferbraunen Männer mit ihren langen schwarzen Schnurrbärten und dunkeln Augen, umgeben von Apfelsinen, Rohrstühlen, Papageien, kleinen bunten Vögeln in Käfigen, dazwischen die schwarzen nackten Knaben boten ein lebhaftes, anziehendes Bild. Bis 2 Uhr nachmittags wurde gehandelt; im ganzen kauften alle Mitreisenden für mehr als 600 Mark Waren verschiedener Art.

Am 16. November, 9 Uhr abends, war der große Augenblick gekommen, in dem wir von der nördlichen Halbkugel in die südliche hinüberfahren sollten. Nachdem zur Feier des Ereignisses eine brennende Teertonne über Bord geworfen war, kündigte der Führer der „San Nicolas“ uns an, dass Neptun sich zum folgenden Tage, 10 Uhr vormittags, angemeldet habe, um die Taufe an allen denjenigen zu vollziehen, welche den Äquator früher noch nicht überschritten hatten. Unsere Reisegesellschaft zählte 10 Täuflinge. Zur angesetzten Zeit hörten wir vom Zwischendeck feierliche Musik, und als wir hinübergingen, erblickten wir den leibhaftigen Neptun vor einem großen Taufbecken, das von 10 verkleideten Matrosen, als der bewaffneten Macht des Meergottes, umgeben war. Den Damen wurde einfach die Hand auf den Kopf gelegt, unter einigen Worten Neptuns, worauf ihnen ihr Schein verabfolgt wurde. Dann kamen die Herren daran; ich sollte den Anfang machen. Quer über dem Taufbecken, einem mit Seewasser gefüllten Kübel, lag ein Brett, auf das ich aufgefordert wurde mich zu setzen. Als ich Platz genommen hatte, erschien der Schiffsbarbier mit einem Eimer voll Seifenwasser, mit dessen Inhalt er mein Gesicht beschmierte. Mit einem hölzernen, ungefähr einen Meter langen Rasiermesser wurde der Seifenschaum wieder entfernt, und sobald diese Bearbeitung meiner Person beendet war, zogen die 10 bewaffneten Gehilfen des Meergottes das Brett unter mir fort — und ich plumpste vom Kopf bis zu den Zehen ins Wasser. Unter großer Feierlichkeit wurde ich wieder aus dem Taufbecken hervorgezogen und mein Gesicht mit Kienruß gepudert. Endlich war ich fertig. Der Taufschein, der mir ausgeliefert wurde, lautete wie folgt:

Taufschein.

Aus dem Auszug des Taufregisters des Schiffes „San Nicolas“.
Wir Neptun, Gott des Meeres, bescheinigen hierdurch mit unserer Unterschrift, dass

Herr Kunhardt

heute ordnungsgemäss die Linientaufe empfangen hat und den Namen Roche dabei erhalten hat.

Heute, den 17. 11. 1893.

Kapitän Siepermann, I. Offizier J. Schade, Sekretär Stör.

Neptun.

(Ins.)

Die übrigen Herren empfingen dementsprechende Ausfertigungen. Zur Feier des Tages spendeten alle Mitreisenden der Mannschaft 50 Flaschen Bier. Ebenso ehrten wir uns bei der Mittagstafel gegenseitig durch deutschen Schaumwein.

Am Abend des 26. November kamen wir vor der Insel Flores, Schiffssperrstelle für Montevideo, an. Es war 8 Uhr und der Schiffsführer begab sich sofort an Land, um den Sperre-Arzt persönlich zu bitten, noch denselben Abend an Bord zu kommen. Er kehrte mit der Antwort zurück, der Doktor sei schon im Bett und habe nicht die geringste Lust, wieder aufzustehen; wir möchten warten. Warten kann man in Südamerika gründlich lernen. Das dritte Wort eines jeden ist: „despacio, sefior, despacio“. Niemand übereilt sich. Am nächsten Morgen erschien der Arzt, sah die Papiere durch und nahm augenscheinlich aus ihnen Veranlassung, seine Hände 10 Minuten in Karbolwasser zu waschen; daraufhin erhielten wir allerdings Erlaubnis, nach der Außenreede von Montevideo zu fahren. An ein Landen war jedoch gar nicht zu denken, vielmehr wurde uns die wenig erfreuliche Mitteilung gemacht, dass wir sämtliche Fahrgäste für Montevideo und Waren für denselben Platz, letztere mit den eigenen Leuten des Dampfers, in Leichter löschen sollten und sofort den Hafen zu verlassen hätten. Diesem Gebot wurde natürlich Folge gegeben, und ich hatte, beiläufig bemerkt, bei dieser Gelegenheit Veranlassung, mich zu überzeugen, in wie unglaublich rücksichtsloser Weise mit allen Gütern zu Zeiten beim Löschen umgegangen wird.

Kisten, die auf allen Seiten die Bemerkung „Glas“ und „Vorsichtige trugen, wurden geworfen und gestoßen, dass es mich wundernahm, wenn nicht alles in Stücke ging. Ich sah eine große, allem Anscheine nach ganz starke, durchaus seetüchtige Kiste für Montevideo mitten durchbrechen, und sämtliche Schachteln, Strümpfe enthaltend, lagen zerstreut im Kahn. Natürlich verschwanden sofort einige Dutzend Paare in die Schiffskammern der Uruguay-Leichterführer; der Rest wurde in eine Ecke geworfen und andere Kisten darauf gestellt.

Nachdem die für Montevideo bestimmte Ladung gelöscht, fuhren wir weiter und kamen am nächsten Morgen auf der Außenreede von Buenos Aires an, bewacht von vier argentinischen Kriegsschiffen. Um 10 Uhr vormittags erschien das Regierungsboot und brachte uns die wiederum trostlose Nachricht, dass wir acht Tage, sage und schreibe eine ganze Woche, Schiffssperre durchzumachen hätten. Der Schiffsführer und alle Fahrgäste waren selbstverständlich außer sich, aber das half alles nichts. Drei Herren, wahrscheinlich Ärzte, erschienen bei uns, um die Mannschaft und uns Reisende zu beobachten. Nachdem diese Herren an Bord gekommen waren, begrüßten sie den Führer, indem sie ihm die Hand reichten, aber unmittelbar darauf rührten sie einen Eimer voll Karbolwasser zusammen und wuschen sich die Hände, als ob sie die Haut von den Fingern ziehen wollten. Die Briefe, die ans Land gehen sollten, wurden vorher alle mit der Flüssigkeit bespritzt. Dieses Verfahren würde auf uns Reisende geradezu belustigend gewirkt haben, wenn, gegenüber einer in Aussicht stehenden Schiffsperre von acht Tagen, Heiterkeit überhaupt am Platze gewesen wäre.

Das Regierungsboot fuhr wieder ab, und so lag unsere „San Nicolas“ acht Tage lang untätig mit ihren Fahrgästen auf dem La Plata, weil in Hamburg bei unserer Abreise Cholera gewesen sein sollte, eine Annahme, von welcher unter ungefähr 600.000 Hamburgern derzeit ganz bestimmt kein einziger die geringste Ahnung gehabt haben dürfte.

Wie viele hundert ähnliche, den Verkehr in gleicher Weise hemmende Störungen mögen der Veröffentlichung eines einzigen Bacillenfundes, der für das Allgemeinwohl ohne die geringsten Folgen bleibt, ihre Begründung verdanken!

Also ungefähr eine Woche nach dem Besuch der drei ehrenwerten Ärzte, einem Zeitraum, der übrigens für alle Beteiligten wesentlich angenehmer verlaufen war, als es anfangs scheinen wollte, am 5. Dezember 1893, stieg ich in Buenos Aires ans Land.

Die Reise von Hamburg bis zum La Plata hatte auf mich eigentlich den Eindruck einer Vergnügungsfahrt gemacht. An Bord der „San Nicolas“ sprach man vorwiegend deutsch, und bei gutem Wetter war die Stimmung der Fahrgäste die fröhlichste. Der Himmel und das Wasser des südatlantischen Ozeans haben keine andere Farbe wie über und in der Nordsee, und erst das Landen überzeugte mich von der unumstößlichen Wirklichkeit, dass ich einige 1.000 Meilen von der Heimat entfernt sei.

Den ersten Eindruck, den Buenos Aires auf mich machte, kann ich nicht als vorteilhaft bezeichnen: verhältnismäßig schmale, aber schnurgerade, ohne Ausnahme in rechtem Winkel zu einander stehende Straßen und nur ein wirklich schöner Platz: „La Plaza Victoria“. Durch die erwähnte Einteilung der Straßen ist es dem Neuangekommenen nicht leicht möglich, seinen Weg in der Stadt zu verlieren. Die Häuser sind niedrig, fast ausnahmslos ohne Kellerräume und selten mehr als ein Stockwerk hoch. Die Gärten befinden sich in der Mitte der Häuser, und man ist somit in der Lage, durch die jederzeit geöffneten Eingangstore in diese mehr oder minder gepflegten Gartenanlagen hineinzublicken. Ein wesentlicher Teil aller Häuser sind die Balkons. Ich erinnere mich nicht, in der ganzen großen Stadt ein Wohnhaus ohne solchen gesehen zu haben. In den Straßen sah man kein weibliches, wenig männliche Wesen ohne Fächer. Pferdebahnen durchziehen fast alle jene langen Straßen und pflegen jederzeit gut besetzt zu sein, was mich nicht wundernehmen konnte, weil bei einem Wärmegrad von 29° R. niemand ohne gebietende Notwendigkeit sich zu Fuße fortbewegt. Überdies sind die Fahrpreise so niedrig, dass man gegen Erlegung von 10 Centavos des Vergnügens teilhaftig werden kann, 1 ½ Stunden auf dem „tramvia“ zu sitzen.

Als besondere Eigentümlichkeit nicht nur der Stadt, sondern des ganzen Landes, fällt es jedem neu ankommenden Deutschen, Engländer oder Franzosen auf, dass Gold und Silbermünzen als seltene Sehenswürdigkeiten, ungefähr wie bei uns Juwelen und ähnliche Schätze, in den Schaufenstern der Wechsler liegen, während im Verkehr nichts anderes als Papiergeld vorkommt.

Entgegen der Gewohnheit unserer heimischen Damen sieht man in den Straßen Kleidungen, die weniger durch reiche Stoffe als durch grelle Farben auffallen. Massig, hin und wieder auch unmäßig ausgeschnittene Taillen gehören nicht zu den Seltenheiten. Weder in der Heimat, noch in Paris, London oder den skandinavischen Hauptstädten sah ich eine solche Fülle von verhältnismäßig starken Frauen wie hier. Das überreiche Körpergewicht der großen Mehrzahl aller Frauen von dreißig Jahren und darüber lässt darauf schliessen, dass sie geschworene Feindinnen aller und jeder Bewegung sind. Dagegen glaube ich behaupten zu können, unter den jungen Frauen und erwachsenen Mädchen in keiner der vorgenannten Städte eine solche Zahl wirklicher Schönheiten gesehen zu haben wie in Buenos Aires.

Herrliche Gestalten, glänzendes, tiefschwarzes Haar, große, tiefsinnig-blickende dunkle Augen, kleiner Mund, kleine wohlgeformte Ohren und ebensolche Füße verleihen den jungen Argentinerinnen einen seltenen Liebreiz, der dem deutschen Ankömmling nur einigermaßen gestört wird durch das augenscheinlich ebenso unvermeidliche wie überflüssige Bemalen der Augenbrauen, Lippen, Wangen und des Kinns. Die Entschuldigung: jcorriger la naturec scheint mir bei den Argentinerinnen nicht als zutreffend angenommen werden zu können, vielmehr dürfte es sich nur um eine schlechte Gewohnheit und irre, geleiteten Geschmack handeln.

Gleich nach meiner Ankunft hatte ich natürlich nichts Eiligeres zu thun, als Hamburger Freunde und Bekannte aufzusuchen. Bei dieser Gelegenheit hatte ich den Vorteil, die Geschäftsräume eines der größten, wenn nicht des vornehmsten der kaufmännischen Handelshäuser des Landes oberflächlich in Augenschein nehmen zu können. Während des ersten Jahres meiner Lehrzeit in Hamburg sah ich alle Schreibzimmer unserer großen Einfuhr- und Ausfuhr-Geschäfte, aber etwas Ähnliches, wie die vornehme Pracht, die ich in den Geschäftsräumen von Ernesto Tornquist & Cia. in Buenos Aires beobachtete, habe ich nicht allein in Deutschland nicht gesehen, sondern auch nach meinem kurzen Aufenthalt in London und Paris nicht für denkbar gehalten. Zur ebenen Erde reiht sich Musterzimmer an Musterzimmer, alles, nach meinen heimischen Begriffen, von außergewöhnlicher Ausdehnung. Die Treppe fuhrt in eine große mit Glas überdeckte Halle, in deren Mitte ein von den schönsten Pflanzen umgebener Springbrunnen Kühlung spendet. In diese, nach meiner Schätzung ungefähr 10 m hohe Halle münden die verschiedenen Schreibzimmer, alle von derselben Höhe wie jene. Pulte, Tische und sämtliche Geräte zeigen eine durchaus vornehme Ausstattung, ohne der Zweckmäßigkeit im entferntesten Abbruch zu thun.

Von meinen Freunden und Bekannten erfuhr ich, dass das ganze Geschäftsleben in Buenos Aires bedeutend freier und angenehmer als in meiner Vaterstadt sei. Niemand hat seinen Vorgesetzten um Erlaubnis zu bitten, ob er für bestimmte Zeit das Schreibzimmer verlassen darf, dagegen weiß jeder, welche Arbeit bis zu welcher Zeit fertig gestellt sein muss. Ob der Betreffende 1/2 oder 3 Stunden zum Frühstück geht, ist ganz gleichgültig, während von beiden Seiten als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass die erforderlichen Arbeiten bis zur bestimmten Zeit abgeliefert werden.

Ich stieg im „Hôtel des Deux Mondes“ ab und muss bekennen, dass die Behaglichkeit eines Zimmers mir zum erstenmale wirklich klar vor Augen trat, nachdem ich mich, einschließlich der Sperre, 5 Wochen mit einem wenn auch geräumigen Schiffszimmer hatte behelfen müssen.

Nach der im großen Ganzen kühlen Seereise konnte die Dezemberhitze in Buenos Aires mich zu besonderen körperlichen Anstrengungen vorerst wenig anregen, während meine Hamburger Freunde und Bekannten in diesem Wärmezustand nichts Außergewöhnliches mehr fanden und ihn leicht ertrugen.

Ich möchte es nicht unternehmen, eine Beschreibung aller sehenswerten Bauten in Buenos Aires zu geben, beschränke mich vielmehr auf den „Banco de la Provincia“, der vor 6 Jahren zu den stolzesten derartiger Anstalten der Welt gezählt haben mag. Der obere Teil der Stirnseite ist in weißem Marmor und der untere in Mosaik ausgeführt. Dementsprechend gleicht das Innere nicht einem Bankgebäude, wie ich solche aus Hamburg kenne, sondern ich wurde lebhaft an die alten griechischen Tempel erinnert. In der großen Vorhalle geht man auf weißem Marmor, die flache Decke ist künstlerisch bemalt; in der Ausführung sind die grüne Farbe und Gold vorherrschend. Die Halle ist begrenzt von zwei aus grünem Marmor gemeißelten Säulenreihen in ionischer Bauart. In den mächtigen Schreibzimmern scheint mir das Drängen und Warten ausgeschlossen, wie es mir und meinen Leidensgenossen in der Norddeutschen Bank in Hamburg s. Z. gewissermaßen zum Lebensbedürfnis geworden war, wenn man, zumal am letzten Tage des Monats, geschickt wurde, um Geld zu holen. Die Schalter, deren ich in einem der Säle 50 zählte, sind aus Nussbaum kunstreich geschnitzt und von einer aus bunten Hölzern hergestellten Mosaik umrahmt. Diese ebenfalls ungefähr 10 m hohen Räume sind alle erhellt durch Oberlicht. Zwei Marmortreppen, welche derjenigen in der Kunsthalle in Hamburg gleichen, führen in das Obergeschoss, das einen noch viel reicheren Anblick bietet, als das Erdgeschoss. Die Wände fand ich von Künstlerhand auf gelbem Grund mit Gold bemalt, und ihre Pracht wird vorteilhaft gehoben durch herrliche Axminsterteppiche in tiefroter Farbe. In die verschiedenen Schreibstuben fuhren doppelte Türen, die äußeren geschmackvoll in Schmiedeeisen ausgeführt, während die inneren aus massivem Mahagoniholz mit großen, durch Sandgebläse reich verzierten Scheiben gearbeitet waren. Die Börse ist kleiner und macht einen weniger freundlichen Eindruck als die unsere in Hamburg, zumal während der eigentlichen Börsenzeiten von 12 — 1 und 3 — 4 Uhr in diesem Raum ganz unmenschlich geraucht, gespuckt, geschrieen und geflucht zu werden pflegt. Übrigens bin ich von diesem meinem Besuch an der Börse in Buenos Aires bis zu meiner Abreise von San Francisco nach Honolulu täglich an den Ausspruch des Generals Bonaparte in Italien erinnert worden: „L’homme est un animal qui crache“.

Die Abende pflegte ich mit meinen Freunden und Bekannten in „Palermo“ zuzubringen. Um einen ungefähren Begriff von diesem Vorort zu geben, möchte ich ihn als den Hyde-Park von Buenos Aires bezeichnen. Der ganze Platz wird abends elektrisch erleuchtet, wahrend am Tage herrliche Palmen den zu dieser Jahreszeit notwendigen Schatten spenden. Palermo ist der Tummelplatz der vornehmen Welt der Stadt, von deren Wagen manche selbst im Bois de Boulogne vorteilhaft auffallen dürften.

Der 7. Dezember war ein Feiertag, welchen meine Freunde benutzten, um mich mit den Freuden des „Tigre“ bekannt zu machen. Der Tigre, den ich mit der Themse oberhalb Londons vergleichen möchte, ist ein Nebenfluss des Rio Paraná. Morgens 8 Uhr fuhren wir mit zwei gehörigen Frühstückskörben ungefähr eine Stunde auf der Bahn in nordwestlicher Richtung. Ich war nicht wenig überrascht, am Endziel unserer Reise ein ganz vorzügliches Boot aus Cedernholz zu finden, in welchem wir bis 3 Uhr nachmittags eine der herrlichsten Kahnfahrten machten, die sich denken lässt, trotz einer Hitze von 28° R. im Schatten der halb tropischen Bäume, die an beiden Ufern des Tigre ohne Unterbrechung über den Fluss ragen.

Am nächsten Tage brachten mich meine Freunde, nachdem ich mich mit einigen notwendigen Gerätschaften, wie Sonnenhelm und Geldtasche für Papiergeld, versehen hatte, an Bord des nach Asuncion — Paraguay bestimmten argentinischen Dampfboots „San Martin“. Schweren Herzens trennte ich mich von diesen jungen Hamburger Handelsbeflissenen, durch deren liebenswürdige Gastfreundschaft und Aufmerksamkeiten aller Art mein Aufenthalt in Buenos Aires zu dem angenehmsten gemacht worden war.

Die Ufer boten in den ersten Tagen wenig Sehenswertes: außer einigen Rinderherden von außerordentlich zahlreichem Bestände wüsste ich nichts zu erwähnen. Desto mehr Neues, wenn auch nur Unerfreuliches, bot mir die „San Martin“ sowie die Gesellschaft auf ihr. Als ich mich am ersten Abend in meinem Schiffszimmer entkleidet hatte und in das darin befindliche Bett steigen wollte, fand ich es bereits eingenommen von 10 ungefähr 9 cm langen Kakerlaken. Zwar suchten diese schleunigst das Weite auf meine erste, wenig freundliche und ganz unwillkürlich in spanischer Sprache gegebene Aufforderung, aber nachts rächten sich die Käfer durch unausgesetztes Klettern an meinen Körperteilen, bis ich ihnen das Feld räumen musste. Mir war nichts weiter übrig geblieben, als das Bett zu verlassen und mich, notdürftig bekleidet, im Gesellschaftszimmer des Schiffes schlafen zu legen. Am nächsten Morgen gestattete ich mir, über diese nach deutschen Begriffen bodenlose Ungehörigkeit Lärm zu schlagen, aber anstatt dass der Aufwärter mich um Entschuldigung bat und, wie ich erwartet hatte, zum wenigsten Abhilfe zu beschaffen versprach, strömten alle Fahrgäste des Schiffes zusammen, um sich über mich lustig zu machen Die Leute schienen anzunehmen, dass ich in meiner Unkenntnis der Landessitten die Kakerlaken für reißende oder giftige Tiere gehalten hatte, und suchten mich zu beruhigen mit der fortwährenden Versicherung: „bichos, senor, bichos!“*) Der Gedanke, dass ein anständiger Mensch an solchen Tieren im Bett Anstoß nehmen könne, war diesen Leuten nicht gekommen, und somit verfielen sie auf die Vermutung, ich hätte mich beschwert, weil ich gemeint haben müsse, mein Leben in dieser Nacht ernstlich gefährdet zu sehen. Unter einigen Seufzern fügte ich mich schließlich in den Gedanken:

„Du wirst in diesem Lande dich noch an manches zu gewöhnen haben, was dir bisher fremd war!“

In Rosario ging ich ans Land, doch wüsste ich mit dem besten Willen nichts Bemerkenswertes über die Stadt zu verzeichnen.

Am Abend nach der denkwürdigen Nacht mit den „bichos“ setzte ich mich zum Essen an den Tisch mit einigen jungen, allem Anscheine nach recht wohlgesitteten Argentinern, in der Erwartung, in ihrer Gesellschaft während der Reise meine bis jetzt noch recht mangelhaften Kenntnisse der spanischen Sprache vervollständigen zu können. Aber sehr bald musste ich die Entdeckung machen“ dass die Unterhaltung dieser „caballeros“ geeignet war, „pour faire rougir un singe“, und somit benutzte ich die erste Gelegenheit, mich von diesen neuen Freunden auf Nimmerwiederkehr zu entfernen“

Unter keinen Umständen möchte ich jungen Zahnärzten empfehlen, den Versuch zu machen, in Argentinien Schätze zu erwerben. Das ganze Volk muss raubtierartig gesunde Zähne haben, anders scheint es mir undenkbar, wie diese Leute das lederharte, bis zum ?ußersten ausgekochte Ochsenfleisch täglich 3 — 4 mal zu ihrer Nahrung bestimmen können. Aber auch im weiteren ließ die Küche auf der „San Martine recht viel zu wünschen übrig: trockenes hartes Brot, Wurst oder Sülze mit so viel Knoblauch und Zwiebeln hergerichtet, dass der diesen beiden Pflanzenspeisen eigentümliche Geruch noch stundenlang dem Atem der Reisenden anhaftete; daneben Kartoffeln, wenig Kohl, Maisklöße oder Nudeln, alles in Oel gebacken oder gebraten, das ist ungefähr das, wovon ich auf meiner Reise von Buenos Aires nach Asuncion zu leben hatte, einige Bananen und Orangen ausgenommen.

Der nächste Haltepunkt, welchen die „San Martin“ nach Rosario anlief, war Paraná, eine Stadt, die einen verhältnismäßig reichen und angenehmen Eindruck macht. Leider war ich während der Mittagshitze oben und fand die Straßen nahezu ausgestorben.

Am nächsten Tage, ungefähr 3 Stunden unterhalb Santa Helena, dem weltberühmten Erzeugungsplatz des Fleischextraktes, lief die „San Martin“ auf eine Sandbank, und 4 volle Tage lagen wir auf ihr wie angenagelt. Ich konnte mir dabei eine ungefähre Vorstellung machen, welche Gedanken einem Europäer kommen mögen, wenn er ganz langsam gebraten wird. Während dieser 4 Tage ereignete sich nichts anderes Bemerkenswertes, als dass von einem Argentiner ein kleiner Alligator geschossen wurde. Nach 100 Stunden widerwärtigen Wartens konnten wir endlich weiterfahren.

Ohne Zwischenfall erreichte die „San Martin“ Conrientes und 48 Stunden später, nach einer Reise von im ganzen 10 Tagen, Asuncion. Die Bevollmächtigten meiner väterlichen Handlung in Hamburg, die Herren Cramer, Weyer und Müller, empfingen mich auf das herzlichste und führten mich gleich zu meinem neuen Vorgesetzten, Don Isidoro Alvarez. Sowohl den Herren Cramer und Weyer, als Herrn Alvarez, bin ich zu besonderem Dank verbunden für eine mir während meines 8 Monate währenden Aufenthalts in Paraguay jederzeit bewiesene Freundschaft uneigennützigster Art. Herr Müller reiste kurz nach meiner Ankunft mit seiner schon derzeit recht kranken jungen Frau nach Europa und kehrte nach meiner Abreise aus den La Plata-Staaten allein zurück. Es sollte der jungen Frau nicht mehr beschieden sein, das herrliche Land zwischen dem Rio Paraguay und dem Paraná wiederzusehen.

Von ganz besonderem Wert ist es für mich gewesen, in Paraguay beobachten zu können, welch leitende Stellung nach jeder Richtung der Deutsche im Auslande einzunehmen imstande ist, wenn er Fähigkeiten und Eigenschaften aus der alten Heimat in die neue mit sich bringt, wie sie z. B. die oben genannten drei Herren besitzen.

Alle drei waren ohne nennenswerte Mittel vor 17, 10 bzw. 7 Jahren in den La Plata-Staaten angekommen. Fleiß, echt altdeutsche Rechtschaffenheit, Vorsicht, kluge kaufmännische Veranlagung und zweckmäßige Sparsamkeit haben die Firma nicht altein zu einer der beliebtesten und Achtung gebietendsten im ganzen Lande gemacht, sondern den Teilhabern auch recht ansehnliche Vermögen gesichert. Obgleich alle drei Herren Paraguay zu ihrer Heimat gemacht haben, bewahren sie ein mehr als warmes Herz für das erste Vaterland jenseits des Weltmeeres und lassen niemals eine Gelegenheit vorübergehen, wenn es gilt, das Deutschtum als solches zu zeigen, ihm Achtung in weitesten Kreisen zu erwerben und zu erhalten. In des Wortes schönster und vollendetster Bedeutung sind sie Deutsche und als solche haben vornehmlich sie dem ganzen Deutschtum in Paraguay Bewunderung und Zuneigung auf lange Jahre gesichert. Alle drei sind sie nicht trotz, sondern auf Grund ihrer deutschen Gesinnungen von den Einwohnern im Lande hochgeschätzt und allgemein beliebt. Denn mit bewundernswertem Takt wissen sie sich jeder Überhebung mit Bezug auf die geistige Überlegenheit unseres Volkes gegenüber den romanischen Völkerschaften zu enthalten und, im Gegensatz zu anderen Deutschen, benutzten sie niemals die Erfolge deutscher Waffen in den Jahren 1864 — 1871 zu prahlerischen Zwecken. Es ist meine feste Überzeugung, dass befähigte Deutsche, welche nicht nur eigenes Fortkommen im Auslande suchen, sondern dem deutschen Vaterlande, wie es ihre Pflicht ist, auch im fernen Weltteil dienen wollen, vor allen Dingen bestrebt sein müssen, sich jedes geistigen Hochmuts zu enthalten und nicht mit dem Hinweis auf die Macht der Waffen unseres Volkes sich im fremden Lande Glanz zu geben suchen. Leider bin ich nicht in der Lage zu behaupten, dass ich diese Grundsätze für die Mehrzahl der Deutschen in Süd- und Mittel-Amerika als maßgebend gefunden habe.

In Don Isidoro Alvarez habe ich ebenfalls weniger den Vorgesetzten als einen treuen Freund gefunden, unter dessen verständiger, umsichtiger und durchaus ehrenhafter Geschäftsführung ich meine kaufmännischen Kenntnisse, wenn auch nicht im großen Stil, doch sehr wesentlich erweitern konnte.

Somit war ich Don Isidoro übergeben. Er wies mir mein Zimmer an, das ungefähr die Größe einer deutschen Eisenbahnwagenabteilung hatte und in dem sich außer einem „catre de tijero“, also zwei Holzkreuzen mit einem Stück 2 m langen, 1 m breiten Sackleinen dazwischen, ein Stuhl mit 3 Beinen und mangelhaftem Rohrgeflecht befand. Raum für weiteren Hausrat war nicht vorhanden. Wenn ich in Asuncion auch keine hervorragende Gemäldesammlungen vorausgesetzt hatte, so muss ich gestehen, dass meine Erwartungen in. den ersten Tagen meines Aufenthalts trotz der schönen Lage der Stadt nicht gerade übertroffen wurden. Auf das freundlichste wurde ich von der hübschen jungen Frau Don Isidoros empfangen und als Familienmitglied aufgenommen. Sodann stellte mein Vorgesetzter die Frage an mich: „Mein lieber Don Oswaldo, erzählen Sie mir, was haben Sie denn bisher in Ihrem väterlichen Geschäft getrieben?“ Diese Anrede brachte mich einigermaßen in Verlegenheit; als ehrlicher Mensch musste ich ihm sagen, dass ich in Hamburg nur in der Drogenabteilung beschäftigt gewesen sei, in welcher ich mir nicht viel mehr als eine große Fertigkeit im Überbinden von Ricinusölflaschen angeeignet hatte. Ich gestand auch ganz offen, dass man einst den Versuch machte, mich eine Rechnung über Spezereiwaren nach Seydisfjord in Island ausschreiben zu lassen, dass mein Geschäftsherr und Vater mich indessen von dieser meinen Fähigkeiten nicht entsprechenden Aufgabe wenig ehrenvoll abberufen hatte mit dem Bemerken: „Du bist doch eigentlich zu gar nichts zu gebrauchen!“ Don Isidoro reichte mir beide Hände und sagte nach meiner Schilderung ungefähr Folgendes: „Unter solchen Umständen sind Sie mir doppelt willkommen. Ich hatte einige Bedenken, Sie überhaupt aufzunehmen, in der Voraussetzung, dass Sie, wie so mancher Deutsche, ganz fürchterlich viel gelernt hätten, aber nichts könnten. Von dieser Art Ihrer Landsleute habe ich früher in Uruguay mehr als zu viele getroffen. Ihnen indessen scheint wenig Schulwissenschaft beigebracht zu sein, während Sie für Ihre 18 ¾ Jahre manches können mögen. Ich werde Sie in meiner „tienda“ beschäftigen, und bei einiger Aufmerksamkeit werden Sie soviel bei mir lernen, dass Sie nach Ihrer Rückkehr in Hamburg unsere Landesbedürfnisse und den Geschmack unserer Käufer soweit kennen, um in Zukunft Ihrer Handlung den größten Teil der jetzigen Bemängelungen Ihrer hiesigen Freunde zu ersparen. Die Erfordernisse von Paraguay können Sie so ziemlich auf alle Staaten von Kolumbien bis Argentinien mit wenig Abwechslung beziehen. Also noch einmal, seien Sie mir herzlich willkommen!“




*) "Harmlose Käfer, mein Herr!"

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderjahre eines jungen Hamburger Kaufmannes.