Anna von Geierstein

Auf der höchsten Spitze eines Felsens, der sich, einer Pyramide gleich, aus der Tiefe des Tales erhob, erschien eine weibliche Gestalt, die jedoch so vom Nebel verhüllt wurde, dass nur die Umrisse sichtbar waren. Die Figur, welche sich in der Atmosphäre wiederspiegelte, schien eher einem Geiste, als einem sterblichen Mädchen anzugehören; denn ihr Körper schien so leicht und kaum weniger durchsichtig zu sein, wie die dünnen Wolken, welche den Felsen umgaben, worauf sie stand. Arthurs erster Gedanke war, die heilige Jungfrau habe seine Gelübde gehört und sei selbst herabgestiegen, um ihn zu erretten. Er war eben im Begriff, sein Ave Maria zu beten, als die Stimme ihn nochmals mit einem eigentümlich modulierten, hellschallenden Ton anrief, durch welchen die Bewohner der Alpen sich von einem Bergrücken zum anderen, über Schluchten und Abgründe einander verständlich machen.

Während er überlegte, wie er diese unerwartete Erscheinung anreden sollte, verschwand dieselbe von dem Platze, welchen sie zuerst eingenommen, wurde jedoch gleich darauf wieder auf dem Felsen sichtbar, in welchem der Baum wurzelte, auf dem Arthur Zuflucht gesucht hatte. Ihr Aussehen so wie ihre Kleidung verrieten bald, dass sie eine Tochter dieser Gebirge und bekannt mit deren gefährlichsten Pfaden sei. Er sah ein schönes junges Mädchen vor sich stehen, welches ihn mit einem Gemisch von Mitleiden und Verwunderung betrachtete.


Anna von Geierstein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Walter Scotts Mädchen und Frauen