Das Ideal des staatlichen Aufbaus

Das Ideal des staatlichen Aufbaus im Sinne der Mechanisierung ist der Verwaltungsstaat. Sosehr die Bezeichnungen des Regierens und der Regierung uns vertraut sind, so kann doch nicht geleugnet werden, daß die Zahl und Mannigfaltigkeit der Interessen und Bedürfnisse innerhalb einer mechanisierten Gemeinschaft den wahren Begriff des Regierens, die Leitung einer Menge durch überlegenen Willen und überlegene Einsicht zu vorbestimmten Zielen, nahezu aufgehoben hat. Der Begriff der Verwaltung hingegen kennzeichnet sich als Ausgleich berechtigter Interessen durch bestimmte Instanzen, wobei allerdings gewisse praktische und ideelle Endziele vorschweben können; jedoch dürfen diese auf die Dauer nicht außerhalb der Linie liegen, die der Schwerpunkt der anerkannten Interessen ohnehin beschreibt. Dem Einzelnen steht die Verwaltung tatsächlich, der Gemeinschaft nur scheinbar als regierende Obrigkeit gegenüber, und ethnologische Verschiedenheiten finden nur insofern statt, als die Gesamtheit in einem Falle vorwiegend initiativ, im anderen Falle vorwiegend prohibitiv ihren Willen zur Geltung bringt. Freilich sind die sozialen Gruppen mit verschiedener Stärke an der Instrumentation des Gesamtwillens beteiligt, und man kann sagen, daß in fast allen älteren Kulturstaaten die früheren absoluten Gewalten, Adel und Klerus, eine gewisse Vormacht sich erhalten haben; so ist Österreich ein ausgesprochen kirchlich, Preußen ein ausgesprochen aristokratisch verwaltetes Land.

Auch die monarchischen Gewalten haben im Verwaltungsstaat ihre Bedeutung behalten, zum Teil erhöht. Der größere Teil der europäischen Staaten bestellt aus Monarchien, und es darf behauptet werden, daß das republikanische Ideal des XVIII. Jahrhunderts dahinschwindet. Dies ist im Sinne der Mechanisierung durchaus folgerichtig; denn es besteht ein berechenbarer Vorteil darin, an der höchsten Spitze der Verwaltung, dort, wo die leiseste Willensregung im Abstieg zur Peripherie die heftigsten Bewegungen auslösen kann, Angehörige eines Hauses zu wissen, das, allen bürgerlichen Interessen seit Menschenaltern und für alle Zukunft enthoben, seine Existenz mit der des Staates gleichzusetzen gelernt hat. Aufgabe der Verfassung ist es dann, die noch verbleibenden menschlichen Schwächen — von denen eigentlich nur Eitelkeit zu fürchten ist — so weit zu neutralisieren, daß eine Einseitigkeit der Entscheidungsfunktionen vermieden wird. Vorzüglich haben Greise und Frauen sich als verwaltungsstaatliche Souveräne bewährt. '


Falsch wäre es, zu folgern, daß im mechanisierten Staatswesen die persönliche Willenswirkung des Monarchen sich verflüchtigt. Sie wird aber um so machtvoller sein, je mehr er sich entschließt, allen äußeren Interessen und Einflüssen fernzustehen. Der Parteimonarch ist im modernen Staate unmöglich; der Klassenmonarch setzt sich Rückschlägen aus und schädigt seine Autorität; der gänzlich uninteressierte Monarch, der seine Existenz auf die Gesamtheit der Nation stützt, wird dasjenige Organ des Staatsgehirns bedeuten, das in Analogie der transzendenten Willensfreiheit des Individuums den Zweifel besiegt und den Charakter bestimmt. Als Ausdruck dieser irdischen Uninteressiertheit ist denn auch die Idee einer Gottesverantwortung wohl verständlich, wobei freilich leicht eine Verwechslung von persönlichen Wünschen mit göttlichen Inspirationen sich ereignen kann. So wäre angesichts dieses mystisch klingenden Wortes die Erinnerung an ein friderizianisches mit einer kleinen Variante statthaft: daß Gott im Kriege hinter den stärkeren Bataillonen und im Frieden hinter den wichtigeren Interessen steht.

Im Gegensatz zur monarchischen Autorität ist die politische Vormacht des Adels im Absteigen, denn sie findet in der mechanistischen Gesellschaft keine reale Stütze, vielmehr wetteifernde Mächte. Der preußisch-deutsche Aristokratismus, der ungebrochenste in Europa, ist aus Gründen, die wir gestreift haben, durch preußische Verfassung und Verwaltungstradition gewährleistet und somit auch für die nähere Zukunft ausreichend verankert. Preußen verdankt ihm viel, denn er hat einen Beamten- und Offizierskörper herangebildet, der an praktischem Idealismus, Mut und Pflichttreue alle Hierarchien des XIX. Jahrhunderts überstrahlt und von dem sinnlich schwer fassbaren Vorgang, daß eine höher organisierte Oberschicht ein ganzes Volksleben zu kontrollieren vermag, uns ein vollkommenes Bild gibt.

Obwohl der preußische Adel die Kraft bewährt, aus kleiner Menschenzahl viele und bedeutende Talente zu prägen, ist seine Veranlagung nicht eigentlich intellektuell. Seine großen Vorzüge beruhen auf einem unbeirrbaren Sinn für das Ehrenhafte, einem scharfen Blick für das Praktisch-nützliche, auf Mut, Ausdauer und Genügsamkeit. Ehrgeiz, Streben nach Verantwortung, Freiheit des Gedankens, Erfindungskraft, Anpassungsfähigkeit sind nur seinen größten Talenten eigen, dem Durchschnitt fremd.

Solange daher unter einfacheren und langsamer wechselnden Verhältnissen die Verwaltungstätigkeit etwa nach Art der Gutswirtschaft erlernt und auf traditioneller Grundlage patriarchalisch ausgeübt werden konnte, blieb der preußische Regierungsadel unübertroffen. Dass er neuen Gedankenformen und Arbeitsmethoden gegenüber teilnahmlos auf der Überlieferung beharrte, war 1806 sein Schaden, 1849 sein Vorteil. In dem Maße nun, wie die mechanistische Weltwirtschaft ganze Gebiete der Staatsverwaltung in reine Geschäftsbetriebe verwandelte, der Wechsel der Anschauungen und Aufgaben ein tägliches Umlernen, ein beständiges Erfinden forderte, zeigte es sich, daß zwar die alten Eigenschaften noch immer höchst schätzbar und unverkürzt vorhanden waren, daß aber der vorzüglichste Menschendurchschnitt nicht immer ausreichen konnte zur Lösung vorgangloser Aufgaben und zur Konkurrenz gegen die stärksten Talente des Auslandes.

Denn inzwischen war im Auslande, insbesondere in England und Frankreich, einigermaßen auch in Österreich, Russland und Italien, bewusst oder unbewusst die Erkenntnis durchgedrungen, daß oberste Verantwortlichkeiten nur von entschiedenen Talenten getragen werden dürfen, und daß es für Millionenstaaten keine Entschuldigung gibt, wenn diese Talente nicht aufgefunden werden. So haben sich ohne Zutun der Gesetzgebung als Folge einer freieren Praxis in jenen Staaten selbsttätig wirkende Selektionsmethoden von größter Verschiedenheit herausgebildet, die aber alle darin übereinstimmen, daß sie die Talente des Landes aus den Millionen der Mindergeeigneten aussieben, an die Oberfläche tragen und den Verantwortungen zuführen, für die sie von Natur bestimmt sind. Solche selbsttätige Selektionsmethoden zu erläutern ist hier nicht der Platz; es genügt zu bemerken, daß Preußen sie nicht kennt, und somit darauf angewiesen ist, aus hundertfach kleinerem Material nach veralteter Übung die Rekrutierung seiner ersten Geschäftsführer vorzunehmen. So fällt denn die doppelt erschwerte Aufgabe der Entdeckung höchster Begabungen drei Königlichen Kabinetten zu, und es kann kommen, daß bei gesteigerten Ansprüchen an Vermögen, Herkunft, Repräsentation und Glanz der Persönlichkeit die schwersten Verantwortungen in Krieg und Frieden nicht immer auf den stärksten Schultern ruhen. Es ist ein schönes Zeichen der Festigkeit des preußischen Gefüges und der Brauchbarkeit des aristokratischen Durchschnitts, daß bisher erst auf zwei Gebieten vorwiegend geschäftlicher Art, freilich auch entscheidender Wichtigkeit, die Mängel des Systems offenkundig geworden sind: im Kolonialwesen und in der auswärtigen Politik. Grundsätzliche Mängel eines Aufbaues können auf die Dauer nicht ohne Gefahren bleiben; es ist zu hoffen, daß es nicht allzu schwerer Erschütterungen bedarf, um sie zu beseitigen, und daß nicht eine allzu heftige Reaktion das Gute mit dem Fehlerhaften vernichtet und uns in die Arme des Amerikanismus treibt.

Ein weiterer Mangel in der Anpassung des preußischen Verwaltungsstaates an die herrschende Mechanisierung ist zu erwähnen. Mechanistische Geschäfte erfordern zwar einen gewissen Opportunismus im Anschluss an den Wechsel der Erfordernisse und die Ansprüche des Tages, der Sieg aber steht dem zu, der durch die Klippen des Augenblicks steuernd den Fernpunkt eines weit erspähten Zieles nicht aus dem Auge verliert. In parlamentarischen Staaten ist das Fernziel Erbteil einer führenden Partei, somit eines Volksteiles. Ministerien wechseln und sterben aus; das Parteiziel bleibt erhalten, und der scheidende Politiker ist zufrieden, wenn er auch nur einen Fußbreit sich ihm nähern konnte, in dem Bewusstsein, daß sein Genosse oder er selbst dereinst berufen sein wird, die Arbeit fortzusetzen. In der Ruhezeit verfolgt das Staatsschiff den Kurs der Gegenpartei, berührt andere Inseln und bleibt doch bereit, die ununterbrochene Fahrt von neuem aufzunehmen. So entsteht eine politische Tradition, eine Politik der Diagonale und die Möglichkeit, Aufgaben zu stellen und zu lösen, die Jahrzehnte erfordern.

In Preußen beschränkt sich die ministerielle Lebensdauer auf wenige Jahre. Der Minister kann keiner Partei angehören, denn er muss die Fiktion vertreten, daß die vom Parlament unabhängige Regierung sozusagen im Absoluten wurzelt; somit kann er sich auf eine Parteitradition nicht stützen. Hegt er dennoch weitausschauende Pläne, so wird er doppelt Bedenken tragen, sich und seinen Stab ihnen zu widmen: denn er selbst wird die Verwirklichung nicht erleben, und sein Nachfolger wird vielleicht damit beginnen, das mühsam gelegte Fundament so gründlich zu zerstören, daß kein Späterer Lust findet, es zu erneuern.

Deshalb fehlt es im preußischen Deutschland trotz aller Tradition der Verwaltung, seit Bismarcks Abgang an politischer Tradition, an politischen Ideen und an politischer Langatmigkeit. Da auch dieser Fehler in der Konkurrenz der Staaten sich geltend zu machen beginnt, zumal in dem Sinne, daß unsere außenpolitischen Ziele stark zusammengeschmolzen sind, so wird die Abhilfe nicht mehr lange auf sich warten lassen.

So müssen wir am Schluss dieser Zwischenbetrachtung fast mit Erstaunen die paradoxe Tatsache feststellen, daß Preußen-Deutschland, das führende Land der europäischen Mechanisierung, das viel gefürchtete und viel bewunderte Land der Technik, das stärkste Industrieland der alten Welt, das Land der erfolgreichsten Geschäftsleute, sich in seiner politischen Ordnung den einmal gegebenen Verhältnissen der Mechanisierung so wenig angepasst hat — und zwar ohne Überlegenes an ihre Stelle zu setzen — , daß es weder seine öffentlichen Geschäfte selbst verwaltet, noch eine ausreichende Zahl von Talenten für entscheidende Verantwortungen aufbringt, noch klare und bedeutende politische Ziele besitzt, noch auch — wie wir leider hinzusetzen müssen — dem Auslande gegenüber jederzeit den Einfluss ausüben kann, der einem Verteidigungsaufwand von zwei Milliarden und der stärksten Territorialarmee aller Länder und Zeiten entspricht.

Dies Bild eines Staatswesens, das sich gegen das mechanisierende Ideal zu wehren sucht, ist für unsere Betrachtung doppelt lehrreich. Einmal, weil es zeigt, welche gewaltigen Kräfte die Mechanisierung aufzubringen vermag, um Widerspenstige zu bändigen. Schon heute befindet sich das altpreußische Herrschaftswesen in einem labilen Gleichgewichtszustand ähnlich dem zu Beginn des XIX. Jahrhunderts, und es ist nur eines zu hoffen: daß der zögernde Abbau, der sich in diesen Jahrzehnten vollzieht, nicht durch Katastrophen überstürzt wird.

Sodann ist es wichtig, festzuhalten, daß der gegenwärtige antimechanistische Verwaltungszustand Preußens in letzter Linie einem Rest von Abhängigkeitsbedürfnis der ehemals unterdrückten Volksschicht seine Erhaltung verdankt. Dieses Abhängigkeitsbedürfnis äußert sich in absolutem Sinne in der Lust, durch Befehle, Verbote, Anweisungen, Ermahnungen, Ausschließungen, Privilegien dauernd geleitet und beschränkt zu werden; es äußert sich in relativem Sinne in der Verehrung und Bewunderung, die ohne bewusste Kenntnis der Ursache dem anerkannt edleren Blute, dem ausgesprochenen Herrentume gezollt wird.

Das Rudiment vormechanistischer Empfindungsweise, das hier zutage tritt, führt uns zurück zu der Übersicht der zeitgenössischen Ideale, die wir soeben beendet haben.

Die Mehrzahl dieser Bilder trägt noch die Züge, die der älteren Empfindungswelt angehören; um so ausgeprägter, je weiter wir uns aus dem Mittelgebiet des Mechanisierungskampfes nach uninteressierten Regionen hin entfernen. Ausgesprochen altertümlich erscheint das körperliche und das menschliche Ideal, ausgesprochen neuzeitlich das wissenschaftliche, politische und staatliche. Es gleicht auch hierin das Gesamtbewusstsein dem Bewusstsein des Einzelnen, daß abseits der interessierten Geistessphären sich vorzeitliche Reste gemütlicher, harmloser, kindlicher und abergläubischer Empfindungen erhalten, die aufgesogen werden in dem Maße, wie das Interessenbewusstsein sich verdeutlicht und ausdehnt. Denn ein der Menschheit nicht gerade schmeichelhaftes Gesetz scheint zu bestimmen, daß die uninteressierte Überzeugung sich allmählich der interessierten Überzeugung anpasst; mit anderen Worten, daß die Überzeugung nicht dauernd den Interessen widersprechen kann. Weshalb es denn auch von jeher verdienstvoller und erfolgreicher war, die Menschen von falschen Interessen zu befreien, als von falschen Meinungen.

So kann es nicht befremden, in den Träumen der Mechanisierung eine gemeinsame Tendenz zu erblicken, die der philosophische Geist überwunden wähnt: das Streben nach dem ausschließlich Vernünftigen. Noch immer gehört unser waches Leben der Aufklärung, dem Rationalismus: wie könnte es anders sein in einer Zeit, die uns beweist, daß Furcht stärker ist als Mut, Fleiß stärker als Kraft, Klugheit stärker als Träume? Einer Zeit, die beständig das Wort im Munde führt: daß sie weiß, was sie will, und den Erfolg als Gesetz betrachtet?

Wir müssen anerkennen, daß niemals, solange die irdische Menschheit besteht, eine Weltstimmung so einheitlich einen so ungeheuren Kreis von Wesen beherrscht hat, wie die mechanistische. Ihre Macht scheint unentrinnbar, denn sie beherrscht die Produktionsquellen, die Produktionsmethoden, die Lebensmächte und die Lebensziele: und diese Macht beruht auf Vernunft.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1