Versuchte Lösungen.

Wer sich in eine stetige Erscheinung vertieft in dem Bestreben, ihre Änderungen auf irgendeine Gesetzmäßigkeit aufzureihen, das heißt, sie als Funktion einer einfacheren oder bekannteren zeitlichen Erscheinung festzulegen, der kommt leicht in Gefahr, Kontinuität und Kausalität zu verwechseln, indem die einzelnen Phasen teils ihrer mählichen Übergänge wegen, teils infolge eines Gegensatzes sich wechselseitig zu erzeugen scheinen, während sie in Wahrheit der Zentralbewegung einer unbekannten dritten Kraft folgen. Ein alltägliches Beispiel mag diese Erwägung bis zu einem gewissen Punkt erläutern. Hat der Wind eine Zeitlang von Süden her geblasen, dann von Südwesten und jetzt von Westen, so werden manche sagen: Dies war vorauszusehen; es liegt eben eine nach Westen drehende Neigung des Windes vor. Ist er statt dessen von Süden nach Nordosten gegangen, so wird man hören, dies sei die Folge eines notwendigen und üblichen Gegensatzstrebens. In beiden Fällen bleibt unbeachtet: warum hat die westdrehende Neigung nicht schließlich nach Nordwesten, Norden oder weiter geführt?, warum hat das Gegensatzstreben nicht statt nach Nordosten nach Nordwesten gewiesen?, schließlich: warum ist überhaupt, und gerade jetzt, eine Änderung vorgegangen? Die Wahrheit ist, daß nicht in irgendeiner Tendenz der Windrichtung, sondern in dem tieferliegenden Spiel der meteorischen Kräfte der Urgrund dieser wechselnden Erscheinung, dem beobachtenden Sinn unerkennbar, ruht.

Mit einer Verwechslung von Kontinuität mit Kausalität wird häufig die Frage nach der Herkunft der Neuen Zeit beantwortet. Ihre Ursache, so heißt es meistens, liegt im Verkehr. Und woher kommt der Verkehr? Von der Maschine. Und die Maschine? Von der Entwicklung der Technik. Woher stammt die Technik? Sie ist angewandte Wissenschaft. Wie kam die okzidentale Wissenschaft empor? Sie war das gegensätzliche Erzeugnis der Scholastik. Und so fort bis zu Adam und Eva.


Gewiss ist es verlockend, die tausendjährige Entwicklung an die Kette der Geistesevolution zu reihen, deren Glieder uns als lückenlose, unzerreißbare kausale Folge erscheinen. Aber wie bedenklich wäre es, auch nur die Geschichte eines menschlichen Lebenstages oder eines ganzen Lebenslaufes an die Kette einer Gedankenfolge reihen zu wollen! Noch schwerer wäre die innere Kausalität dieser Gedankenfolge selbst glaubhaft zu machen, und es würde für die Haltbarkeit der Reihe wenig gewonnen, wenn man sich auf den allgemeinen Ursprung als Ausfluss einer Persönlichkeit beschränkte.

Gewiss ist es eine schöne Aufgabe, darzustellen, wie ein jugendliches Heidentum in gläubige Mystik, in dürre Scholastik sich verwandelt; wie aus dem sterbenden Reis die Forschung, das freie Denken und die Wissenschaft hervorsprießt; wie diese in zweckhafter Verzweigung die Technik abspaltet; gewiss mußte es so sein, denn es ist; aber warum mußte es gerade so sein und nicht anders? Die Griechen hatten Mystik, aber keine Scholastik; sie hatten Wissenschaft, aber keine Technik; die Juden hatten Scholastik, aber keine Forschung; die Römer hatten freies Denken, Technik, aber keine Wissenschaft; die Ägypter und Chinesen hatten Technik, aber weder freies Denken noch Forschung. Somit sind Geistesevolutionen denkbar, die von verschiedenartigen Ausgängen zu gleichen Ergebnissen, und wiederum solche, die zu verschiedenartigen Ergebnissen bei gleichem Ausgang gelangen, und deshalb bietet die scheinbar so feste Kette keinen genügenden Halt, um den eisernen Weg der Völkerentwicklung zu tragen.

Glücklicher scheint der Versuch, den Neuere gemacht haben: die Wandlung Germaniens in ein prussianisiertes Weltreich — und gleichzeitig die Parallelgestaltungen aller westlichen Länder — als Funktion wirtschaftlicher Vorgänge aufzufassen, und zwar sie an den Übergang von der Individualwirtschaft zur Universalwirtschaft, die man Kapitalismus nennt, zu ketten. Nur seltsam, daß sie es sich nicht angelegen sein ließen, die letzte Triebkraft, die die Wirtschaftsverschiebung verschuldet, ans Licht zu ziehen, obwohl es mit Händen zu greifen war: die Volksvermehrung; die ungeheuerste, proportional und absolut gewaltigste Volksvermehrung seit Anbeginn menschenkundiger Zeiten. Man zog es vor, zu eigenartigen Hypothesen Zuflucht zu nehmen; so schuf man ein besonderes Naturgesetz, wonach die Menschheit das Bestreben habe, zwischen Begierde und Genuss möglichst viele Stadien zu schalten: nicht sehr überzeugend zwar, doch gut zupass; wie es denn von alters her stets ein Vorrecht der Erklärer war, ein factum durch eine facultas zu erleuchten.

Wie eng die wirtschaftliche Evolution mit der Volksvermehrung sich verknüpft, ist augenscheinlich. Einzelwirtschaft bedeutet Abgeschlossenheit, Nachbarlosigkeit; Gesamtwirtschaft bedeutet enge Berührung, Zusammenschluss. Einzelwirtschaft kann nur aus dem vollen schöpfen, ohne Rücksicht, wie viel, wie wenig übrigbleibt. Gesamtwirtschaft lebt von Ersparnis; Ersparnis an Zeit, Kraft, Material, Lagerverlust, Reibungsverlust. Gesamtwirtschaft ist noch heute ebenso undenkbar bei spärlicher Bevölkerung, wie Einzelwirtschaft bei großer Dichte. Gesamt Wirtschaft muss daher mit Naturnotwendigkeit eintreten, sobald eine gewisse Verdichtung stattgefunden hat.

Wenn trotz dieses offensichtlichen Zusammenhangs die Vertreter der wirtschaftlichen Auffassung nicht gewagt haben, die Volkszunahme schlechthin als Evolvente zu wählen, so lässt sich eine Erwägung anführen, die dies Zögern zu rechtfertigen scheint.

Denn immer wieder tritt bei Aufgaben, die sich auf Massenphänomene beziehen — mögen nun Flüssigkeitsbewegungen oder thermische Erscheinungen oder lebendige Gemeinschaften der Betrachtung dienen — die Erfahrung hervor, daß jede kleinste Verschiebung durch die benachbarte bedingt und abgewandelt ist; keine Kraft wirkt losgelöst und ungehindert; daher denn auch im vorliegenden Fall nicht bestritten werden kann, daß rückwirkend bis zu einem gewissen Grade die wirtschaftliche Entwicklung und der ihr folgende Wohlstand auf die Volksvermehrung habe einwirken können. Es konnte am Ende gar der Zweifel entstehen: ob nicht überhaupt das Phänomen umgekehrt aufgebaut sei: zuerst Wirtschaftsumschwung, dann Volksverdichtung. Dies wäre freilich nicht viel anders, als wenn jemand den Satz „Volksansammlungen veranlassen Verkehrsstörungen“ grundsätzlich umkehren wollte, weil unbestreitbar Verkehrsstörungen auch schon manchmal Aufläufe hervorgerufen haben.

Mit besserem Recht könnte man geltend machen, hier werde nur ein Rätsel durch ein anderes verdrängt: denn wie in aller Welt sei eine Volksverdichtung erklärlich, die allen Seuchen und Kriegen des Mittelalters und der neueren Zeit standgehalten und von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an die gewaltigsten Menschenkonzentrationen erzeugt habe, die je von europäischem Boden ertragen wurden?

Um dieser seltsamen Frage zu begegnen, wird es nötig sein, nochmals einige Schritte zurückzutreten und von neuem auszuholen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1