Das Problem.

Durch die Mitte des vergangenen Jahrhunderts geht ein Schnitt. Jenseits liegt alte Zeit, altmodische Kultur, geschichtliche Vergangenheit, diesseits sind unsere Väter und wir, Neuzeit, Gegenwart. Das ist nicht etwa eine Täuschung des rückwärts gewandten Blickes, nicht eine Erscheinung, die jedem sich besinnenden Geschlecht begegnet: denn wir können die Zeitpunkte bestimmen, wo das neue Wesen sich vom alten sondert. Freilich nicht auf ein Jahr oder ein Jahrzehnt genau; denn wie sollte eine Kulturgrenze sich als scharfkantige Bruchfläche darstellen? Vielmehr weist sie, aus geringer Entfernung betrachtet, ein Bündel von Splitterungen auf, die jede einzelne Faser des Gesamtlebens je an andrer Stelle treffen. So können wir sagen, wann man begonnen hat, ein neues Deutsch, Zeitungsdeutsch, Abhandlungsdeutsch, Geschäftsdeutsch zu reden und zu schreiben, wann die humanistische Bildung von der historischpragmatischen abgelöst wurde, wann die geschäftliche Staatenpolitik begann, wann die Weltstadtphänomene sich erhoben, wann die fassbaren Ideale dem unbestimmten Sehnen unsrer Zeit gewichen sind.

Vollends erkennen wir diesseits der Epochengrenze, etwa seit Beginn der fünfziger Jahre, die nicht mehr unterbrochene Gleichförmigkeit eines Zeitalters, das bis zu diesem Augenblick nur größenhafte Steigerungen und technische Verschiebungen erlebt hat. Vor allem aber sind alle diesseitigen Menschen uns als Zeitgenossen ohne Erläuterung verständlich, indem wir ihre Sprache, Lebensauffassung, Wünsche und Denkweise bis in die jüngste Generation unsrer Stadtbürger hinein erhalten und wiederholt finden. Unstet und gesellig, sprunghaft, gedankenbegierig und sehnsüchtig, interessiert, kritisch, strebend und hastend ist die Stimmung nun schon des dritten Geschlechtes westlicher Menschen.


Jenseits des Zeitalters jedoch, bis in die Anfänge des abgelaufenen Jahrhunderts, erblicken wir die Ausläufer des älteren Geschlechtes: sesshafte Menschen, die auf Ererbtem beruhen, von handgefertigten Werken umgeben, im Wechselkreis des Herkommens ihr Leben erfüllend. Wollte man meinen, der Gegensatz sei durch den Abstand vergrößert, so genügt es, das flache Land oder die Städte an der nördlichen und südlichen Grenze unsres Sprachgebiets aufzusuchen, um wahrzunehmen, daß trotz Zeitung, Eisenbahn, Industrie und Politik ein altes, dem Großstädter fernes Deutschland dort sich erhält und verteidigt. So wird man in den alten Ortschaften Holsteins oder der Nordschweiz den Unterschied der Stände, die Gegensätze der Berufe in Sprache, Gebaren und Gesichtszügen ausgeprägt finden, Beschaulichkeit der Denkweise, Handlichkeit des Ausdruckes, Festigkeit der Überlieferung nicht vermissen. Wie denn überhaupt in wundervollem Erhaltungstriebe die Erde abseitig und oft in Schlupfwinkeln alles scheinbar Vergangene, selbst das Entfernteste, uns aufbewahrt hat, so daß alle zentrische Bildung von heute zur peripherischen von morgen wird, und jeder Schritt abseits vom Wege auch einen Schritt abseits von der Zeit bedeutet.

Betrachtet man aber die zentrischen Gebilde unsrer Zeit, so ist es zum zweiten Male merkwürdig und fast erschreckend zu bemerken, wie sehr diese Wesen trotz aller Verschiedenheit des Himmelsstrichs, der Herkunft und Vergangenheit einander gleichen.

In ihrer Struktur und Mechanik sind alle größeren Städte der weißen Welt identisch. Im Mittelpunkt eines Spinnwebes von Schienen gelagert, schießen sie ihre versteinernden Straßenfäden über das Land. Sichtbare und unsichtbare Netze rollenden Verkehres durchziehen und unterwühlen die Straßenschluchten und pumpen zweimal täglich Menschenkörper von den Gliedern zum Herzen. Ein zweites, drittes, viertes Netz verteilt Feuchtigkeit, Wärme und Kraft, ein elektrisches Nervenbündel trägt die Schwingungen des Geistes. Nahrungs- und Reizstoffe gleiten auf Schienen und Wasserflächen herbei, verbrauchte Materie entströmt durch Kanäle. So ist denn das steinerne Bild, auch im Schnitt betrachtet, allenthalben das gleiche: Wabenzellen, mit geschmeidigen Stoffen, Papier, Holz, Leder, Geweben ausgestattet, ordnen sich reihenweise; nach außen gestützt durch Eisen, Stein, Glas und Zement. Ein wenig höher oder ein wenig flacher getürmt, die Öffnungen etwas dichter oder etwas weiter gestellt, durch senkrechte oder wagerechte Ritzungen und Schnörkel gegliedert, zeigen die Straßenwände in allen Ländern den gleichen Ausdruck. Nur im alten Inneren der Städte, wo in Kirchen und Staatshäusern jahrhundertelang Seele und Geist der Gemeinschaft wohnten, erhalten sich noch Reste physiognomischer Sonderheiten als fast erstorbene Schaustücke, während im Umkreis, gleichviel ob in der Richtung der Werkstätten, der Wohnstätten oder der Ruhestätten das internationale Weltlager sich ausdehnt.

Nicht mindere Einförmigkeit begegnet im Geistigen. Im täglichen und nächtlichen Spiel werfen die Städte der Welt einander ihre Bälle zu: ihre Launen, Moden, Leidenschaften, Lieblinge, ihre Vergnügungen, Freuden und Künste, ihre Wissenschaften und Werke tauschen sie aus und finden am Wechsel Gefallen. Das gleiche Theaterstück wird in Berlin und Paris gespielt, die gleiche Ladenauslage prangt in London und Newyork, das gleiche wissenschaftliche Problem hält sie in Atem, der gleiche Skandal macht sie lachen, die gleiche Küche ernährt sie, der gleiche Hausrat umgibt sie. Nie waren im Mittelalter zwei benachbarte Städte eines Landes: Nürnberg und Köln, Genua und Venedig, einander im wesentlichen so ähnlich wie heute London und Paris, Newyork und Berlin.

So kommt es, daß die städtischen Zeitgenossen dieses Kulturkreises in unerhörter Weise sich verstehen, ja zuletzt gar einander gleichen; so daß mancher Reisende, der in einem Nachtschlaf Berlin mit Paris vertauscht, sich eigentlich nur darüber wundert, daß er beim Aussteigen andre Sprachlaute vernimmt als beim Abschied.

Wer dürfte aber leugnen, daß die Städte sich des wirkenden Geistes unsrer Zeit bemächtigt haben? Wenn auch nicht das Treiben der Straße und des Marktes das Wesen der Länder verkörpert, so ist doch das wirkende und das sichtbare Leben zuletzt eines; was in der Seele keimt, das spiegelt sich im Auge, und was im Auge leuchtet, das zuckt in den Händen.

Die Betrachtung aber bestätigt: in verschiedenen Zungen sprechen die Gedanken aller Länder die gleiche Sprache. Hier gibt es kein Land mehr des vorwiegend imperialen Denkens, keines mehr des künstlerischen oder religiösen oder merkantilen Geistes. Rom, Athen, Jerusalem und Karthago sind verschmolzen, alle denken und trachten alles, und alle das gleiche in gleicher Weise.

So haben wir zeitlichen Stillstand und örtliche Einform als Wesen dieser bewegtesten und mannigfaltigsten aller Zeiten, die sich stündlich mit Neuigkeiten sättigt und keinen Gedanken so feierlich betont wie den der örtlichen, nationalen und persönlichen Individualität.

Und nun den Blick in die früheren Jahrhunderte unsrer Zeitrechnung zurückgewendet! Lassen wir die Wandlungen des technischen Gehabens unbeachtet; halten wir uns an menschliche, physische, ethische, transzendente Eigenschaften: und wir müssen eingestehen, daß eine ähnliche Wandlung des Leibes und der Seele bei gleichbleibendem Volkskörper in aller bekannten Geschichtsentwicklung uns nicht begegnet. Wir kennen Völker mit tausendjähriger Geschichte; wir ahnen, daß Ägypten, Persien, Rom und China gewaltige Wandlungen der Menschen und ihrer Sitten zwischen Anfang und Ende ihres Völkerlaufes erblickt haben. Aber Wandlungen germanischer Krieger in deutsche Gelehrte, preußische Beamte, Berliner Hausbesitzer, sächsische Industriearbeiter, Wandlungen frankogallischer Abenteurer in französische Bourgeois, Pariser Journalisten und Coulissiers -Wandlungen des Blutes und Geistes von solch erstaunlicher Verwegenheit kennen die uns erschlossenen Historien nicht.

Immer wieder fühlt man sich versucht, die taciteischen Schilderungen als Fabeleien eines nordlandsüchtigen Italieners zu verwerfen; allein die Geschichte des Mittelalters und die Werke dieser großen Zeit lassen uns Menschen empfinden, die der römischen Zeichnung gleichen. Vor den deutschen Domen und ihren Steinbildern, aus den Gesängen Walthers, Gottfrieds und Wolframs blickt uns die Gewissheit entgegen, daß Völker dieses Schlages gelebt haben: Menschen von demutsvollem Stolz, von kluger Treue, von furchtlosem Glauben, von kraftvoller Zartheit.

Suchen wir nach den Gestalten dieser Menschen, so brauchen wir nur unsre Museen zu betreten: das ganze Mittelalter hindurch, teilweise bis in die ersten Jahrhunderte der neueren Zeit, zeigen die Bilder von Menschen und Gottheiten das deutsche Antlitz. Bis tief nach Italien und Spanien hinein, wo heute kein Tropfen dieses Blutes mehr sichtbar ist, tragen die Idealgestalten die gleichen Züge. Wo dunklere Gestalten erscheinen, kennzeichnen sie den Niedriggeborenen, den Fremden und Bösen. Selbst die Bildnisdarstellungen der beginnenden Neuzeit zeigen in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich überwiegend, in Italien häufig, die Gestalten, die bei uns so selten geworden sind. Man möchte sagen, daß das moderne Bildnis vom alten mehr durch den Unterschied der Dargestellten als durch Verschiedenheit der Gewandung und der Malweise abweicht.

In den Straßen der Großstädte treffen wir die Menschen dieser Bildnisse selten. Es könnte jemand tagelang Unter den Linden auf und ab spazieren, ohne auch nur einen einzigen Menschen vom alten Schlage zu erblicken: und träfe er ihn, so würde in den meisten Fällen eine kurze Unterhaltung offenbaren, daß die Seele eines Hohenstaufen in diesem bevorzugten Körper nicht wohnt. Entfernt man sich jedoch von den städtischen Zentren nach jenen abgelegenen Gauen hin, etwa nach Friesland, Jütland und dem südlichen Schweden, so finden sich heute noch Menschen, ja Stämme, welche die antiken Schilderungen rechtfertigen und retten. Freilich tragen auch sie nicht Schild und Brünne; auch sie sind bisweilen Kaufleute, Rechtsanwälte, Techniker, Ärzte; aber seltsam ist zunächst das eine, wie starr sie an einigen alten Berufen, des Ackerbauers, Züchters, Fischers, Jägers, Schiffers, festhalten. Und da, wo sie in neuzeitlichen Berufen stehen, bemerkt man bald eine seltsame, losgelöste, dingliche und kühne Auffassung, die auf den Kern der Sache geht, nicht auf die Zwecke, und die daher, wie Glück und Umstände es wollen, das eine Mal zu ungewöhnlichen Erfolgen, das andre Mal zum gänzlichen Misslingen führt.

Das seltsamste aber ist dies: wo wir Menschen des früheren Schlages treffen, da erkennen und verstehen wir auch den Geist alter Zeiten. Die ruhige, treu zuversichtliche und vornehm freie Art des Betragens, die karge, zur Untertreibung neigende Sprache, die des Rühmens bare Freude an Kraft und Mut, die leise Verspottung überklugen Wesens, die Heimatliebe, Geistigkeit und immaterielle Frömmigkeit, diese Wesenszüge erinnern zugleich an die höchsten Erscheinungen unsrer eigenen Zeit und führen wiederum hinauf zu den Liedern des Vogelweiders, zu Fischarts Schwänken und zu Ekkharts Mystik.

Was ist nun im Laufe dieser Jahrhunderte geschehen? Was hat die Menschen, ihre Leiber, ihre Seelen so gewandelt? Was hat ihren Geist ergriffen, um durch ihn die Welt so gänzlich umzugestalten und diese umgestaltete Welt rückgewandt auf Geister und Seelen wirken zu lassen? Gibt es eine Grunderscheinung als Ursprung und Achse dieser neuen Zeit und Welt, die, was man auch von Wiederkehr der Dinge sagen mag, schlechthin ohne Vorbild und Gleichung uns umgibt und beherrscht? Die Erkenntnis dieser Urkraft und ihres Wirkens würde uns Wesen und Zusammenhang der Moderne, von vorgespiegelter Selbstverständlichkeit losgelöst, objektiv fühlbar machen, aus dem Übermaß der Erscheinungen das Notwendige vom Zufälligen sondern und am Ende gar eine Vorstellung von der Richtung der Entwicklung gewähren. Und selbst ein Irrtum im Zielen auf die Grunderscheinungen wird nicht unter allen Umständen wertlos sein, wie denn ein erster Schuss, auch wenn er fehlt, dem Geschützführer Anhalt für Richtung und Abstand gibt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1