Das Blut

Wollen wir uns die Wandlungen vergegenwärtigen, die dem Naturell des westlichen Menschen in den letzten Jahrhunderten beschieden waren und die noch erstaunlicher sind als die Veränderungen seiner Umwelt und seines Lebens, so müssen wir uns daran erinnern, daß ein Rassen Wechsel, die Aufzehrung einer Oberschicht mit dem Verdichtungs- und Mechanisierungsprozess Hand in Hand ging. Ja, es bestand zwischen diesen Erscheinungen eine doppelte, zum Kreislauf geschlossene Kausalverbindung: die Verdichtung brachte den Rassenwechsel hervor, und der Rassenwechsel allein konnte die Voraussetzungen der entfesselt fortschreitenden Verdichtung schaffen, die Mechanisierung der Produktion, der Gesellschaft und des Lebens. Denn die germanischen Herren des Abendlandes waren unfähig, diesen Prozess heraufzuführen, unfähig selbst, ihn zu erleiden. Der Strenge und Schönheit nördlichen Waldlandes wo nicht entstammend, so doch durch Jahrtausende verbunden, von der Seligkeit des Kampfes mit Natur und Geschöpfen erfüllt, froh in der Kraft und Freiheit des Leibes, nichts verehrend als das Mutvolle, das Unberührte und Überirdische, ein Volk von heiterem Ernst, von kindlicher Männlichkeit, unschlauer Klugheit, träumender Wahrheitsliebe, der Tat geneigt, dem Tun abhold, so traten sie auf die Bühne der Welt, als Schicksal der Antike und als Herren einer neuen Zeit.

Als Herren und Freie blieben sie Krieger und Landleute, und wo wir heute noch ihre Überlebenden erblicken, da sind sie ihrem alten Wesen treu geblieben, der Mechanisierung nicht oder widerstrebend gefolgt, nirgends ihre Förderer gewesen. Selbst da, wo sie unentrinnbar in neuzeitliches Getriebe verstrickt wurden, haben sie den Mechanismus in eine stillere Sphäre eingeschlossen; ein holsteinischer Kramladen wird sachlicher, zweckfreier und ungeschäftlicher geleitet als eine amerikanische Kirche.


Denn einer reinen furchtlosen Natur ist das Zweckhafte fremd. Die Furcht erspäht hinter den Dingen Gefahren und Hoffnungen, sie flüchtet in die Zukunft, indem sie die Gegenwart vernichtet. Der Muthafte lässt sich die sinnliche und übersinnliche Gegenwart genügen, er respektiert die Dinge, liebt sie um ihrer selbst willen und benutzt keine Kreatur als Mittel. Die Mechanisierung aber ist auf Zweckhaftigkeit aufgebaut. Ihr ist keine Handlung und kein Gegenstand Selbstzweck; jedes Organ dient dem Gesamtprozess, und der Gesamtprozess dient dazu, neue Organe zu schaffen. Jeder Moment ist, für sich genommen, wertlos, aber von der heißen Arbeit erfüllt, die Reihe der wertlosen Momente zur Ewigkeit auszudehnen.

Das mechanistische System konnte nicht von diesen Menschen aufgebracht werden, die in ihrer Unmittelbarkeit es kaum erfassten, die es ungern erlitten und in ihm die höchste Gefährdung ihrer Herrschaft, ja ihrer Existenz gar bald erblickten. So haben sie dieses System bis auf den heutigen Tag bekämpft; gegen Städte, Stände, Konstitutionen, Demokratien, Verkehr, Handel und Industrie haben sie sich mannhaft gewehrt, und noch jetzt bedeuten alle konservativen Programme nichts weiter als Umschreibungsformeln des unbewussten Willens gegen die Mechanisierung.

Um diese emporzutreiben, bedurfte es Menschen geringeren Schlages, Unterdrückte und Emanzipierte. Sie mussten aus der Knechtschaft die Gewohnheit der Arbeit mitbringen und das Stigma der Geduld, das unentbehrlich ist für jeden, der durch Lernen intellektuelle Schätze sammeln soll. Handfertigkeiten besaßen sie von Ursprung an, denn die Schwächeren waren von je auf Werkkünste angewiesen; grüblerisch und erfindungsreich wurden sie, weil Furcht ihre Stärke aus der Überlegung sammelt. Auch hatten sie gelernt, sesshaft und in umfriedeten Räumen ihr Wesen zu treiben, das späterhin zur Stubenarbeit wurde, Arbeitsteilung kannten sie. Reden, Verständigen, Überzeugen waren ihre Gegenmittel gegen Gewalt gewesen. Neugierde, Wissensdurst, geistige Beweglichkeit hatte ihnen beständig genützt, Wahrheitsliebe nicht immer; die Zähigkeit des Willens und die Lust am Besitz war gestählt durch die Unablässigkeit der Gegenkräfte, die harte Gleichförmigkeit des Druckes. In Lebensansprüchen gemäßigt, in Genüssen nicht wählerisch, ohne Transzendenz, in Leidenschaften heiß, nicht tief, ohne Bösartigkeit, aber rachsüchtig und des Hasses kundig: so trugen sie den Marschallstab des mechanistischen Menschen im Tornister.

Dass ungermanischer Geist für die Gestaltung der Moderne verantwortlich ist, hat mancher unwillige Denker dem Volksgewissen ins Ohr geraunt, doch stets in der Meinung, zu entarteten Germanen zu sprechen. So suchte man nach einem Ferment und entdeckte es im Judentum. Der Antisemitismus ist die falsche Schlussfolgerung aus einer höchst wahrhaften Prämisse: der europäischen Entgermanisierung; und somit kann derjenige Teil der Bewegung, der Rückkehr zum Germanentum wünscht, sehr wohl geachtet und verstanden werden, wenn er auch die praktische Unmöglichkeit einer Volksentmischung verlangt.

Die Lehre von der semitischen Gärung hat jüngst ein geistvoller Nationalökonom in anziehender Weise mit einer Art verdrießlicher Bewunderung des schuldigen Teils entwickelt, indem er das Neuzeitwesen auf den Kapitalismus, den Kapitalismus auf das Judentum zurückführt. Er denkt also im Ernst daran, dem kleinen Volksstamm, dem die Welt die Hälfte ihres Gesamtbesitzes an religiöser Transzendenz schuldet, nun auch die Summe der materiellen Lebensordnung gutzuschreiben. Der Irrtum liegt in der Verkennung der Tatsache, daß Kapitalismus, so gut wie Technik, Wissenschaft, Verkehr, Kolonisation, Städteentwicklung oder Weltpolitik, nur Einzelerscheinungen der Grundfunktion bedeuten, die in der Verdichtung und ihrer Selbstbehauptung, der Mechanisierung, liegt. Die Betrachtung der Einzelfunktionen mag entwicklungsgeschichtlich Bedeutendes zutage fördern; den inneren Zusammenhang enthüllt sie nicht. Wählt man einseitig eine der Einzelerscheinungen als Grundvariable, so laufen die übrigen als glückliche Zufallsergänzungen nebenher, und man muss es als eine Art prästabilierter Harmonie betrachten, daß die Geschichte der Erkenntnis, der Wissenschaft, der Entdeckungen jedesmal rechtzeitig die Errungenschaften lieferte, deren der Kapitalismus bedurfte. Am schwersten aber wird der Gärungstheorie der Nachweis fallen, daß durch bloße Einwirkung eines Fermentes aus taciteischen und karolingischen Germanen preußische Kaufleute, Fabrikarbeiter, Gelehrte und Beamte werden konnten. Die Gesamtheit der neuzeitlichen Umwälzung fordert zu ihrer Erklärung neben der Verdichtungswirkung den Rassenwechsel.

Wäre der Wechsel jedoch unvermittelt und von Grund auf erfolgt, so hätte er die mechanistische Zivilisation nicht gezeitigt. Das Volk bedurfte noch lange germanischer Geistesleitung und bedarf noch heute germanischen Einschlages. Dieser Beschränkung verdankt das geistige Leben Westeuropas, insbesondere Deutschlands, die Erhaltung seines transzendenten Inhalts, verdankt Kunst und Geisteswissenschaft ihre Freiheit und ihre Innerlichkeit, verdankt die Forschung ihre Aufopferung und Wahrheitsliebe, verdankt das Erwerbsleben seine Weitherzigkeit, das öffentliche Leben Unbescholtenheit, Hingebung, Mut und Treue. Genau in der Abstufung, in der vom Norden nach dem Süden, Südwesten und Südosten hin der germanische Einschlag sich abschwächt, verdunkeln sich die Eigenschaften, die er den Völkern einprägte. Skandinavien, England, Deutschland, Holland, das zisleithanische Österreich und die Schweiz bilden noch heute das Weltzentrum und die Schule der Kulturqualitäten, welche die gräkoromanischen Länder großenteils verloren, die übrigen niemals besessen haben. Den Vereinigten Staaten, die hinsichtlich ihrer Einschlagsverhältnisse dem europäischen Durchschnitt entsprechen, fehlt die Vorschule germanischer Oberherrschaft und Leitung, sie konnten daher zwar die mechanistische Zivilisation auf den höchsten Gipfel treiben; kulturbildende Kräfte sind ihnen nicht entstanden, wenn man auch in einer Nation von achtzig Millionen eine leidliche Anzahl kultivierter Menschen auftreiben mag. Die übrigen europäischen und europäisierten Länder haben sich den Mechanisierungsformen passiv, zum Teil verständnislos angepasst, ohne Neues hinzuzufügen. Die Kultur Japans ist eine orientalische; was an ihr europäisch erscheint, ihr Idealismus des Dienstes, ihre Naturliebe und Muthaftigkeit, entstammt der Herrschaft einer kriegerischen Oberschicht unbekannter Herkunft.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walther Rathenau Gesammelte Schriften - Band 1