Zweite Anmerkung Der Anbruch der neuen Zeit.

Versucht man, den Vorgang der Umlagerung sich zu vergegenwärtigen, an den unsre Geschichte sich aufreiht, so muss man auf die Vorstellung verzichten, es könne der Rassenkampf im wesentlichen unter dem sinnfälligen Bilde von Aufständen, Revolutionen oder Verschwörungen erblickt werden. Denn nicht einmal die Kämpfenden selbst waren sich des Kampfes bewusst. Die einen verteidigten als Erben Rechte, Vorteile, Ehren und Besitztümer, nach denen die andern als Erblose die Hände ausstreckten; und da weder Kämpfer noch Bekämpfte ihre, unsern Augen doch so sichtbaren Rassenmerkmale deuteten, vielmehr beide eines Landes, einer Sprache und eines Glaubens waren, so erblickten sie ihre bald ruhende, bald erwachende Feindschaft unter dem Licht gegnerischer Interessen, ständischer Gegensätze und erblicher Missbräuche. Überdies sind innere Rassenkämpfe reich an friedlichen Eroberungen; denn das Ziel ist nicht Vernichtung, sondern Angleichung und Vermischung. Jede Missehe, jede Deklassierung, jede Rangeserhöhung ist ein Sieg und eine Niederlage.

Dennoch sind große Episoden des Gesamtkampfes auch der chronistischen Geschichtsbetrachtung erkennbar: das Ringen um freien Grundbesitz, Vormacht der Kirche, Feudalrechte des Adels, Herrschaft der Zünfte, evangelische Freiheit, Leibeigenschaft, Ablösung der Lasten, Gewerbefreiheit, Freizügigkeit; ja selbst die ersten Kämpfe um die erbliche Macht des Kapitals sind sichtbare Einzelkampagnen, zum Teil Nachgefechte des großen Rassenkrieges, dessen letzte Entscheidung erst um die Wende des XVIII. Jahrhunderts fiel.


In dem Zeitalter, das etwa mit dem Leben Goethes zusammenfällt, liegt die Schilderhebung der Unterschicht des deutschen Volkes beschlossen. Man vergleiche, was der Frankfurter Bürgersohn im Werther und im ersten Teil des Meister über die Beschränkung des Bürgerstandes schrieb, mit dem, was sechzehn Jahre nach seinem Tode in der Paulskirche seiner Vaterstadt gesprochen wurde: zwischen diesen Zeitgrenzen liegt Deutschlands Umschwung.

So konnte denn auch nach dem Gesetz der Energiebefreiung, das zu Eingang beschrieben wurde, dieser Zeitlauf eine Kulturepoche emportragen wie sie nie zuvor der Erde beschieden war, und deren Glanz erst späte Geschlechter voll erfassen werden. Sie offenbart, wie wenig die Naturvorgänge des Völkerlebens von Konstellationen der Zeitgeschichte sich meistern oder unterdrücken lassen. Denn aus einer Periode tiefsten politischen Niederganges bricht sie hervor — für rein historische Betrachtung ein unlösbares Rätsel — und schwindet mit dem Erstarken des Wohlstandes, der Freiheit und der Macht. Mit ihrem Höhepunkte können nur zwei frühere Kulturepochen sich messen, die im Aufstieg der bildenden Künste sie übertreffen, in der Vertiefung der Dichtkunst, der Musik, der wissenschaftlichen und philosophischen Forschung und der politischen Einsicht sie nicht von fern erreichen: das Perikleische und das Leoninische Zeitalter.

Sicher aber ist zu keiner früheren Zeit eine so gewaltige Zahl ungewöhnlicher Menschen auf engem Bezirk hervorgetreten, wie damals in Deutschland und — auf andern Gebieten, entsprechend dem politisch gefärbten Umschwung — in Frankreich. Die übrigen großen Kulturländer hatten die Vollendung ihrer Umschichtungen weit früher erlebt: Italien im XV. und XVI., England und die Niederlande im XVI. und XVII. Jahrhundert.

Seit jener großen Epoche aber, die als eine gewaltige Morgendämmerung die Neue Zeit emporführte, sind, wie das Gesetz es will, neue geistige Faktoren in das Leben der Nation nicht mehr eingetreten. Sprache, Gedanken, Politik und Kunst haben nur noch im internationalen Austausch wirkliche Bereicherung erfahren; im übrigen sind sie trotz mancher Absonderlichkeiten einheitlicher, ja einförmiger in Rhythmus und Kinetik geworden und haben sich damit den Anforderungen der Neuen Zeit, ihren unaufhörlich wechselnden und dennoch innerlich gleichbleibenden Aufgaben und Gegenständen vollkommen angepasst.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1