Mechanisierung und Leben

Die umgestaltete Produktionsform, die umgestaltete Gesellschaft und Welt wirken auf das Einzelleben zurück; sie schaffen ihm neue Vorstellungen, Aufgaben, Sorgen und Freuden und formen die Persönlichkeit derart, wie die Maschine beim Einlaufen ihren Teilen die rechte Gefügigkeit gibt; so daß die Elemente mit geringster Reibung, mit Ausnutzung aller vorhandenen Kräfte, unter Ersparnis an Zeit und Material willig, nachhaltig und rückhaltlos in den Massenprozess sich einfügen und seinem rastlosen Anwachsen dienstbar werden.

Der Mensch früherer Zeiten kannte den Kreislauf der Natur, die ihn umgab; er kannte die Wiesen, Felder, Wälder und Hügel seiner Gegend; die Straßen und Gebäude seines Ortes, die nicht zahlreichen Waren und Gerätschaften, die man feilhielt, und die Heiligenbilder der Kirchen; er hatte etwas Lesen, vielleicht auch Schreiben und Rechnen gelernt, wusste manches aus den Heiligen Schriften und verstand sein Handwerk. Vielleicht war er als Geselle gewandert, vielleicht hatte er große Herren vorüberziehen, Kirchenfeste sich entfalten sehen; dann und wann vernahm er von fernen Erdbeben, Kriegen und Seuchen, erblickte eine Feuersbrunst, ein Meerwunder, ein afrikanisches Tier; im übrigen waren die Ereignisse seines Lebens die natürlichen, von Geburt und Tod umschlossenen. Das Alltägliche war wunderbar, das Wunderbare alltäglich, alles stimmte zum Betrachten und zum Vertiefen, nichts zum Urteilen. Die seltenen Ereignisse erschüttern; sie hinterließen lange Erinnerungen, die sich mit langen, zuversichtlichen Hoffnungen zu einem ruhigen Fluss des Erlebens vereinigten.


Vor wenigen Jahrzehnten waren Lebenskreise ähnlicher Geschlossenheit und Rundung etwa noch in den Alpentälern von Tirol oder auf friesischen Inseln zu finden; heute würde es nicht genügen, bis in die Kleinstädte von Mittelrussland vorzudringen, um ihre Spuren aufzusuchen. Welche Änderung des Horizontes hat unterdessen etwa der mittlere Bürger des neuen Deutschen Reiches erfahren !

Er verlässt die Schule mit einer Übersicht der vergangenen und der gegenwärtigen Welt, mit einer flüchtigen Kenntnis mehrerer Sprachen, verschiedener Rechnungsmethoden; er hat einen Begriff von der Mannigfaltigkeit der Lebenseinrichtungen, von der Schematisierung der Naturerscheinungen. In millionenfachen Reproduktionen sind Kunstwerke aller Zeiten, Baustile, Landschaften, Völkerschaften an ihm vorübergezogen. Der Weg durch eine städtische Straße hat ihm mehr Gattungen von Waren, Gerätschaften, Apparaten und Mechanismen vor Augen geführt, als Babylon, Bagdad, Rom und Konstantinopel kannten. Das Arbeiten der Maschinen, der Verkehrsmittel, der Fabrikationen ist ihm alltäglich, der Anblick von Menschen aller Berufe und Länder, von Tieren und Pflanzen aller Zonen nicht überraschend. Er kennt Ausflüge, ja Reisen über meilenweite Gebiete; Feste, Aufzüge, Vorführungen, Unglücksfälle, Kriegsübungen sind ihm geläufig. Er ist gewohnt, Bücher zu lesen. Hunderte von Gegenständen zu benutzen, ja, zu besitzen; er ist gewohnt, Speisen und Vergnügungen aus aller Herren Länder zu genießen, sich zu unterhalten und unterhalten zu lassen. Die Erlernung des Berufes bringt weitere Kenntnis von Methoden und Hilfsmitteln, seine Ausübungen an wechselnden Stellen und Orten neue Erfahrung von Lebensverhältnissen, Umgang und Organisation.

Aber mit der Lehrzeit und Berufseinrichtung lässt der Strom der zudringenden Kenntnisse nicht nach. Täglich mindestens einmal öffnet das Welttheater seinen Vorhang und der Leser des Zeitungsblatts erblickt Mord und Gewalttat, Krieg und Diplomatenränke, Fürstenreisen, Pferderennen, Entdeckungen und Erfindungen, Expeditionen, Liebesverhältnisse, Bauten, Unfälle, Bühnenaufführungen, Spekulationsgeschäfte und Naturerscheinungen; an einem Morgen während des Frühkaffees mehr Seltsamkeiten, als seinem Ahnherrn während eines Menschenlebens beschieden waren. Und zu dieser freiwilligen Aufnahme an Nachricht gesellt sich die berufliche: die Korrespondenz des Kaufmanns, das Kundengeschäft, der Verkehr mit Angestellten und Vorgesetzten, mit Behörden und Geschäftsleuten bringt vom Morgen bis zum Abend so viel an Tatsachenmaterial, das gemerkt und verarbeitet werden muss, daß Hunderte von Papierfabriken ganze Waldungen in weiße Bänder verwandeln müssen, um die Erinnerungszeichen an einen kleinen Teil dieser Neuigkeiten aufzunehmen.

Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Geschwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit. Bergleute sind verschüttet: flüchtige Rührung. Ein Kind misshandelt: kurze Entrüstung. Das Luftschiff kommt: ein Moment der Aufmerksamkeit. Am Nachmittag ist alles vergessen, damit Raum im Gehirn geschaffen werde für Bestellungen, Anfragen, Übersichten. Für die Erwägung, das Erinnern, das Nachklingen bleibt keine Zeit.

Wie entledigt sich nun der Geist überflüssiger Notionen? Durch Urteil. Die Erscheinung wird besiegelt, etikettiert und eingereiht; so ist sie erledigt, indem sie sich scheinbar in einen Zuwachs an Erfahrung, vielfach nur in einen Zuwachs an Vorurteil verwandelt hat. Aber selbst das Vorurteil scheint erträglicher als die Urteillosigkeit, eben deshalb, weil es Vorstellungen verdauen hilft und in Zweckdienlichkeiten verwandelt. So wird geurteilt von früh bis spät: dies ist gut, dies ist nützlich, dies ist ungerecht, dies ist töricht. Selbst die Unterhaltung wird zu einem Dialog von Urteilen, die leicht, verantwortungslos, unsachlich und schematisch vorgebracht werden. Im Hagel der Tatsachen erstirbt die Verwunderung, der Respekt vor dem Ereignis, die Empfänglichkeit, und gleichzeitig erhöht sich die Begierde nach neuen Tatsachen, nach Steigerungen. Wird die Begierde nicht gesättigt, so tritt eine verzweifelte Erschöpfung ein, die dem Menschen seine eigene Lebenszeit hassenswert erscheinen lässt und daher Langeweile genannt wird.

Mechanistisch betrachtet ist die Langeweile das Warnungssignal, das dem Menschen in die Ohren bläst: er sei zeitweilig ausgeschaltet aus dem allgemeinen Werben und Walten, und das ihn zum Zwang der Arbeit oder des Genusses antreibt.

Die Arbeit selbst aber ist nicht mehr eine Verrichtung des Lebens, nicht mehr eine Anpassung des Leibes und der Seele an die Naturkräfte, sondern weitaus eine fremde Verrichtung zum Zweck des Lebens, eine Anpassung des Leibes und der Seele an den Mechanismus. Denn mit Ausnahme der wenigen freien Berufe, deren Wesen ungeteilt und Selbstzweck ist, der künstlerischen, wissenschaftlichen und sonsthin schöpferisch gestaltenden Arbeit, ist der mechanisierte Beruf Teilwerk. Er sieht keinen Anfang und kein Ende, er steht keiner vollendeten Schöpfung gegenüber; denn er schafft Zwischenprodukte und durchläuft Zwischenstufen. Auch er kann angepassten Naturen eine absolut erscheinende Befriedigung gewähren, insbesondere da, wo er mit Vorrechten und Befugnissen winkt; im allgemeinen aber trägt er seine Belohnung nicht in sich, sondern hinter sich, er verlangt nicht sowohl Liebe als Interesse.

Mit der Abkehr des Berufes von der Natur zur Mechanisierung haben sich weitere Änderungen seines Wesens vollzogen.

Zum ersten; der alte Beruf war gegründet auf Erfahrung und Erlernung. Der Sohn vollbrachte im Kreislauf des Jahres, was der Vater im Kreislauf des Jahres vollbracht hatte. Der Alte hatte die längere Übung, er hatte mehr Zwischenfälle erlebt: so war er geschulter und weiser. Zu ihm blickte man auf, er war Autorität. Was das junge Geschlecht zum Ererbten hinzufügte, war freiwilliger Tribut an die langsam sich ändernde Meinung der Zeit, nicht Not und Zwang.

Wollte heute einer sein Land bestellen, seine Schuhe fertigen, seine Schnittware verkaufen, wie es ihn seine Vorfahren gelehrt, er wäre bald mit seiner Weisheit am Ende; könnte er sie bei seinen wechselnden Zwischenfällen um Rat fragen, er erhielte falsche Auskunft. Er muss wie ein Fechter der launischen Mechanisierung ins Auge schauen, ihre Finten parieren, ihren Stößen zuvorkommen. Er muss planen, erfinden, nachahmen, ausprobieren, um sich zu erhalten. Den Begriff der Autorität versteht er nicht mehr, und Respekt hat er nur da, wo er Erfolg sieht.

Zum zweiten. Der Nachbar von ehedem ist der Konkurrent von heute. Selbst die Landwirtschaft unterliegt der Konkurrenz, obwohl der Feind jenseits der Grenzen, ja des Meeres wohnt. Die Arbeit ist nicht mehr allein ein Ringen mit der Natur, sie ist ein Kampf mit Menschen. Der Kampf aber ist ein Kampf privater Politik; das verfänglichste Geschäft, das vor weniger als zwei Jahrhunderten von einer Handvoll Staatsmännern geübt und gehütet wurde, die Kunst, fremde Interessen zu erraten und den eigenen dienstbar zu machen. Gesamtlagen zu überschauen, den Willen der Zeit zu deuten, zu verhandeln, zu verbünden, zu isolieren und zu schlagen: diese Kunst ist heute nicht dem Finanzmann allein, sondern in gewahrtem Verhältnis dem Krämer unentbehrlich. Der mechanisierte Beruf erzieht zum Politiker.

Deshalb hält der Berufsmensch sich für befähigt, nicht nur die eigenen, sondern auch die Angelegenheiten der Gemeinschaft zu beurteilen, zu beraten und notfalls zu verwalten. Er findet sich nicht mehr in den Gedanken einer über ihm schwebenden, von der Gottheit inspirierten und ihr allein verantwortlichen Erbweisheit; patriarchalische Fürsorge empfindet er nicht wohltuend, sondern kränkend.

Zum dritten. Der Beruf ist ernst und lehrt Sorgen. Niemand nimmt sich des Irrenden, des Fallenden an; der Mann trägt in seiner Hand sein bürgerliches Schicksal und das der Seinen. Eine Verkennung der Zeit, ein Nachlassen der Kräfte, ein unheilbarer Mangel der Ausbildung, eine Handlung der Leidenschaft: und das Gebäude langer Arbeitsjahre stürzt ins Nichts. Deshalb empfindet der Mensch seine eigene Verantwortung, aber auch die seines Nächsten. Er steht der Allgemeinheit mit einem starken Anspruch an Recht gegenüber und mit einer entschiedenen Meinung des für ihn Wünschenswerten. Er ist schwer zu behandeln, schwer zu überzeugen, denn er fühlt sich in allen Dingen, die ihn von fern oder nah angehen, als neue Kategorie: als Interessent.

So wird in der Schule des Berufes der Mensch seltsam gemodelt. Mag ihm die Arbeit eine Freude sein, so ist nicht mehr die Freude des Schaffens, sondern des Erledigens. Eine Aufgabe ist gelöst, eine Gefahr ist beseitigt, eine Etappe gewonnen: nun zur nächsten und zur folgenden. Die Zeit eilt, die Konkurrenz treibt, die Ansprüche wachsen, da bleibt nicht viel zu sinnen, sich des Erschaffenen zu freuen, es mit Liebe zu betrachten und zu verschönern; genug, wenn es strengen, allgemein formulierten Ansprüchen genügt. Der Erfolg liegt nicht in der Vollendung, sondern in der Erweiterung; zehnmal, hundertmal das gleiche Produkt wiederholen, in kürzester Zeit, mit möglichster Ersparnis, das bringt Nutzen. Die Arbeit wird extensiv, wie die Produktion es geworden ist; die glückbringende Arbeit ist die, welche sich vervielfältigt.

Die Arbeit aber wird mehr und mehr vergeistigt. Kaum daß sich die Hand bewegt, eine Zahlenreihe zu schreiben, eine Schraube zu verstellen; je teilnahmloser die Gliedmaßen ruhen, desto erregter arbeitet das Gehirn. Und doch ist es mit ruhigem Nachdenken nicht getan; Angst, Begierde, Leidenschaft müssen wirken, damit nichts vergessen, nichts versäumt, nichts verloren werde.

Diese Spannung erträgt der Mensch, dessen Großvater Hans Sachs oder der Müller von Sanssouci oder der Pastor Schmidt von Werneuchen gewesen ist. Von der Flut zusammenhangloser Eindrücke bestürmt, zwischen Langeweile und Interesse eingespannt, eilig, rastlos, sorgenvoll und überbürdet, leidenschaftlich aber lieblos wirkend, zehrt er von Geist und Seele, um einen Tag zu leben; und ist der Tag verlebt und verbracht, so verfällt er der Erschöpfung, die nicht Ruhe, sondern Genüsse verlangt.

Die Genüsse des Berufsmenschen sind ebenso extensiv wie seine Arbeit. Der Geist, nachzitternd von den Erregungen des Tages, verlangt in Bewegung zu verharren und einen neuen Wettlauf der Eindrücke zu erleben, nur daß diese Eindrücke brennender und ätzender sein sollen als die überstandenen. In Worte und Töne sich zu versenken, ist ihm unmöglich, weil die Gedankenflucht des Schlaflosen ihn durchfiebert. Gleichzeitig pochen die gequälten, unterdrückten Sinne an ihre Tore und verlangen Berauschung. So werden die Freuden der Natur und Kunst mit Hohn ausgeschlagen, und es entstehen Vergnügungen sensationeller Art, hastig, banal, prunkhaft, unwahr und vergiftet. Diese Freuden grenzen an Verzweiflung, sie erinnern an die Freier Homers, die beim Herannahen des Schicksals blutiges Fleisch lachend verzehren, während die Tränen ihnen über die Wangen laufen. Ein Sinnbild entarteter Naturbetrachtung ist die Kilometerjagd des Automobils, ein Sinnbild der ins Gegenteil verkehrten Kunstempfindung das Verbrecherstück des Kinematographen.

Aber selbst in diesen Tollheiten und Überreizungen liegt etwas Maschinelles. Der Mensch, im Gesamtmechanismus Maschinenführer und Maschine zugleich, hat unter wachsender Spannung und Erhitzung sein Energiequantum an das Schwungrad des Weltbetriebes abgegeben. Ein rauchender Motor ist kein beschauliches Arbeitstier, das sich unter freiem Himmel weiden lässt, man schmirgelt ihn ab, schmiert ihn, feuert den Kessel, und schon stampft der eiserne Fuß mit neuen Kräften seinen Zyklopentakt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1