§ 01. Gleichsetzung des Menschen und der Pflanze. Verschiedene Formen dieses Glaubens.

§. 1. Gleichsetzung des Menschen und der Pflanze. Verschiedene Formen dieses Glaubens. Wir wenden uns zunächst der Betrachtung einer Reihe germanischer, lettoslavischer und keltisch-romaniseher Anschauungen und Bräuche zu, welche uns darüber belehren, wie und in welcher Weise der Gedanke, dass die Pflanze beseelt sei, in Bezug auf die Bäume weiter und in mannigfachen Formen bis zu so völliger Gleichstellung mit den Menschen himausgesponnen und entwickelt wurde, dass die einen so zu sagen als vollendete Doppelgänger der andern auftreten. Schon im anthropogonischen Mythus nehmen wir eine Art solcher Gleichsetzung wahr; eine andere äußert sich in der Behandlung des Baumes als persönliches Wesen. Die Identifizierung erstreckt sich zuweilen sogar auf eine imaginäre Verschmelzung der Körperlichkeit von Mensch (oder Tier) und Pflanze, und führt zu der Annahme, dass der Baum der Körper einer durch den Tod dem Menschenleibe entrückten Seele, der Wohnsitz mehrerer Elfen oder eines Schutzgeistes sei, der wiederum kaum von einem alter ego des Menschen zu unterscheiden sein möchte. Zuweilen führt die Baumseele oder der Baumgenius auch ‚schon ein Leben außer dem Baumleibe in Sturm und Unwetter, in Wald und Feld. Da wir die in diesen Überlieferungen sehr scharf und deutlich zu Tage tretenden Verhältnisse später einmal vorzugsweise zum Verständnis von Korngeistern vergleichend zu nutzen gedenken, gestatten wir uns hier bereits gelegentlich von selbst aufstoßende Übereinstimmungen der Baumsage mit dem an das Getreide geknüpften Volksglauben vorzumerken. Und auch das möge .den Leser nicht stören, wenn er (da sich ein anderer Platz dazu nicht eignete) in die Darlegung des Baumglaubens nordeuropäischer Stämme nicht ganz selten auch einzelne Analogien aus fernen Ländern und Weltteilen eingeflochten findet. Es geschähe gegen unseren Willen, wenn durch Schuld dieser Einschaltungen das Bild des nordischen Baumeultus sich in einen verschwimmenden Allerweltsnebel auflösen würde. Wir stimmen vollkommen den goldenen Worten Th. Mommsens zu (Röm. Chronologie): „das über die Kluft der Nationen hinweggerichtete Auge erfaßt nur allzuleicht der Schwindel und man vergißt den wahren und hauptsächlichsten Grundsatz aller historischen Kritik, dass die einzelne historische . Erscheinung zunächst im Kreise der Nation, der sie angehört, geprüft und erklärt werden soll und erst das Resultat dieser Forschung als Grundlage der internationalen dienen darf.“ Insofern es sich aber bei unseren Zusammenstellungen zunächst noch nicht um die Darlegung irgend welcher historischen Verwandtschaft, sondern um die Beschreibung von Typen handelt, so bedienen wir uns desselben Vorteils, den etwa der Botaniker genießt, wenn er die Koniferen Europas und Amerikas miteinander vergleichen kann. Die Beobachtung gewisser gleicher Eigenschaften bei beiden macht klar, dass dieselben zum Wesen der Gattung gehören. Gleichartigkeit der Vorstellungen über den nämlichen Gegenstand in zwei verschiedenen Zonen lässt zumeist auf eine gewisse psychologische Notwendigkeit derselben schließen und die eine erläutert die andere. Nur als ein solches die Natur und den Sinn der nordeuropäischen Traditionen durch Analogie erläuterndes Material wünscht der Verfasser Einschiebsel aus der Fremde betrachtet zu sehen.