Das politische Ideal

Dass das politische Ideal unserer Zeit, soweit es auf die Verhältnisse der Völker zueinander sich bezieht, im Nationalismus zu suchen ist, mag auf den ersten Blick befremden. Denn das Netz der Mechanisierung ist international: niemals waren die Völker einander so nahe, niemals haben sie der Wechselwirkung so sehr bedurft, einander so viel besucht und so gut gekannt. Da aber der Nationalismus als Zentralgedanke sehr jung, kaum mehr als hundertjährig die Politik beherrscht, da er, aus bewusstem Gegensatz zum Kosmopolitismus des Aufklärungsalters entstanden, gemeinschaftlich mit der Mechanisierung aufgewachsen ist, so muss sein Ursprung wo nicht im Wesen, so doch in den Modalitäten der Mechanisierung begriffen werden.

Indem wir nun das Paradox zu erklären suchen, wie die fortschreitende Homogenisierung und Angleichung der Völker ihren Willensausdruck in die Betonung der relativen Gegensätzlichkeiten stellen konnte, müssen wir uns erinnern, daß die Hochperiode der Mechanisierung die europäische Welt in einem Augenblick tiefster politischer Zerklüftung überrascht hat. Vereinigt standen zu Anfang des letzten Jahrhunderts die leitenden Mächte Frankreich gegenüber, so wie sie in etwas veränderter Konstellation seit Ende des Jahrhunderts Deutschland gegenüberstehen. Das, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat, ist seit Philipps und Alexanders Tagen in der Weltgeschichte nicht erhört worden: ein armes, mäßig bevölkertes, politisch verwahrlostes Land erhebt sich innerhalb dreier Menschenalter zum begütertsten, volkreichsten, kriegerisch gefürchtetsten im Kreise der europäischen Völker. Die Geschichte betrachtet noch immer, obwohl sie es leugnet, die politischen Ereignisse als die primären und erblickt in den drei preußischen Kriegen das Moment der Erhebung. Es tut der Größe der Menschen und ihrer Taten keinen Abbruch, wenn erklärt wird, daß ohne die Mechanisierung Deutschlands der Zuwachs an Volk und Reichtum, ohne ihn die Erhebung nicht möglich war, die ihrerseits dann abermals auf die Mechanisierung mächtig rückgewirkt hat. Das XIX. Jahrhundert gehört, trotz des Ausbaus der englischen Kolonialmacht, den Deutschen und Amerikanern, und beiden aus wirtschaftlichen Ursachen: den Amerikanern, weil sie das reichste Land der Erde erschlossen, den Deutschen, weil sie der bürgerlichen Intelligenz ein angepasstes Arbeitsfeld gewannen.


Moderne Kriege sind im Völkerleben das gleiche, was Examina im bürgerlichen Leben sind, Befähigungsnachweise. Den Befähigungsnachweis als Großmacht hat Preußen mit deutscher Hilfe erbracht; der Befähigungsnachweis als führende Wirtschaftsmacht Europas wird Deutschland über lang oder kurz von den wetteifernden Nationen aufgezwungen werden. Im Vorgefühl dieser Abrechnung ist nicht nur alles Kriegsspiel unserer Zeit, sondern auch alles Wirtschaftsspiel Rüstung. Jede neue Industrie und jede neue Handelsverbindung ist ein Gegenwert von Bataillonen. Alle Politik ist Wirtschaftspolitik, Kriegsbereitschaft.

Dies bedeutet der Nationalismus unserer Zeit, der somit eine Reaktion auf die ungleichmäßige Verteilung der mechanistischen Vorteile darstellt.

Wiederholen wir kurz den Kreisprozess: Im Augenblick heftigen Zwiespalts wird den Völkern eine Wirtschaftsform aufgezwungen, die eigentlich für geeinigte Völker bestimmt ist. Getrennt bildet man sie aus; es zeigt sich, daß eine bevorzugte Nation die unvergleichlich größten Vorteile zieht, weil sie die besten Voraussetzungen besitzt. Diese Nation erhebt sich aus politischer und wirtschaftlicher Nichtigkeit zum bestimmenden Faktor und besiegelt diese Stellung mit dem Schwertknauf. Der Moment zur wirtschaftlichen Einigung ist verpasst; die friedliche Konkurrenz wird zur wirtschaftlichen Rüstung, und die Nationen stehen feindlicher als zu Beginn der Epoche einander gegenüber.

Der letzte Schritt, die Überleitung des nationalistischen Empfindens aus dem politischen Bewusstsein in das bürgerliche, ging bewusst von Deutschland aus, und zwar von der politisch herrschenden Klasse, die ihre Interessen von der Mechanisierung nicht genügend gefördert sah und daher kein Bedenken trug, ihr den internationalen Boden zu entziehen. Durch den deutschen Schutzzoll wurde der private ausländische Konkurrent getroffen, und indem er sein eigenes Land zu Vergeltungen drängte, nährte er bei sich selbst und seinen Landsleuten gleichzeitig das nationale Bewusstsein und die Abneigung gegen den Rivalen; beides zuerst im wirtschaftlichen, dann überwiegend im politischen Sinne.

So will es scheinen, als sei der Nationalismus, in seiner Eigenschaft als Brotfrage, für alle Zeiten verankert. Er ist es nicht, denn das Widersinnige ist nicht von Dauer.

Es braucht wohl nicht ausgesprochen zu werden, daß der Name des Nationalismus hier nicht als Gleichsinn des Wortes Patriotismus genannt wird, daß vielmehr unter jenem Begriff die Tendenz verstanden ist, die Nationen in ihren Lebensfunktionen abzusondern, ihre Vergesellschaftung zu hindern. Auch in dieser Bedeutung bleibt der Nationalismus in seiner Urform berechtigt: es darf einer Nation nicht zugemutet werden, fremder Sprache, fremdem Glauben, fremder Kultur und fremder Obrigkeit sich zu fügen; das Weltcäsarentum hat seine Berechtigung verloren, und ein absoluter Kosmopolitismus wird als politisches Ideal schwerlich wiederkehren. Indessen ist es durchaus denkbar, daß die staatlichen Organisationen über den Rahmen des Staates hinaus einen unvergleichlich weiteren Ausbau erfahren, als bisher durch völkerrechtliche, schiedsrichterliche und postalische Vereinbarungen geschehen. Denn dies ist der Mechanisierung und der Natur gemeinsam, daß ihre Organisationen nach dem Großen wie nach dem Kleinen hin, nach innen wie nach außen ins Unendliche wachsen. So wie Zellen zum Leibe, Individuen zu Landesverbänden, Landesverbände zu Reichen sich zusammenschließen, so wird eine engere Vergesellschaftung der Reiche unausbleiblich sein; und in dem Maße, wie sie fortschreiten, wird es fraglich werden, was das wünschenswertere ist; wenige große Komplexe locker gefügt, oder viele kleine Komplexe fest gefügt und eng vereinigt. In diesem Sinne ist das Deutsche Reich ein glücklich gestalteter Organismus, der um so dauerhafter sein wird, je mehr er seinen Teilen größtmögliche Freiheit individuellen Lebens erhält.

Die Entfesselung aus den Banden des Nationalismus aber wird nicht sowohl durch Kongresse und Schiedsverträge geschehen, als durch wirtschaftliche Verständigungen. Vielleicht werden die ersten Schritte zu Zollvereinigungen führen, und es wäre mehr gewonnen, als durch Bündnisse sich erreichen lässt, wenn nach mehreren Seiten hin die deutschen Zollgrenzen verschwänden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1