Aufgabe, Begriff und Mittel.

Gegeben ist die Größe der menschlichen Einzelleistung, gegeben die bewohnbare Erdoberfläche, gegeben, aber praktisch fast unerschöpflich und nur an den menschlichen Arbeitseffekt gebunden, die Menge der greifbaren Rohstoffe, praktisch unermesslich sind die verwertbaren Naturkräfte. Aufgabe ist es nun, für die zehnfach, hundertfach sich vermehrende weiße Bevölkerung Nahrung und Gebrauchsgüter zu schaffen.

Die Alten, in engerer Begrenzung und weiterer Welt lebend, wussten sich leichten Rat: sie sandten Kolonen in ein Nachbarland und schufen sich Verdopplungen ihrer Vaterländlein. Auch in unserer Zeit sind Auswanderer zu Millionen aus ihrer Heimat gedrängt worden; sie haben die Bevölkerungsdichte fast aller für Weiße bewohnbaren Länder auf ein nahezu europäisches Maß gebracht, ohne daß die Volksvermehrung der Alten Welt um ein merkliches gehemmt worden wäre.


Andern Rat, vielleicht den verruchtesten, der je der Menschheit zugerufen wurde, gab Malthus; die natürlichen Quellen des Lebens zu hemmen und die Nachkommenschaft widernatürlich zu beschränken. Das einzige Land, das diesen Weg beschritten hat, Frankreich, ist im Begriffe, daran zugrunde zu gehen.

So blieb den alten Völkern nur eines übrig: zu gänzlich neuen Gewohnheiten und Gesetzen des Lebens und Schaffens überzugehen, zu dem Zweck, die irdische Produktion auf das gewaltigste zu vermehren und sie der Milliardenzahl der Menschheit anzupassen.

Dies war nur auf einem Wege möglich: wenn der Effekt der menschlichen Arbeit um ein Vielfaches gesteigert und gleichzeitig ihr Erzeugnis, das produzierte Gut, auf das vollkommenste ausgenutzt werden konnte. Erhöhung der Produktion unter Ersparnis an Arbeit und Material ist die Formel, die der Mechanisierung der Welt zugrunde liegt.

Um die Steigerung des Arbeitseffektes zu würdigen, wolle man erwägen, daß alles zweckbestimmte Handeln und Geschehen nur zu einem Teil dem Zwecke dient. Ein andrer Teil — in der Regel weitaus der größere — , sei er vorbereitender, begleitender, schützender oder ungewollter Art, dient dem Zweck nur mittelbar oder überhaupt nicht und schädigt den Wirkungsgrad. Ein Analoges gilt von den Beimengungen, Spaltungsprodukten, Abgängen der Materie. Nun ist es einleuchtend, daß viele dieser Effektverluste nur von der Handlung selbst, nicht von ihrem Umfange abhängen, daher mit wachsender Leistung an Bedeutung verlieren. Wenn ich einen Brief zur Post trage, kostet dieser Brief mich fünf Arbeitsminuten; trage ich sechzig Briefe auf einmal zur Post, so kostet mich jeder fünf Arbeitssekunden. Ja, ich kann es ermöglichen, den gesamten Briefverkehr einer Kleinstadt zu bewältigen, wenn ich mich als Briefträger den ganzen Tag über ausschließlich dieser Aufgabe widme. Verbrauche ich einen Zentner Kohlen, um einen Dampfkessel anzuheizen, so bleibt der Verlust der gleiche, ob ich nun den Kessel fünf oder zehn Stunden im Betrieb halte; bei ununterbrochenem Betriebe aber würde der Anheizverlust jede Bedeutung verlieren.

Es besteht also die Möglichkeit, den Wirkungsgrad von Vorgängen und die Ausnutzung von Materialien erheblich zu verbessern, indem man Gelegenheit für möglichst große Mengen gleichartiger und einfacher Nutzhandlungen sammelt, um dieselben ununterbrochen auszuüben — dies ist die Arbeitsteilung, auf der die alte Methode der Manufaktur beruht — , oder indem man den Einzelvorgang in seinem Kraft- und Massenumfang steigert, ein Verfahren, das man Arbeitshäufung nennen und als die Grundlage der neuzeitlichen Fabrikation ansprechen könnte.

Die Hilfsmittel dieser doppelten Übung der Effektsteigerung sind Organisation und Technik. Organisation, indem sie Produktion und Verbrauch durch Unterteilung, Vereinigung und Verzweigung in die gewollten mechanischen Bahnen lenkt, Technik, indem sie die Naturkräfte bändigt und sie bald in gewaltigen Massenbewegungen, bald in chemischen Wirkungen, bald in elektrischen Strömen, bald in mechanisch kunstfertigen Handgriffen den neuen Produktions- und Verkehrsorganisationen ausliefert.

Dass somit nicht die Technik oder der Verkehr Ursache der Mechanisierung und. somit der neuzeitlichen Lebensverfassung sein konnte, vielmehr die Volksverdichtung zur Mechanisierung drängte, die ihrerseits neue Hilfsmittel verlangte und schuf, darf in Einschaltung nochmals ausgesprochen werden. Diesen Zusammenhang verkennen hieße nichts andres als etwa behaupten: die Eisenbahn habe den Großverkehr oder das Zündnadelgewehr habe den Massenkrieg geschaffen. In Wirklichkeit schafft der Wille zum Verkehr sich seinen Weg, der Wille zum Massenkrieg sich sein Geschütz; das Werkzeug ermöglicht das Werk, doch bleibt es selbst ein Geschöpf des auf das Werk gerichteten Willens.

Den Ursprung der Mechanisierung aus der Verdichtung, ihre Anfänge, ihren Verlauf und ihre Welteroberung historisch zu schildern, ist Aufgabe späterer Geschichtsschreibung. Hier seien in kürzesten Zügen nur einige Staffeln verzeichnet; denn die Absicht dieser Darstellung richtet sich dahin, nicht sowohl den Vorgang als die Wirkungen der Verdichtung und Umschichtung, der Mechanisierung und Entgermanisierung auf die Welt, die Menschen und das Leben unsrer Zeit zu erörtern. Mit dem ersten Tausch, der auf Erden stattfand, war die Einzelwirtschaft durchbrochen und zwei neue Begriffe geschaffen: des Tausch Vorrates und der Spezialisierung. Je dichter nun die angehenden Spezialisten aneinander heranrückten, je häufiger sie sich begegneten, desto mehr konnten sie sich auf die wechselseitigen Vorräte verlassen. Zuletzt konnte der eine die Erzeugung dessen einstellen, was der andre besaß: er konnte Korn gegen Vieh, Vieh gegen Erz tauschen. Verdichtete sich die Bevölkerung abermals, so lernte man neue Gegenstände kennen; es lohnte sich, reich zu sein:

aus dem Vorrat wurde Kapital. Der Spezialist wurde gesucht, er fand Aufträge; aus Anlage und Kenntnis entstand der Beruf.

Nun war man aufeinander angewiesen; die Begehrlichkeit der Weiber, die Freigebigkeit der Männer mag das ihre beigetragen haben: man tauschte und handelte, betrieb Wirtschaft und Handwerk; die Anfänge der wechselseitigen Gütererzeugung waren gegeben. Aber noch konnte ein Mürrischer oder Selbstzufriedener, ein Gegner des Neuen, sich abseits halten. Verzichtete er auf kunstvolle Güter, auf mannigfaches Werkzeug, so mochte er mit Pfeil und Speer, mit Pflug und Hacke ins Weite ziehen und sich von der Gesamtwirtschaft befreien. Mit zunehmender Dichte wird auch diese Freiheit benommen. Jetzt bedarf ein jeder des Schutzes; er muss Mitglied einer Gemeinschaft sein. Der Sitte kann er sich nicht entziehen, sie verlangt Kleidung und Behausung und manches andre. Land zu erschließen ist ihm versagt; er muss Eigentum achten, auf dem Seinen haushalten, somit nachhaltiger wirtschaften, mit Geräten und Werkzeugen, die beschafft sein wollen. Doch schon ist die Verdichtung vorgeschritten, die Scholle beschränkter, die Wirtschaft schwieriger und einseitiger. Um den ganzen Bedarf an Lebensgütern zu erlangen, muss verkauft, muss Absatz gesucht werden. Die Wirtschaft wird zum Unternehmen, zum Geschäft. Der Absatz stellt sich ein und mit ihm die Konkurrenz. Eine Zeitlang können Zunftbestimmungen und mangelhafte Verkehrswege den Handwerker und Landwirt vor der Geißel des Wettbewerbs schützen. Unter der ständigen Verdichtung der Produktion macht sie sich denn doch fühlbar.

Und trotz der gleichzeitigen Konzentration des Konsums kann keiner froh werden: denn die Erzeugungsmethoden sind noch immer primitiv, sie nötigen der Erde nicht genügend Stoffe ab, um die Gesamtheit zu befriedigen, die Arbeit wird hart, man leidet Not. Doch eben hat ein erfinderischer Kopf ein Werkzeug erfunden, ein Erzeugnis verbessert, ein Verfahren vereinfacht. Der Teufelskerl wird reich, die andern sehen's und empfinden ihre Not verdoppelt. Nun sind sie alle dem Wettlauf der Konkurrenz verfallen, der technischen, der kommerziellen, der kapitalistischen Konkurrenz. Nun werden alle Künste und Wissenschaften herbeigerufen; die Erfindungsreichen, Kühnen, Vorurteilsfreien, die Habsüchtigen, die Ehrgeizigen, die Handfesten eilen voran; die Schwachen bleiben am Wege liegen, sie werden eingefangen und als Tross mitgezogen. Und unter den Tritten dieses Reigens schwitzt die Erde aus allen Poren und lässt an Gütern den zehnfach vermehrten Enkeln das Hundertfache dessen emporströmen, was sie den Ahnen kärglich gewährte, sich zu nähren, zu wärmen, zu schmücken und zu berauschen.

Wenn somit die Mechanisierung ursprünglich in der Gütererzeugung wurzelt, so blieb sie nicht lange auf dies Gebiet beschränkt. Freilich bedeutet dieses noch heute den Stammbezirk ihrer Verzweigung und Überschattung; denn die Gütererzeugung bleibt das zentrische Gebiet des materiellen Lebens, dasjenige, mit dem sich alle übrigen in mindestens einem Punkt berühren.

Mechanisierung aber erblicken wir, wohin wir auch über die Provinzen menschlichen Handelns das Auge schweifen lassen; allerdings treten ihre Formen derartig verwickelt und vielgestaltig auf, daß es vermessen dünkt, den ganzen Umriss des ruhelos bewegten Bildes zu umfassen. Dem wirtschaftlich Betrachtenden erscheint sie als Massenerzeugung und Güterausgleich; dem gewerblich Betrachtenden als Arbeitsteilung, Arbeitshäufung und Fabrikation; dem geographisch Betrachtenden als Transport- und Verkehrsentwicklung und Kolonisation; dem technisch Betrachtenden als Bewältigung der Naturkräfte; dem wissenschaftlich Betrachtenden als Anwendung der Forschungsergebnisse; dem sozial Betrachtenden als Organisation der Arbeitskräfte; dem geschäftlich Betrachtenden als Unternehmertum und Kapitalismus; dem politisch Betrachtenden als real- und wirtschaftspolitische Staatspraxis.

Gemeinsam ist aber allen diesen Erscheinungsformen ein Geist, der sie seltsam und entschieden von den Lebensformen früherer Jahrhunderte unterscheidet: ein Zug von Spezialisierung und Abstraktion, von gewollter Zwangsläufigkeit, von zweckhaftem, rezeptmäßigem Denken, ohne Überraschung und ohne Humor, von komplizierter Gleichförmigkeit: ein Geist, der die Wahl des Namens Mechanisierung auch im Sinne des Gefühlsmäßigen zu rechtfertigen scheint.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1