Die treibenden Kräfte

Unter dem Bilde des Interesses haben wir die Willensform erblickt, die den mechanistischen Menschen durch das Gewirr der Bindungen hindurch von Mittel zu Mittel zu den Zielen leitet, die zu erstreben er sich berechtigt und befähigt glaubt. Freilich weicht die Fata Morgana vor seinem Nahen unablässig zurück, denn sein inneres Leben ist von Strebungen so durchsetzt, daß der Wille unbewusst zum Selbstzweck geworden ist. Dies drückt sich von innen, aus der Seele des Menschen betrachtet, so aus, daß das jeweils Erreichte nach dem Bismarckschen Worte „auch nichts ist“. Denn in der mechanistischen Welt darf kein Ziel erreichbar sein; sie bedarf aller Kräfte bis zum letzten Atemzuge, um ihren Wirbel zu beschleunigen, und straft den entsprungenen Sklaven mit Not, Vergessenheit, Langeweile oder vorschnellem Altern.

Damit nun die Besessenheit des Strebens im Menschen nicht erlahme, bedarf es unerschöpflicher Triebkräfte. Die materiellen Appetite, Hunger und Liebe, reichen nicht aus, denn auch die weitesten Ansprüche ihrer Üppigkeiten sind zu sättigen. Die ideellen Motoren, Pflicht, Schaffensfreude, Wissensdrang, Vervollkommnung, Ausflüsse der transzendenten Liebe, lassen sich nicht wissentlich in den Dienst einer materiellen Weltordnung stellen. So musste die banalste und rätselhafteste aller Leidenschaften, der Ehrgeiz, zur Verstärkung der bewegenden Mechanisierungskräfte ins Ungemessene gesteigert werden.


Banal ist diese Leidenschaft, wenn man in ihr nur den Inbegriff der am Durchschnitt sich messenden und darüber hinausstrebenden Appetite erblickt; rätselhaft wird sie, wenn man alle materiellen Begierden abspaltet und erkennt, daß dennoch etwas übrigbleibt, das sie alle an Heißhunger und Nachhaltigkeit übertrifft. Dies Etwas ist das Streben nach Geltung, und zwar ohne Hinblick auf die mittelbaren Vorteile, die aus ihr erwachsen können, vielmehr lediglich nach Geltung selbst, nach Anerkennung, Bewunderung, Beneidung. Dies Streben darf nicht verwechselt werden mit dem wesentlich seltneren, dem Schaffensdrang verwandten Willen zur Verantwortung und somit zur Herrschaft. So war Napoleon in diesem eitlen Sinne nicht ehrgeizig, wenn auch höchst herrschsüchtig; am Urteil der Menschen lag ihm nur da, wo er ihrer bedurfte; Gesetze und Organisationen ihnen vorzuschreiben, war ihm wichtig. Die Krönung in Notre Dame, der erhabenste Traum des Histrionen, war ihm ein lästiges Theaterspiel, die Ausarbeitung des Code civil ein hohes Glück.

Rätselhaft ist der abstrakte Ehrgeiz deshalb, weil alle Bewunderung der Maske gilt und von der Maske zum Träger kein inneres Band der Identität führt. Die Huldigung bleibt die gleiche, auch wenn sie den Wagenlenker für den Triumphator hält, denn sie gilt einem beliebigen Leichnam. Rätselhaft ist ferner der wahnsinnige Wille zur Abhängigkeit, der Sturz in die Knechtschaft der fremden Meinung. Diese Leidenschaft lässt sich nur erklären aus atavistischen Gefühlsreihen von Zurücksetzung, die ihre Umkehrung auszulösen streben, und aus der ererbten Furcht vor Menschen, die sich ihres Gegenstandes zu entledigen, womöglich zu bemächtigen sucht, nun aber, da sie sich ihrer selbst nicht entledigen kann, als Furcht vor Meinungen endet, da sie zuvor Furcht vor Handlungen gewesen war.

Diese krankhafte Psychologie unterdrückter Geschlechter, die den Schwerpunkt außerhalb der Persönlichkeit legt und das innere Gleichgewicht des Menschen aufhebt, war dem germanisch freien Stammeswesen unbekannt. Germanisches Selbstbewusstsein, Unabhängigkeitsgefühl und Herrentum ist uns überliefert, germanischer Ehrgeiz und Eitelkeitshang ist undenkbar; wie denn eine Reihe von Merkmalen schlechthin als Indikatoreigenschaften der Urrassen angesehen werden können: vor allem Unwahrhaftigkeit, Eitelkeit, Neugier und Verkleinerungslust.

Im absoluten Ehrgeiz hat die auftauchende Unterschicht sich ihre leitende Begierde geschaffen. Daneben aber hat sie einem der ursprünglichen Appetite eine veränderte, die mechanistische Bewegung gewaltsam fördernde Form gegeben.

Die Freude am überflüssigen Besitz ist alt und allgemein menschlich, wenn sie gleich bei edleren Rassen gemindert, bei edleren Individuen fast verflüchtigt erscheint. In ihrer primitiven Form verlangt sie nach Handgreiflichem, Glänzendem; Dingen, die zieren, schmücken, die anziehen oder Neid erregen. In entwickelter Form nähert sie sich der fanatischen Freude am Ordnen, Verwalten und Schaffen.

Die Mechanisierung musste von der niederen Form der Besitzesfreude ausgehen, die zum geistigen Inventar der Unterschicht gehörte; sie trieb diese Leidenschaft empor, indem sie eine nie geahnte Fülle von Produkten ihrer Begierde entgegenhielt, und erzeugte so den beispiellosen Warenhunger, der mittelbar und unmittelbar mehr als die Hälfte der Weltarbeit verbraucht. Das Kaufen und Kaufenkönnen ist zumal das Glück der Frauen. Und da Maschine und Manufaktur unabsehbare Mengen von Surrogaten des Naturgenusses und von Surrogaten dieser Surrogate liefern, nach Herzenslust geschmückt und staffiert — denn den Mechanismus kostet es nichts, mit einem Handgriff alle Formen der belebten Welt auf das nüchterne Material zu prägen — , so ergänzt und erneuert sich alljährlich das ungeheure Warenlager des menschlichen Besitzes. Wie die Eroberer des Pekinger Kaiserpalastes bis an die Knie in seidenen Stoffen wateten, so stampft der erwerbende Mensch durch Ströme von Waren, mit denen ihn keine eingewohnte Liebe zum Gerät verbindet, und er lässt Ströme von Abfällen hinter sich zurück. Wir lesen vom Reichtum einer griechischen Stadt und bedenken nicht, daß im Hause des Bürgers nichts anderes zu finden war als ein paar Tische und Betten, ein Dutzend Tongefäße, Decken und vielleicht ein kupferner Kessel. Die jährlichen Abgänge einer unsrer bürgerlichen Wohnungen sind umfangreicher als dieser ganze klassische Besitz.

Ehrgeiz und Warenhunger arbeiten sich in die Hände. Der eine zwingt den Menschen, sich immer fester in das Joch der Mechanisierung einzupressen; er steigert seine Erfindungskraft, seinen produktiven Willen. Der andre erhöht sein Verbrauchsbedürfnis und lässt ihn doch gleichzeitig empfinden, daß nur ein emsig schaffendes Organ die Lust des Kaufens dauernd genießen darf.

Die Summe der beiden Haupttriebkräfte aber steigert sich zu einem Gesamtwillen, der entschiedener als irgendeine andre Erscheinung die Seele unsrer Epoche kennzeichnet, indem er ihr den Stempel des nach außen gerichteten Strebens aufprägt. Diese Übermacht des substantiellen Willens über die Seelenkräfte, dieses Zweckmenschentum, das dem Wesen furchthafter Stämme entspringt, setzt die okzidentale Rassenverschiebung in das hellste Licht psychologischer Betrachtung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1