Waisenpflege und Waisenkinder in Berlin

Autor: Zelle, Robert (?) Stadtrat in Berlin, Erscheinungsjahr: 1867
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Berliner Waisenkinder hat es gegeben, so lange die Stadt steht; allein aus den ältesten Zeiten sind fast gar keine Nachrichten über sie vorhanden. Bekanntlich hatte die ganze Armenpflege des Mittelalters in der Kirche ihren Ausgangspunkt und ihren Halt. Kirchliche Stiftungen sind namentlich die Hospitäler, von denen das Heiligen-Geist- und St. Georgen-Hospital unter dem Namen „Armenhöfe“ schon im 13. Jahrhundert genannt werden. Ein Armenhof scheint auch das Gertrauten-Hospital gewesen zu sein, dessen Kapelle 1405 gestiftet ist. Im Jahre 1484 endlich entstand, als Grundlage des späteren Hospitales, die Jerusalem-Kapelle, welche ein Berliner Bürger des noch heute in Berlin reichlich blühenden Namens Müller zum Andenken an seine Wallfahrt ins gelobte Land errichtet hatte.
Von der näheren Einrichtung und Benutzung der Hospitäler oder Armenhöfe wissen wir wenig. Vielleicht sind mit den anderen Kranken und Armen auch arme Waisenkinder darin verpflegt worden. Bei der Waisenhauskasse wird noch heute ein s. g. Bürgerwaisenfonds verwaltet, von dessen Ursprung und Bestimmung fast nichts mehr aus den Akten erhellt. Nur so viel ist zu ersehen, dass in alter Zeit aus den Zinsen drei Waisenkinder von der Hausmutter des Heiligen-Geist-Hospitales zu verpflegen waren.

Eine Erwähnung der Waisenkinder in den vielen geistlichen Stiftungen, die im Mittelalter zu Berlin errichtet wurden, ist nicht überliefert. Wohl aber pflegten die Brüderschaften und die Zünfte, in welche sich die Handwerksmeister abschlössen, für Witwen und Waisen ihrer verstorbenen Mitglieder zu sorgen. Eine geregelte Armenpflege im heutigen Sinne war überhaupt damals nicht vorhanden. Anstatt dessen findet sich das als Regel, was heute von der Verwaltung bekämpft und von den Gerichten bestraft wird: das Betteln. Für die grauen und schwarzen Mönche in Berlin war das nicht bloß von der Kirche erlaubt, sondern es galt als Ehre und Beruf. Der Spruch der Minoriten hieß:

„Der Minorit soll nit studier,
Der Bettelsack ist seine Zier.“

Almosensammeln ist unser Erbe, hatte ihnen der heilige Franciskus vorgeschrieben, ist die Gerechtigkeit, die uns Christus erworben, es ist unsere königliche Würde. Keiner schäme sich zu betteln, ihr müsst dreist fordern.

Nach dem Vorbilde der damals höchsten Autorität bettelte denn auch frisch und frei, was sonst Bedarf hatte. Ja, das Betteln wurde privilegiert. Bürger, die ihre Habe durch Feuersbrunst verloren hatten, erhielten einen förmlichen Schein von ihrer Stadtbehörde, um im Lande auf den Brand zu betteln, und den Waisenkindern scheint schon in alter Zeit der Vorzug gegönnt zu sein, dass sie bei Hochzeitsschmäusen erscheinen und Gaben einsammeln konnten. In dem Bestätigungsbriefe der Berliner Kalands-Brüderschaft oder Elendsgilde sagt der Bischof von Brandenburg 1344, viele Heimatlose und schwache Priester hielten sich ohne Unterhalt, Obdach und fast von aller menschlichen Hilfe verlassen auf den Kirchhöfen von Berlin und Kölln auf, wo sie vor Hunger, Durst und Kälte fast umkämen. Auch sonst wird uns berichtet, dass fahrende Schüler und Arme auf diesen Kirchhöfen ihren Wohnplatz aufschlugen. Man dürfte kaum fehlgreifen, wenn man die große Menge der damaligen Berliner Waisenkinder des Nachts auf dem Nicolaikirchhof aufsucht, wie sie sich im Grase der Gräber zum Schlafen kauern, und bei Tage auf den kotigen Straßen, wie sie den Mönchen, Greisen und armen Weibern den Rang im Betteln abzulaufen suchen. Es wird mit diesen Kindern in Berlin nicht viel anders gewesen sein, als mit denen zu Homers Zeit, die der Dichter so rührend beschreibt.

Siehe, der Tag der Verwaisung beraubt ein Kind der Gespielen;
Immer senkt es die Augen beschämt mit Tränen im Antlitz.
Darbend geht das Kindlein umher zu den Freunden des Vaters,
Fleht und fasst den einen am Rock, den andern am Mantel;
Aber erbarmt sich einer, der reicht ihm das Schälchen ein wenig,
Dass er die Lippen ihm netz' und nicht den Gaumen ihm netze.
Oft verstößt es vom Schmaus ein Kind noch blühender Ältern,
Das mit Fäusten es schlägt und mit kränkenden Worten es anfährt!
Hebe Dich weg! Dein Vater ist nicht bei unserem Gastmahl! —
Weinend geht von dannen das Kind . . .

Mit der Reformation ist eine bessere Ordnung in das Berliner Armenwesen gekommen. Schon der Visitationsrezess vom 15. August 1540, betreffend die neue Einrichtung des evangelischen Gottesdienstes in Berlin, nimmt sich der Sache an, namentlich durch Feststellung einer allgemeinen Armenkasse, des s. g. Gemeinen Kastens. „Es soll“, heißt es, „der Rat den Gemeinen Kasten mit etlichen geschickten Vorstehern versorgen, die jeden Feiertag in der Kirche mit dem Säcklein umgehen und der gemeinen Armut zu Gute bitten sollen.“ Auch mehrere geistliche Stiftungen, namentlich Altarlehen, fielen dieser Armenkasse anheim, die nun bis 1695 den Mittelpunkt der öffentlichen Armenpflege bildete.

Daneben spendete der Magistrat außerordentliche Gaben für Arme und Notleidende, und hier finden wir auch die Waisen ausdrücklich erwähnt. Im Jahre 1555 weisen die Rechnungen der Kämmereikasse 7 Findlinge und Waisen auf, die meist zu 2 Gulden pro Vierteljahr in Pflege ausgetan wurden. 1569 erhielt Frau Barbara 6 Gulden für das Saugen eines gefundenen Kindes. 1571 wird für ein Waisenkind außer 6 Gulden noch 1 Scheffel Roggen bewilligt. Nach und nach findet sich auch freie Bekleidung erwähnt, und selbst der pädagogische Teil der Waisenpflege ist in einem Rechnungsposten von 1574 nachgewiesen, wo 1 Groschen 6 1/2 Pfennige für ein ABC-Büchlein verzeichnet stehen. Wo die Kinder untergebracht wurden, ist selten erwähnt. Zuweilen werden Gerichts- und Rats-Diener genannt, welchen auch Gefangene und Bettler zur Aufbewahrung übergeben zu werden pflegten.

Übrigens war die Bettelei mit dem Visitationsrezess und der Einrichtung des Gemeinen Kastens noch keineswegs abgeschafft. Nur den „starken, faulen“ Bettlern sollte das Betteln untersagt und die fremden sollten aus der Stadt verwiesen werden. Für die übrigen wurden die, schon 1486 verordneten, Bettelzeichen bewilligt, die sie zur Legitimation am Hut oder an dem, aus grober Leinwand gefertigten Schleier zu tragen hatten. Eins vom Jahre 1587, dessen Abbildung erhalten ist, zeigte, von Messingblech geprägt, in der Mitte den nach rechts schreitenden Bären1) mit dem Halsbande und trug die Umschrift: Gebet den Armen zu Berlin.

Fast alle 5 Jahre mussten neue Edikte wider die fremden Bettler und Landstreicher, Pracher, Landsknechte und losen Buben erlassen werden. 1596 stellte der Rat von Berlin und Kölln eine neue umfassendere Bettel- und Armen-Ordnung fest, deren Vorschriften ein ganzes Jahrhundert hindurch wesentlich maßgebend blieben. Hierin wird auch der Waisen- und anderer armer und verlassener Kinder gedacht. Die Mägdlein sollen zur Weibsarbeit, insonderheit zum Spinnen, Nähen und Wirken angehalten, und wenn sie stark genug geworden, für Kindermägdlein in der Stadt oder auf den Dörfern vermietet werden. Den Knaben sollen die Vorsteher des Armenkastens die Fibeln und andere Bücher ankaufen, und hernach, wenn sie beten lernen, sollen sie in die Currende eingenommen werden. Diese Currendeknaben, heißt es weiter, sollen auf den Gassen nach der gewöhnlichen Ordnung die Responsoria, auch deutsche Psalmen, von 10 — 11 Uhr singen, das Brot in Körben, das Geld in verschlossenen Büchsen sammeln, welches ihnen monatlich distribuirt werden soll. Zu dem, was sie in den Körben bekommen, ist aus dem Einkommen der Schulen wöchentlich Brot zuzulegen. Auch Mittwochs Nachmittags, wenn sie in den Schulen veniam haben, dürfen sie auf den Gassen und vor den Türen figural singen. Das eingesammelte Geld wird vom Rector distribuirt oder zum Ankauf von Büchern und Papier verwendet. So soll auch, wird ferner bestimmt, denselben Schülern, so in der Cantorei sind, insonderheit zugelassen sein, auf Hochzeiten, nach Gelegenheit der Hochzeitsgäste, in jedem Gemach, da Mannspersonen sitzen, ein Stück oder vier zu singen, und was sie an Gelde erhalten, in die Büchsen zu stecken, und wenn sie ausgesungen, wieder davon eilen, dass sie desto zeitiger wieder in die Schule kommen und ihres Studiums warten können, nicht aber, wie oft geschieht, in den Hochzeiten bleiben, sich voll saufen, auch wohl neben anderen gebetenen Gästen tanzen und andere Üppigkeiten treiben. Welche solches tun, sollen vom Herrn Rektor nicht allein darum castigiret werten, sondern auch ihres Anteils am ersungenen Gelde verlustig gehen.

Die Verordnung erwähnt sodann der armen Schüler, „so keine Herberge haben“, und weist die Bettelvögte und Totengräber an, die Mägdlein und Jungen, welche nicht in die Schule gehen, und vor den Türen liegen und betteln, wegzujagen, und da sie sich nicht packen wollen, mit den Peitschen, die ihnen die Räte geben werden, abzutreiben. Gebrechliche Kinder sollen ein Bettelzeichen erhalten, vorn an der Brust auf ihre Mäntel zu heften, auf dass sie Sonntags von 10 Uhr an, wenn die Predigt aus ist, bis 12 Uhr, in der Woche aber Dienstags und Donnerstags auch um die Zeit, und keine andere Tage mehr, vor den Türen Almosen erbitten dürfen.

Man sieht, das ist noch immer, selbst für die Kinder, die organisierte Bettelei. Auch die Currende ist nichts anderes. Dies kann nicht Wunder nehmen für das 16. und 17. Jahrhundert. Eher wird man sich verwundern dürfen, dass es Leute gibt, die noch heute den Spuk der blassen, frierenden, plärrenden Currendeknaben uns auf die Höfe treiben.

Der große Churfürst machte vergebliche Versuche, das Berliner Armenwesen zu verbessern. Der dreißigjährige Krieg hatte die Bevölkerung von 12.000 Einwohner auf 6.000 ruinierte, physisch und moralisch ausgemergelte Wesen heruntergebracht. Nach 1670 betrug die Zahl nur 8.150, stieg aber dann schnell bis zum Jahre 1690 auf 21.500. Auch Wohlstand und Energie kehrten allmählich zurück, und so konnte Churfürst Friedrich III., der nachherige erste König, eine neue Organisation des Berliner Armenhauses durchsetzen. Er schuf 1695 für die vereinten Städte Berlin, Kölln, Friedrichswerder, Dorotheen- und Friedrichsstadt eine neue Armenkasse, die noch heute unter dem Namen „Haupt-Armen-Kasse“ besteht. 1699 ernannte er eine ständige Armen-Behörde unter Direktion der Staatsminister, woraus das nachmalige Armen-Direktorium und die heutige Armen-Direktion hervorgegangen ist. Und über dem Eingang des großen Waisenhauses in der Stralauerstraße lesen wir noch jetzt die Inschrift: „Das große Friedrichs-Hospital, unter der gesegneten Regierung Friderici primi, König in Preußen u. s. w. gestiftet und erbaut 1702.“ Der Name zeigt, dass das Gebäude, welches mit Kirche, Hinter- und Nebengebäuden 1727 vollendet wurde, anfänglich nicht ausschließlich für Waisenkinder bestimmt war. Es sollten vielmehr auch Invalide, Arme, Bettler, Kranke, Gebrechliche, Krüppel und Preßhafte dort aufgenommen werden, nicht zu vergessen die Arbeitsscheuen und Geisteskranken. Von diesen heißt es in einem Schreiben der Armen-Deputierten von 1699: „wir haben keinen Ort in allen hiesigen Residenzien, in welchem wir die Faulen, starken Bettler zur Arbeit anhalten können, viel weniger wissen wir, wohin wir die irren und wahnsinnigen Leute, welche öfters zum hässlichen Spektakel auf der Straße herumlaufen, bringen und sie verwahren sollen.“ Das Gebäude war also Waisen-, Kranken-, Arbeits- und Irrenhaus zu gleicher Zeit. Auch können, heißt es in der Hausordnung von 1702, Eltern ihre Kinder zur Züchtigung dem Armenhause übergeben, welche dann auf ihre Unkosten erhalten, und nach befundenen Umständen entweder apart in der Stille gehalten, oder an einen Klotz geschlossen werden, mit welchem sie bei den anderen Waisen in die Schule, zur Arbeit und zum Essen gehen müssen.

Auf das Wort Arbeit ist übrigens hier ein stärkerer Ton zu legen, als auf Schule und Essen. Mit beiden letzteren Dingen ging man sparsam um. Die Kinder müssen verdienen und sich erhalten helfen. Sie stehen den größten Teil des Tages unter den zu ihrer Beschäftigung angenommenen Rasch- und Strumpfmachern, die sie streng zur Arbeit anhalten müssen. Von Erholungsstunden ist sehr wenig die Rede. Das Haus war für die Kinder mehr eine Arbeitsstätte, als ein Erziehungs-Haus. Während nach heutigen Begriffen neben den Beamten nur für 300 Kinder darin Platz wäre, erreichte die Zahl der Bewohner schon 1728 die Höhe von 608. Es steht fest, dass damals je 2 Kinder in einem Bette zusammen schlafen mussten. Die Zahl der Kranken stieg im Hause auf 22%, und es starben in dem Einen Jahre dort 102 Personen. 1717 waren unter 176 Waisenkindern, die in jener gemischten Gesellschaft aufbewahrt wurden, 134 Soldatenkinder. 1719 stellten die Kommissarien vor, dass das Haus mit diesen fast gänzlich angefüllt würde. Aber der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. antwortete höchsteigenhändig: „Sie sollen unterhalten 300 Soldatenkinder; fournituren, nämlich Betten und Bettgestelle, Kleidung, Haus- und Tischgerät für so viel Kinder sollen sie machen lassen. Ich bezahle. Die Kost soll's Hospital bezahlen.“ Und im nächsten Jahre schrieb er: „Ich hoffe mit der Zeit 500 Kinder zusammen zu kriegen. Das Geld wird mir der liebe Gott bescheren.“

Die Kassenrechnungen ergaben übrigens, dass von Anfang an neben der Anstalts-Pflege auch Kost-Erziehung der Waisen bestand. Schon sofort nach Stiftung der neuen Armenkasse, 1696, wurden 26 bürgerliche und 17 Soldatenwaisen bei „guten Leuten“ verdungen, und nachdem 1701 das Waisenhaus 98 Kinder aufgenommen hatte, blieben noch 32, die jüngsten, in Kost. Bald gewährte man auch armen Witwen auf ihre Kinder aus der Armen-Kasse ein regelmäßiges Pflegegeld.

Schon vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden nach und nach die Irren, Arbeitsscheuen, Kranken, in andere, neu gegründete Anstalten untergebracht. Gegen Ende des Jahrhunderts starben die letzten armen alte Leute aus, die neben den Waisenkindern im Friedrichs-Hospital Aufnahme gefunden hatten. Von jetzt an war das Haus ausschließlich Waisenhaus (und hieß auch ausschließlich so), bis 1859 die Kommunalbehörden die Waisenanstalt nach Rummelsburg verlegten. Nun ward der größere Teil des Gebäudes den Hospitaliten des Arbeitshauses eingeräumt. In dem anderen blieb, neben Beamtenwohnungen und den Bureaux für die Waisenverwaltung, das s. g. Depot, bestimmte Lokalitäten, die zur ersten vorläufigen Aufnahme sämtlicher der städtischen Waisenpflege anheimfallender Kinder dienen.

Die Rummelsburger Anstalt liegt südöstlich von Berlin, nur 20 bis 30 Minuten vom Stralauer oder Frankfurter Tore entfernt. Frisch und freundlich erheben sich ihre Häuser zwischen Buschwerk und Bäumen, Gartenland und Rasenplätzen. Grünes Ufer am blauen Rummelsburger See; drüben Spreeinseln und die bekannten und vielbesuchten Dörfer Stralau und Treptow; im Osten die große Haide, die sich bis zur Stadt Köpenick hinzieht.

Die Anstalt, nur durch eine niedrige Hecke begrenzt, ist von allen Seiten frei zugänglich. Auf den ersten Blick glaubt man, ein Terrain vor sich zu haben, auf dem eine Kolonie Sommerhäuser angesiedelt ist. In der Mitte dieser Häuser erhebt sich das Hauptgebäude, in welchem die Kirche, der Saal für Feierlichkeiten, und die Wohnungen für den Direktor, den Arzt, den Prediger und den Hausvater befindlich sind. Außerdem haben die Mädchen der Wirtschaftsabteilung dort ihren Schlaf- und Arbeitssaal. Nach dem Willen der Kommunalbehörden werden nämlich die Rummelsburger Mädchen nicht schon mit 14, sondern erst mit 15 Jahren entlassen. Das letzte Jahr wird, neben Unterricht in zweien Klassen, dazu verwendet, sie in allen Hausarbeiten und im Kinderwarten zu üben. Zu Letzterem bietet sich reiche Gelegenheit durch die „Kinderstube“, welche, im nächstgrößten Gebäude befindlich, die Kinder bis zum schulpflichtigen Alter enthält. In demselben Gebäude liegt die Küche, die Waschküche, das Lazarett, die Station für chronisch kranke Kinder, das Badezimmer (für den Winter) und der Maschinenraum zur Bereitung des Dampfes und warmen Wassers für die Küchen und die Bäder. Die Häuser für die Kinder sind für Familien von je 50 eingerichtet, die unter einem Erzieher oder einer Erzieherin und deren Gehilfen oder Gehilfinnen stehen. 5 Knaben- und 2 Mädchen-Häuser existieren. Die Knaben werden in 5, die Mädchen in 2 subordinierten Klassen unterrichtet. Für den Turnunterricht bestehen Turnplatz im Freien und Turnhalle. Am See sind die Einrichtungen zum Schwimmunterricht für die Knaben, sowie ein Badehaus für die Mädchen vorhanden. Der große Rasenplatz, den die Häuser umkränzen, dient zum Spielplatz an Sommerabenden. Hier tummelt sich dann Alles, was in der Anstalt laufen kann, vom Direktor bis zu den kleinsten Insassen der Kinderstube. Pädagogen und Menschenfreunde haben viel gegen die Waisenhäuser geeifert. Am Heftigsten ist dieser Kampf gegen Ende des vorigen Jahrhunderts geführt worden. „Bei aller guten Aufsicht und Einrichtung“, sagt Meißner, „sind die Waisen-Häuser Mördergruben. Sie taugen samt und sonders nichts und haben kein anderes Verdienst, als dass sie ein Häuflein Kinder nicht verhungern lassen.“ Noch schärfer zieht der bekannte Salzmann zu Felde. „Waisenhäuser, wo arme elternlose Kinder auf Kosten des Staates erzogen werden sollen; — aber, mein Gott, welche Häuser, welche Erziehung! Eher wollte ich den Knaben der nächsten Zigeunerhorde anvertrauen. Wenn ich sie sehe, diese armen verlassenen Waisen, wie sie alle Jahre einmal an die Sonne getrieben werden, von einem barbarischen Kerl begleitet, den der Staat aus einem untauglichen Livree-Bedienten zum Vater der Kinder des gemeinen Wesens gemacht hat; wenn ich sie sehe, diese kalkweißen, ausgezehrten Gerippe, einer Herde Negersklaven ähnlich, die einem Europäischen Menschenmäkler zugeschleppt wird, — o, so blutet mir das Herz, und alle Lobpreisungen auf unsere Aufklärung kommen mir wie giftige Satyren vor. — Ein ganzes Herdchen von Kindern sah ich da, deren Versorger schon im Grabe moderten, die hier sollten versorgt werden, und doch so schlecht versorgt waren. Alle sahen bleich aus wie die Leichen, hatten matte, triefende Augen, kein Zug von Munterkeit war an ihnen sichtbar; einige hatten verwachsene Füße, andere verwachsene Hände. Die Stube war schwarz vom Öldampf, und an den Wänden flossen die Ausdünstungen herab, die diese Elenden von sich gaben. Sie waren auf ihre Arbeit so erpicht, dass unsere Gegenwart sie gar nicht störte, und alle ihre Arbeit war Spinnen! Mein Herz hätte springen mögen, wie ich sah, dass so viele Keime, die der Schöpfer gepflanzt, zerknickt, und diese Elenden in eine so schreckliche Lage versetzt werden, dass sie an Leib und Geist gebrechlich und klein werden müssen. Unterdessen dass andere Kinder springen, laufen, scherzen und in der Natur sich einen Schatz von Kenntnissen sammeln, sind diese Elenden an das Rad gefesselt, und der einzige Gegenstand ihrer Betrachtung ist — die Spindel. Jetzt schlug es elf. Der Informator gab das Zeichen zum Gebet. Sogleich standen sie alle auf und sangen ein Lied, wovon ich folgende Strophen behalten habe: Du schnöde Tochter Babylon zerbrochen und zerstört, wohl dem, der deine Kinder klein erfasst und schlägt an einen Stein, damit dein werd' vergessen.“

In Lübeck, Bremen und Hamburg wählte man zu jenen Zeiten meist einen alten Schiffer zum Erzieher und Aufseher der Waisen, der verarmt oder des Seelebens müde war; in Eichstädt 1785 den Kutscher eines Domherren; in Nürnberg wurde ein patrizisches Fräulein zur Dirigentin des Waisenhauses gemacht, um ihr eine Versorgung zu geben und sie in ihrem einsamen Stande zu trösten; in Hamburg ernannte man 1725 zu der Stelle sogar einen Züchtling, nachdem der Lehrer wegen zu kärglicher Besoldung davon gelaufen war.

Überall mussten, wie schon angedeutet, die Waisenkinder zum Profit der Anstalt arbeiten, in Potsdam beispielsweise 7, 8, 9 Stunden täglich. Man wirtschaftete mit den Kinderkräften unkluger als der Bauer mit den Pferden, der doch die jungen Tiere auswachsen lässt, ehe er sie einspannt. Selbst aus den Gesängen der Kinder wussten die Anstalten für sich Geld zu machen, indem sie den Glauben benutzten, dass solches Singen der Waisenkinder Leibes- und Geisteskrankheiten heilen könne. So findet sich in den Rechnungen des Nordhäuser Waisenhauses: „2 Groschen, hiermit ersuche ich Gott, mir doch dasjenige zu verleihen, worum ich so oft bete, 2 Gesänge; 1/2 Laubthaler wegen einer Jungfrau, die verläumdet worden, 7 Gesänge; 4 Groschen für einen Mann mit bösen Äugen; l Groschen um Befreiung von Zahnweh; 8 Groschen dass Gott dem Geber den heiligen Geist und Glauben schenke.“

Bei der Erziehung trat der Schul-Unterricht sehr in den Hintergrund. Desto sorgfältiger finden wir die Straf- und Zuchtmittel vorgesehen. Eine Verordnung von Frankfurt a. M. besagt: da die Knaben die bisherige Züchtigung mit der Karbatsche nichts achteten, sei beschlossen, sie mit Fußschellen zu schließen und mit Wasser und Brot auf einige Zeit zu speisen. Wo dies nicht half, kamen noch schärfere Mittel in Anwendung. „Eine Zuchtbank, dadurch der Züchtling Kopf und Arme stecken und also geschlossen werden kann, um solchergestalt gestrichen zu werden. Item, ein hoher Stock, daran der Zögling angebunden und gestrichen wird. Item, ein Bärenkasten, mit eitel scharfen Ecken, darinnen man nicht bequemlich stehen, liegen noch sitzen kann. Item, dunkle Gefängnisse unter der Erden, eins ärger als das andere.“

Die Zeit ist längst vorüber, wo man nicht wusste, ob man die Züchtlinge im Waisenhaus, oder die Waisen im Zuchthause suchen sollte. Solche Kummer- und Hunger-Anstalt, wie Salzmann sie beschreibt, wird heute in ganz Deutschland nicht mehr zu finden sein. Auch in Rummelsburg sucht man vergebens „kalkweiße, ausgezehrte Gerippe, Spinnräder und Bärenkasten.“ Im vorigen Sommer sagte ein Knabe: „ach, Herr Direktor, wie danke ich doch dem lieben Gott, dass ich keinen Vater und keine Mutter mehr habe.“ Dass die Kinder in Rummelsburg nicht verzärtelt und verwöhnt werden, versteht sich von selbst; aber ebenso versteht sich, dass man sie nicht zum Zwecke des Gelderwerbes arbeiten lässt. Die Kosten der Stadtkasse berechnen sich pro Kind und Jahr auf 115 Thaler.

Wo kommt nun das Material her, das die Rummelsburger Anstalt in Arbeit nimmt? In dem Stadtviertel, wo die Webstühle klappern, in der Gollnow- oder Weberstrahe oder im Grünen Weg, wo langst kein Grün mehr zu sehen ist, wohnt im Hinterhause drei Treppen hoch der Raschmachergesell mit seiner Familie. Der Vater geht Morgens früh auf Arbeit, die Mutter auf Aufwartestellen und zum Waschen, und der Junge nimmt seine „Schrippe“2) und geht zum Rinnstein. Der Rinnstein ist Alles, was Natur und Kunst ihm bieten. Am Rinnstein findet er im Frühjahr die „Kuten“3), um „Murmel“ zu spielen mit seinen barfüßigen Kameraden, im Rinnsteinrand pflanzt er die Erbse ein, die er seiner Mutter abgebettelt, in den Rinnstein baumelt er die Füße, wenn ein Gewitterregen entlang strömt, durch die Rinnsteinbrücke lässt er die Eierschale schwimmen, die er in der trüben Flut gefischt hat, im Rinnstein gründelt er nach dem Dreier4), den einem Gerüchte nach die Köchin aus dem Vorderhause hat hinein fallen lassen, auf dem Rinnstein macht er sich die Schlitterbahn zurecht, wenn ihm eines Wintermorgens die anderen Jungen entgegen rufen: es hält! es hält! Aber eines Tages kommt ein großer Junge mit einem leinenen Sack voll graßgrüner Äpfel und Birnen. Er erzählt von der Prenzlauer Chaussee, wo das Alles an den Obstbäumen wächst, wo man bloß zu schütteln braucht, aber wo auch ein Wächter postiert ist, der furchtbar zuschlägt, wenn er einen Jungen fasst. Dem hungrigen Sohne des Raschmachergesellen wassert der Mund und das Vagabundieren geht an. Da sagt eines Tages der Vater: „Mutter, wir werden alt und quälen uns, und der Junge läuft müßig herum; er soll mit verdienen; er soll auf den Rollwagen.“ Hier vertritt der Knabe fortan für 1 Silbergroschen täglich die Stelle des Hundes. In Hitze und Kälte, in Regen und Sonnenschein sitzt er hier zwischen Kisten und Fässern seinen Tag ab, unter dem souverainen Regimente des Rollknechtes, der den Wagen dirigiert und bald ein Stück Butterbrot austeilt, bald Prügel, wie es ihm seine Gemütsstimmung heißt. Eines Abends kann der Junge nicht einschlafen, weil die Mutter so sehr hustet. Der Vater sagt, sie hat sich zu viel getan bei der letzten Wäsche. Aber morgen Nacht ist wieder Wäsche. Darauf hustet die Mutter noch schlimmer; sie bleibt im Bette liegen, und nach 8 Tagen ist es mit ihr aus. Von da ab kommt der Vater später nach Hause, als sonst. Oft hört ihn der Junge vor sich hin murmeln, und ein Mal sieht er ihn taumeln, ehe er sich ins Bett wirft. Dem Jungen bangt's vor seinem Vater. Die Kammer riecht nach Branntwein, wenn er kommt. Eines Nachts findet er sich gar nicht ein. Er ist unterwegs gefallen und hat sich den Kopf zerschlagen, und nach 3 Tagen sagt ein Nachbar: er liegt in der Charité und er soll auch schon tot sein. Der Junge läuft hin und erfährt, es ist richtig. Er läuft zur Nachbarsfrau. „Futtern können wir Dich nicht, August, so gern wir möchten; wir werden selber nicht satt. Frage beim Kaufmann, wo der Armen-Direktor5) wohnt, dann kommst Du ins Waisenhaus.“

Ähnliche Vorstudien des Lebens haben die meisten Kinder gemacht, die nach Rummelsburg kommen; manche noch weit schlimmere; nicht bloß im Dunkel der Gollnowstraße und Hirtengasse, sondern unter den Augen des „gebildeten“ Publikums, in den Horden Jungen, die einem „Pietsch“ 6) nachlaufen und so schrillend pfeifen können, und am Schlosse, wo uns die kleinen Mädchen zum lieben Weihnachtsfeste Abends aus den Ecken entgegenrufen: einen Dreier das Schäfchen. — Der Knabe G. war 9 Jahr alt, als er der Anstalt übergeben ward, und hatte bis dahin nur seiner einäugigen und lahmen Mutter Lumpen sammeln geholfen. Zuerst spielte er den Schwerhörigen und wusste eine lange Geschichte von der Entstehung dieses Fehlers zu erzählen. Auch nachdem er hierbei entlarvt war, sprach er nie ein wahres Wort. Er aß und geberdete sich wie ein Tier; Nachts schlich er sich aus dem Hause, um rohe Kartoffeln und Kohlrübenschalen zu verschlingen, die er draußen vergraben hatte. „Unreinlich und gefräßig, sagt der Bericht der Direktion, ist er ganz wie ein Affe. Diesem Tiere gleicht er auch an possenhafter Frechheit, sobald man irgend in mildem Tone zu ihm spricht. Es wurde auch der Versuch gemacht, ihn einem ernsten und zuverlässigen Knaben zur beständigen Beachtung beizugeben; aber diesen wusste er fortwährend zu überlisten. Er stiehlt, wo und wie er kann.“ — Auch über die Mutter wird geklagt. Sie kam härtnäckig in die Anstalt und lärmte und zankte mit den Erziehern, weil diese nicht zugeben wollten, dass sie ein Geheimmittel bei dem Knaben in Anwendung brächte. Sie behauptete nämlich, bei Gelegenheit seiner Taufe habe einer der Paten in den Schmutz getreten. Hiervon stamme die Unreinlichkeit des Knaben her, die sie nun vermittelst irgend einer Manipulation mit einem Schweineschwanze kurieren wollte. — Fünf Jahre nachher wird G. konfirmiert entlassen. Er hat es bis zur 3. Klasse gebracht, und sein Abgangs-Zeugnis lautet durchgängig gut. Er bildet, sagt die Direktion dabei, ein erfreuliches Beispiel, wie aus einem ganz vertierten, unsäglich lasterhaften Kinde unter gehöriger Zucht und Pflege ein ordentlicher, verständiger und brauchbarer Mensch werden kann. Er sollte zu einem Klempner in die Lehre kommen, aber hier war noch eine eigentümliche Schwierigkeit zu überwinden. Der Kontrakt musste mit dem Vormunde abgeschlossen werden, den der Meister erst nach vielen Bemühungen ermitteln konnte. Er fand ihn endlich, wie er berichtet, im s. g. Todtschlag bei der Jungfernhaide, auf einem Heuboden logierend. Zum Herunterkommen war er nicht zu bewegen, und noch entschiedener lehnte er jeden Gang nach der Stadt ab, da er weder Rock, noch Weste, noch Stiefel besitze, und sich so in der Stadt nicht könne sehen lassen. So war der Vormund des Knaben G. beschaffen, der nun schleunigst durch einen andern ersetzt wurde. —

Der Schuhmachergesell D. war schon lange vor seinem Tode ein verlorner Mann. Krank und arbeitsscheu schleppte er sich als Bettler umher. Seine beiden Töchter nahm er mit sich von Dachkammer zu Dachkammer, und wenn er exmittiert wurde, in den Friedrichshain unters Gebüsch. Ein Mal vergaß er sie Morgens in einem Kartoffelfelde. Als er gestorben war, kamen sie ins Waisenhaus, und nun findet sich auch eine Nachricht über die Mutter vor. Der Vormund schreibt: „Diese Mädchen sind so frech und ausgeartet, dass es schwer halten wird, eine Änderung in ihnen hervorzubringen, ganz wie die selige Mutter.“ In dem Abgangszeugnis) der ältesten heißt es denn auch: „In ihrem äußeren Verhalten gegen ihre Vorgesetzten ist sie freundlich und bescheiden, aber in dem Verkehr mit ihren Mitschwestern zänkisch und unverträglich. Durch ihre Leistungen bei der Arbeit hat sie sich meist immer Unzufriedenheit zugezogen; sie ist nachlässig und träge. Ihre bisherige Führung lässt für ihr künftiges Leben wenig Gutes hoffen.“ — Die Rummelsburger Anstalt sucht mit den entlassenen Kindern, namentlich den Mädchen, die Verbindung möglichst aufrecht zu erhalten. Des Sonntags Nachmittags und Abends wartet ihrer eine freundliche Aufnahme mit einfacher Bewirtung, und die Erzieherinnen gehen ihnen nach, um bei den Dienstherrschaften über ihre Führung Erkundigung einzuziehen. Schon der erste Bericht über das Mädchen D. erzählte von Schwindeleien, Nachlässigkeit und Rohheit. Im nächsten heißt es, sie habe den Dienst schon 5 Mal gewechselt; sie sei grob und stehle. Am längsten hatte sie es bei einer Familie ausgehalten, die ein wanderndes Leben führte und auf den Dörfern Theater-Vorstellungen gab. Die Waisenverwaltung versuchte einzuschreiten. Aber es ergab sich, dass das Mädchen schon auf der untersten Stufe der Schamlosigkeit angelangt war. Desto sorgsamer ward nun in Rummelsburg die jüngere Schwester in Acht genommen. Es fehlte nicht an Ermahnungen, Anleitungen und genauester Aufsicht. Das Abgangszeugnis lautet im Ganzen günstig, indessen heißt es doch am Schlusse: „sie muss aber zuverlässiger werden, wo sie sich, selbst überlassen ist.“ Als sie entlassen ward, kam sie zu der besten und gewissenhaftesten Herrschaft, die man aussuchen konnte. Diese war nach dem ersten Berichte der Erzieherin in jeder Hinsicht mit dem Mädchen zufrieden. Der zweite Bericht spricht schon von großem Leichtsinn und lobt die gewissenhafte Überwachung von Seiten der Herrschaft. Am Schlusse heißt es: „die D. scheint dies aber nicht mit dem Gefühle der Dankbarkeit anzuerkennen, sondern mehr als einen lästigen Zwang zu betrachten, den sie leider vielleicht bald von sich abschütteln wird.“ Zu einem dritten Berichte ist es nicht gekommen. Einen Monat nach dem zweiten, im vorigen November, war die Lebensgeschichte des Waisenmädchens zu Ende. Sie hatte eine mehrtägige Abwesenheit ihrer Herrschaft benutzt, um Schwindeleien zu verüben und sich in liederliche Vergnügungen zu stürzen. Dann trank sie Schwefelsäure. Bevor sie starb, gab sie als Grund an: „ich habe mich geschämt.“ Da lag nun im Krankenhause starr und tot, was die Waisen-Anstalt der Stadt Berlin mit besonderer Sorge an Leib und Seele hatte pflegen, bilden und hüten wollen. Von Ernst und Milde, Ermahnung und Lob keine Frucht als Verirrung, Verzweiflung und Selbstmord. Und doch noch eine Frucht bei dieser Schwester. Wer da will, kann sie herausschälen aus den vier Worten: „ich habe mich geschämt.“ —

Der Waisenknabe M. hat seinem Pflegevater, dem Kossäthen S. in einem Dorfe bei Storkow, das Haus über dem Kopf angesteckt. Mit dieser Nachricht bringt man ihn ins Depot zurück. Ein frischer hübscher Junge, jeder Zug im Gesicht Biederkeit, Offenheit und Wahrheit, nur sieht er etwas einfach aus. Er spricht auch so, als wenn sein Verstand in der Entwicklung zurückgeblieben wäre. Allgemeines Mitleid, als ihn das Gericht zu 8 Tagen Gefängnis verurteilt. Er hat unzweifelhaft im kindischen Triebe gehandelt, obwohl allerdings festgestellt worden, dass er schon einmal Brand gestiftet. Der Prediger des Ortes ergeht sich in längeren psychologischen Erörterungen darüber. „Ich kann,“ sagt er, „mich des Gedankens nicht erwehren, dass M. vielleicht eine Tat bekenne, die er doch nicht begangen hat.“ Die Verwaltung schreibt auch hierhin und dorthin. Sie erbietet sich, in ihren Räumen ein Gefängnis herzurichten, damit der arme Knabe mit der Gemeinschaft wirklicher Verbrecher verschont bleibe. Das Gericht kann nicht darauf eingehen. Der Knabe büßt die Strafe ab und kommt dann nach Rummelsburg, damit er's nun recht gut habe. Er sieht noch immer so durch und durch einfach und unschuldsvoll aus; ein Märtyrer der Gesetze, eine Art Opfer der Justiz. Er wird, wie im Depot, so auch in Rummelsburg recht liebevoll empfangen. Das ist im Juli 1865. Im Oktober berichtet die Direktion: „Der Knabe M. erweist sich mehr und mehr als ein gefährliches Subjekt. Er verübt allerlei kleine Diebstähle und Betrügereien. Das Bedenklichste aber ist, dass er dabei viel Geschick und Schlauheit entwickelt, dass er namentlich bei Untersuchungen wider ihn durch eine ehrliche Miene, durch den Anschein eines sehr biederen Wesens, durch schlau berechnete Winkelzüge, ja durch kunstfertige Manipulationen zu entrinnen sucht. Es ist eine gewisse Gaunervirtuosität in ihm, wenigstens eine entschiedene Anlage dazu. Ein solcher Knabe ist im Stande, auch bei aller Achtsamkeit auf ihn, die Seelen anderer Kinder zu vergiften. Es wird daher beantragt, ihn in einer Besserungs-Anstalt unterzubringen.“ Der Zufall wollte es, dass damals in solchen Anstalten kein Platz zu erhalten war. Als dies endlich, nach Jahresfrist, ermöglicht wurde, erklärte die Direktion, der Knabe sei wegen ausgezeichneter Leistungen in der Schule schon zu Ostern prämiirt worden. „Bereits seit längerer Zeit hat er sich auch ganz untadelig, ja lobenswert geführt. Die Androhung, dass er aus der hiesigen Anstalt entfernt werden würde, scheint einen tiefen und heilsamen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Gefahrbringend für andere Kinder ist er in keiner Weise mehr.“

Ob diese Besserung von Dauer sein wird, muss die Zeit lehren. Manche Rummelsburger Kinder haben ein zwiefaches Gesicht, ein Anstalts-Gesicht und ein anderes. In allen steckt eine tiefgewurzelte Hinneigung zu dem Proletariertum ihrer frühesten Kindheit. Die Strolche, die bei Rummelsburg vorüber landstreichen, kommen gern in die Anstalt, um zu betteln. Sie denken, wo für so Viele gekocht wird, können sie sich auch auf Regiments-Unkosten satt essen. Hinausgewiesen, lauern sie hinter der Hecke im Graben, und dann kommen die Kinder heimlich und teilen mit ihnen ihr Brod und ihr Salz. Ist das Mitleid? Gewiss; zugleich aber auch eine alte Erinnerung: so hat mein Vater ausgesehen, oder mein Großvater oder mein Onkel, der uns mit in die Haide nahm und so gerne „Kümmel“ trank.

Fragt man nach dem Systeme, welches bei der Rummelsburger Erziehung herrscht, so weiß ich keinen Namen zu nennen. Vielleicht wird, was es ist, deutlicher, wenn ich sage, was es nicht ist. Einem geistlichen Würdenträger sagte eine Wittwe, wie schwer ihr nach des Mannes Tode die Verantwortlichkeit für die Erziehung ihrer Kinder auf dem Herzen liege. Ob der Mann tot ist oder noch lebt, ist gleich, war die Antwort; Kinder können ja doch nur auf den Knien erzogen werden. In Rummelsburg, glaube ich, weicht man von dieser Theorie einigermaßen ab. Dort stellt man vor das Kind die aufgerichtete Autorität des Erwachsenen hin. Braucht man dabei für sich Stärkung von oben, so kniet man besser im Kämmerlein. Wird Derartiges zu häufig vor den Augen der Kinder vorgenommen, so können diese zuletzt „erweckt“ werden, wie im Waisenhause zu Elberfeld, wo die ganze Erziehung nebst Unterricht und Disziplin sich in lauter Erweckungen auflöste, und die kleinen Heuchler die Erwachsenen eine ganze Zeit lang an der Nase herumführten 7). Solche Gefühlserregungen werden natürlich am gefährlichsten, wo viele Kinder beisammen sind. Sie stecken an wie das Scharlachfieber und die Pocken. Aber wie die epidemischen Krankheiten in der scharfen, frischen Luft von Rummelsburg niemals ihr Fortkommen fanden, so ist es auch einer Art Gefühlsepidemie ergangen, die, übrigens nicht aus ähnlicher Ursache stammend, sich ungefähr um dieselbe Zeit in der Rummelsburger Anstalt zeigen wollte. Die Mädchen der Wirtschaftsabteilung verfielen eines Nachts in Krämpfe und Schluchzen. Schon wollte die Erzieherin den Kopf verlieren. Da trat der Direktor ein, hob den Arm auf und rief mit Stentorstimme das eine Wort: Ruhe! Von dem Augenblick an ist in Rummelsburg nichts Erwecktes mehr bemerkt worden. — Bekanntlich liegt — daran sei hier erinnert — eine Gefahr in der Überhäufung des Kindes mit religiösem Gedächtnisstoff, an dem, wie Jean Paul sagt, die unsterbliche Seele sich halb tot memoriert. Auch wird das Herz nicht weich und der Kopf nicht weise durch zu viel Dräuen mit Hölle, Teufel und Verdammnis. Rückert erzählt davon eine kleine Geschichte:

Zu des Himmels Kaiser
Trat ein Mal ein Weiser.
Fragt, wie lang die närr'schen
Leute sollen herrschen.

Und Gott sprach: so lange
Eure Weisheit bange
Wird die Menschen machen,
Soll die Torheit lachen.

Also nach der Theorie von der Erziehung „bloß auf den Knien“ geht es in Rummelsburg nicht. Aber auch nicht nach der jenes alten brauen Oberstwachtmeisters, der da zu sagen pflegte, Kindererziehen heißt: wo man sie sieht, schnauzt man sie an. Die Kinder sollen an ihren Erziehern und Erzieherinnen ein Herz merken, das ihnen das früh erkaltete Vater- und Mutter-Herz ersetzt. Und oft finden sie in der Anstalt mehr als einen solchen Ersatz. Früher gab man Kinder hinaus, die noch Eltern hatten, und dann zu diesen zurückkamen. Solche Kinder liefen häufig zur Anstalt zurück und baten mit Tränen, sie wieder aufzunehmen. Ein Mädchen P. beispielsweise ließ sich nicht abweisen. Sie nächtigte heimlich im Grase neben dem Hause, in dem sie ein halbes Jahr lang Zuflucht vor Mutter und Vater gefunden hatte.

Dabei ist Kost und Lebensart nicht anders, als das Leben, welches der Kinder wartet, mit sich bringt. Die Schlafsäle gehen durch die Häuser hindurch, ohne eine Zwischenwand dem durchsickernden Nordostwind entgegenzustellen, der nicht sanft vom Felde herüberweht. Im Souterrain vollzieht sich Morgens das Waschen und die Toilette. Die Nahrung ist zur Ernährung ausreichend aber einfach 8).

Der Unterricht erhebt sich in den ersten Klassen bis zu Mathematik und Physik. Warum das für die Waisenknaben, die doch bloß Handwerker werden sollen? Aber wie kann der Klempner ohne alle geometrischen Kenntnisse auch nur die Kosten für eine Dachrinne überschlagen, wie der Tischler für das Holz, das er zur Tür verbraucht, wie der Schlosser und Schmied für das Eisen! Und schadet's denn, wenn unter der jungen Generation mehr Schulkenntnisse zu finden wären, als unter der alten? Moses Mendelssohn wurde einmal bedauert, dass er bei einem Manne als Handlungsdiener arbeiten müsse, der im Vergleich mit ihm so ungebildet und simpel sei. Er antwortete: „das hat die Vorsehung gerade recht gemacht. Jetzt nutze ich meinem Herrn und habe selber Brod. Ich als Herr würde jenen schwerlich zum Handlungsdiener nehmen, und dann hätte er nichts.“

Außer den 450 bis 490 Kindern, die sich in Rummelsburg befinden, sind noch durchschnittlich etwa 1.500 bis 1.800 in Kostpflege ausgetan. Alle kommen, wie schon gesagt, zuerst ins Depot in dem alten Waisenhause, wo ihre Personalien festgestellt, und von wo sie dann ausgetan werden. Die Büreau-Tür geht auf, ein Schutzmann tritt ein. Sein Rapport lautet, der Junge, den er mitbringt, sei in der Nacht obdachlos auf einem Schutthaufen an der Hallischen Communikation gefunden. Nun entwickelt sich folgendes Verhör: „Wie heißt Du?“ — Wilhelm. — „Wie alt bist Du?“ — Weiß ich nicht. - „Nicht auf die Barriere klettern! Hier wird still gestanden! Du siehst aus, als wärst Du 6 Jahr?“ — Na, wenn Sie's wissen, warum fragen Sie denn? — „Was hast Du denn hinter dem Ofen zu suchen! Hier bleibst Du stehen! Wie heißt Dein Vater?“ — Auch Wilhelm. — „Wie weiter?“ — Martin. — „Wo wohnt er?“ — Bei Mutter Grün. 9) — „Wo seid ihr denn die Nächte gewesen?“ — Gewöhnlich in der Hasenhaide, da ist eine große Grube hinter den Schießständen. — „Wo habt ihr gegessen?“ — Kartoffeln ausgebuddelt 10) und in der Haide gekocht. Auch in der Dragonerkaserne abgekriegt. — „Nun bist Du schon wieder auf der Aktenleiter! Was ist Dein Vater?“ — Maurer. — „Geht er denn nicht auf Arbeit?“ — Nein. — „Was macht er denn?“ — Er säuft. — „Er säuft! Hat er Dir denn auch abgegeben?“ — Nein, nicht gerne, aber ich wusste die Pulle11) und habe manchmal von selber. — Der Junge Martin, dessen Antworten hier möglichst wortgetreu wiedergegeben sind, wurde erst ernst und bedenklich, als er vor dem Instrumente stand, welches bei der Aufnahme aller Kinder zuerst in Anwendung kommt. Die Badewanne imponierte ihm offenbar. Und als er gar ins Wasser hinein musste, und als dann der große Kamm seine unbarmherzige Treibjagd anstellte, da wurde er ganz still. Es zog etwas wie Nachdenken und Wehmut über sein Gesicht. Gebadet und gekämmt und dann noch reine Kleidungsstücke! Ein letzter Blick fiel auf den alten Adam, der in Gestalt von Jacke, Hose und Hemde in der Ecke lag, ein Klümpchen grauer Lumpen, mehr Loch, als Zusammenhang. Und die Wärterin sondierte dies Häuflein mit vorsichtigen Fingern, und brachte die einzelnen Garderobestücke zu Papier, und reichte dies am Nachmittag zu den Akten ein mit dem Refrain darunter, den sie schon Tausend Mal niedergeschrieben hat und noch öfter niederschreiben wird: „wegen Ungeziefer verbrannt.“

In der Cholerazeit des letzten Sommers (1866) zeigte das Depot eine traurige Lebendigkeit. Anstatt 4 bis 5 Kinder täglich kamen manchmal 20 bis 30 ein. Auch der Krieg hat eine eigene Nachwirkung im Gefolge gehabt. Wie Berliner Jungen mit den Soldaten nach Böhmen mitliefen, so kamen auswärtige mit den rückkehrenden Truppen nach Berlin herein. Gewöhnlich machen solche junge Vagabonden durch ihre falschen Angaben viel Mühe und Schreiberei. Die Polizei greift sie auf, und ein Schreiber vernimmt sie dann mittelst Ausfüllung eines, ursprünglich für Erwachsene eingerichteten Formulars. Ein Beispiel: Der heut sistierte Knabe Wilhelm Brandt lieh sich, wie folgt, vernehmen: Ich heiße, wie angegeben, bin 8 Jahre alt, evangelischer Konfession, geboren wann, weiß ich nicht, wo, weiß ich nicht, ortsangehörig wo, weiß ich nicht. Ich bin unverheiratet, habe keine Kinder. Mein Vater Vornamens weiß ich nicht, lebt in Veltendorf bei Pr. Meine Mutter Vornamens Luise, geborne weiß ich nicht, lebt auch in Veitendorf. Ich bin seit dem 17. d. M. aus meiner Heimat entfernt, halte mich seit gestern in Berlin auf und habe keine Wohnung. Ich bin legitimiert durch nichts. Meine Effekten führe ich bei mir und besitze an Subsistenz und Reisemitteln nichts. In Militärverhältnissen habe ich niemals gestanden. Ich bin noch nicht bestraft. — So weit das Formular. Dann fährt die Aussage des achtjährigen Jungen wörtlich folgendermaßen fort: ich bin nach Berlin gekommen, um mir hier ein Mädchen zu suchen, mit der ich leben und arbeiten kann, ich habe zu Hause immer so gehört, dass das schon Mehrere so gemacht haben. Ich war bei meinem Onkel, dem Tischler S. in T. in Pflege und, als eines Tages eine Gans fortgelaufen war, bin ich aus Angst fortgelaufen. Nun werde ich heut wieder nach Hause gehen, gesund bin ich. — Registriert wird, dass der Knabe zum Tore hinaus befördert worden. Nach zwei Tagen wird er auf dem Alexanderplatz wieder obdachlos angetroffen und nun ins Waisenhaus gebracht. Hier schreibt man an die Orte, die der Knabe angegeben, aber nirgends ist er bekannt. Inzwischen läuft ein anderes Protokoll in der Mark Brandenburg umher. Ein Tagelöhner Sieber ist von Pr. mit seiner Familie in die Gegend von Bernau gekommen, um beim Kartoffelgraben zu verdienen. Eines Tages läuft sein achtjähriger Sohn Carl mit einer Abteilung Artillerie davon. Der Vater nimmt zwar weiter keine Notiz von dem ihm wiederfahrenen Verluste, aber das Mutterherz fängt nach einigen Tagen an, sich zu rühren. Die Mutter geht zur nächsten Ortspolizeibehörde und lässt den Vorfall verzeichnen. Beide Protokolle suchen sich, wie Magnet und Eisen. Hier ein Junge zu viel, dort einer zu wenig, und das Signalement stimmt bis aufs Haar, das so charakteristisch weißlichblond dem ukermärkischen Bauerjungen in die Stirn hängt. Endlich klappen sie zusammen; Wilhelm Brandt ist als Carl Sieber erkannt, und zieht per Transport in seine Vaterstadt wieder ein.

Laufen Kinder ihren Eltern fort, so kommt das Umgekehrte noch weit häufiger vor. „Vater und Mutter haben sich heimlich aus der Wohnung entfernt“, ist ein sehr gewöhnlicher Grund, aus dem die Kinder dem Waisenhause übersandt werden. Reisende Künstler vergessen ihre Nachkommenschaft mit Vorliebe hier in Berlin, und diese Kinder sind die schlimmsten, da sie ihre Eltern begleitet und oft in der „Kunst“ unterstützt haben12).

Der Schauspieler von E. beispielsweise vergaß hier nach einem nicht zufriedenstellenden Debüt seine elfjährige Tochter Marie. Diese fand man in einem Neubau der Wassertorstraße vor, wo sie sich mit einem gleichaltrigen Knaben eine kleine Hauswirtschaft eingerichtet hatte. Sie ward in auswärtige Kostpflege gegeben, und scheint bis jetzt dort gut zu gedeihen.

Diese auswärtige Kostpflege erstreckt sich auf kleine Städte und Dörfer in der Mark. Die Ortsgeistlichen führen dort die Aufsicht über die Berliner Waisenkinder gegen ein Honorar von 2 Thlr. pro Kind und Jahr. Die meisten Kinder assimilieren sich dort bald und kehren auch später nicht nach Berlin zurück. Die eigene Mutter hätte den Jungen Wirk nicht wiedererkannt, als er von der Mecklenburgischen Grenze ins Depot zurückgenommen war, wie er dastand mit sonnverbranntem Gesicht, der stereotypen blauen Bauerjacke, und wie er im echtesten Plattdeutsch seinen Wunsch ausdrückte, wieder zum Bauern zurückzukehren.

Einige Knaben legen freilich auch draußen den Berliner Straßenjungen nicht ab. Der Knabe H. entlief immer wieder, wohin man ihn auch schickte. Auch dem Kuhhirten S. in einem Dorfe bei Oranienburg lief er fort. Aber der Kuhhirt eilte ihm nach und ruhte nicht eher, bis er ihn in Berlin wieder fand. „Ich bin ein alter Mann und meine Frau ist auch alt“, sagte er im Bureau, „und wir haben den Jungen so lieb, als wenn er unser eigenes Kind wäre. Er erzählt uns so hübsch, wenn die langen Abende sind, und er kann auch singen.“ Aber der Schulz und der Prediger und die anderen Autoritäten im Dorfe dachten anders. Es ist, als ob ein Wolf in die Gegend gekommen wäre, klagte der eine Bericht, und der Prediger sagte geradezu: „dieser eine Knabe entsittlicht mir nicht nur meine Konfirmanden, sondern die ganze Dorfjugend.“ So musste er nach Berlin zurück. Der Kuhhirt ließ es sich nicht nehmen, ihm das Geleit zu geben. Beim Abschied wurde er förmlich weich und äußerte zu dem Beamten: „ich weiß nicht, was ich ohne den Jungen anfangen soll; er hat mir alles denken geholfen; und ich hatte ihn schon so hübsch weit gebracht, er rauchte schon ordentlich seine Pfeife.“

Der Knabe Lange entlief im vorigen Jahre 5 Mal aus der Kostpflege. Selbst der Weg von Vetschau bei Cottbus nach Berlin zurück war ihm nicht zu weit. Von dort brachte er als Andenken die Taschenuhr seines Pflegevaters mit. Schließlich kam er zu einem Schneider nach Christindorf, der ausdrücklich gewarnt war, sich vor ihm in Acht zu nehmen und ihn streng zu halten. Aber warum das? dem Schneider war nie ein gutmütigerer, anstelligerer Knabe vorgekommen. Er tat, was er seinen Pflegeeltern an den Augen absehen konnte, und half aufs Emsigste in der Wirtschaft, bis er wusste, wo jedes Stück im Schrank und in der Kommode seinen Platz hatte. So ging es prächtig 6 Tage lang. Am 7. aber früh Morgens war der Knabe verschwunden. Der Schneider schloss die Kommode auf, um seine Sonntagsweste anzutun und dem Prediger von dem Falle Anzeige zu machen. Die Weste fand er, nicht aber die sauer ersparten 99 Thaler, die er neben der Weste in der Ecke aufbewahrte. Er eilte nach Berlin und fand den Knaben in einem Keller unter einer Gesellschaft branntweintrinkender Männer. Als er ihn zur Rede stellen wollte, erhielt er zur Antwort: „soll man sich denn nicht mal einen vergnügten Tag machen?“ Und als er den Jungen zu fassen versuchte, zog dieser ein Messer, und der Pflegevater konnte sich nur durch eilige Flucht vor Stichen retten. Bei der Verhaftung fanden sich von den 29 Thalern nur noch 8 vor. Das übrige Geld hatte er in dem einen Tage vertan, u. a. zum Ankauf einer Ziehharmonika, eines Terzeroles und des Messers, mit dem er den Bestohlenen hatte stechen wollen.

Das Mädchen N, Tochter eines früheren Barbiers, späteren Sängers, entlief aus Köpenick mit 2 1/2 Thaler bar und einer Reihe von Gegenständen, die im Bericht eine volle Seite einnehmen.

Hin und wieder, aber freilich sehr selten, kommt auch ein Fall vor, wo ein Kind entschuldbarer Weise den Pflegeeltern entläuft. Der Knabe Wimmer war in eine kleine Stadt bei Wittenberg gegeben. Die Leute wurden als sehr geeignet gerühmt. Es war besonders auf die reichliche Kost hingewiesen, welche auf ihren Tisch käme. So gefiel es dem Knaben auch dort sehr gut. Oft aber hörte er Nachts ein sonderbares Geräusch aus dem Schuppen, der auf dem Hofe stand. Ein Mal stand er auf und sah durch eine Ritze. Er erblickte seinen Pflegevater mit einem großen Sacke, worin sich etwas bewegte. Ein Nachbar, der mit in dem Schuppen war, zog einen Strick über eine Stange, der in eine Schlinge auslief. Dann wurde der Sack geöffnet. Heraus kam der Kopf eines großen Hundes. Die Schlinge ward umgeworfen, der Strick angezogen, sodann der Hund kunstgerecht zerlegt, und zwischen die beiden Nachbarn geteilt. Als nun am nächsten Vormittag wie gewöhnlich ein reichliches Stück Fleisch in der Küche prasselte, wartete der Knabe Wimmer nicht ab, bis es gar war, sondern lief spornstreichs nach Berlin zurück.

Die Aufsicht über die Kinder der auswärtigen Kostpflege führen außer dem Geistlichen besoldeterweise auch noch unbesoldet die Nachbarn. Nicht als ob sich in jedem Dorfe ein Pammachius fände, zu dem der heilige Hieronymus sagte: so viel arme Kinder in Rom sind, so viele Kinder Hast du daselbst; — nein, sondern weil sich in allen Dörfern Leute finden, die selber gern Waisenkinder gegen Entgelt in Pflege nähmen und ihre Nachbarn um diesen vermeintlichen Vorteil beneiden. Und auch im Übrigen sind an kleinen Orten wirkliche Missbräuche unmöglich lange verborgen zu halten.

Schwieriger ist die Handhabung der Aufsicht über diejenigen Waisenkinder, welche in Berlin selbst untergebracht sind. Das Kostgeld beträgt für Säuglinge, welche auch eine vollständige Säuglings-Ausstattung erhalten, 5 Thlr., für Kinder im 2. Lebensjahre 4 Thlr., sodann bis zum 6. Jahre 3 1/2 Thlr.; von da ab (wo die Schulpflichtigkeit beginnt) werden 3 Thlr.13) nebst freier Bekleidung und freiem Schulunterrichte gewährt. Nach diesen Preisen ist klar, dass im Allgemeinen nur s. g. kleine Leute sich zur Übernahme von Waisenkostkindern melden, häufig solche, die keine eigenen Kinder haben und diesen Mangel zu ersetzen suchen. Aber auch für andere ist es lockend, gegen die allmonatliche Forderung des gestrengen Hauswirtes einigermaßen durch die pünktlich eingehende bare Zahlung des Kostgeldes gesichert zu sein, sowie von den kleinen häuslichen Dienstleistungen Gebrauch zu machen, zu welchen Kinder in derartigen Familien benutzt zu werden pflegen. Häufiger, als man es von vornherein annehmen möchte, bildet sich so, trotz des gering erscheinenden Äquivalentes, ein Verhältnis heraus, welches durchaus befriedigen kann. Es ist durch die angestellten Revisionen nachgewiesen, dass weitaus die meisten Kinder zufriedenstellend verpflegt und erzogen werden. Aber es versteht sich von selbst, dass stets Fälle mit unterlaufen, wo Pflegeeltern ein Kind übernehmen wollen, lediglich um es in eigennütziger Weise auszubeuten. Hiergegen sucht sich die Verwaltung zunächst durch eine Präventiv-Maßregel zu schützen. Keine Familie erhält ein Kind, bevor sie einen s. g. Fragebogen von den Aufsichtsorganen hat ausfüllen lassen. Dies geschieht auf Grund von Untersuchungen an Ort und Stelle. Die einzelnen Qualitäten, auf die es ankommt, sind in besonders aufgestellten Fragen formuliert, deren Beantwortung schriftlich abgegeben wird. Schließlich äußert sich ein polizeiliches Attest über die Unbescholtenheit der nachsuchenden Familie. Lauten diese Zeugnisse durchweg günstig, so wird der Familie ein Kind anvertraut und der Fall sofort dem Waisenamte des Bezirkes mitgeteilt. Solche Waisenämter sind für ganz Berlin organisiert. Sie bestehen in der Regel aus 5 Personen, welche nicht mehrmals zusammen 15 Kinder unter Aufsicht haben sollen. Der Vorsteher des Amtes verteilt die Geschäfte unter die Mitglieder, Pfleger und Pflegerinnen, dergestalt dass die Pfleger die schulpflichtigen Knaben, die Pflegerinnen die übrigen Kinder zu überwachen haben. Halbjährlich reichen die Waisenämter der Verwaltungs-Behörde über jedes Kind einen Bericht ein; halbjährlich finden auch Versammlungen der Vorsteher Statt, um über die gemachten Erfahrungen die Meinungen auszutauschen, der Behörde Vorschläge und Anträge mitzuteilen und dergl. Sobald eine Pflege sich als ungeeignet herausstellt, macht das Waisenamt Anzeige Behufs anderweiter Unterbringung des Kindes. —

Was nun empfiehlt sich mehr für die Waisenkinder, die Anstalts-Erziehung oder die Kostpflege? Über diese Frage ist, wie schon oben angedeutet worden, in umfangreichen Schriften verhandelt und gestritten. An dieser Stelle, wo alle Zweige des weiten Themas der Waisenpflege nur fragmentarisch und skizzenhaft berührt werden konnten, schließt sich der Versuch einer gründlichen Beantwortung von selber aus. Es ist schon erwähnt, dass in Rummelsburg, abgesehen von der besonderen Einrichtung der Wirtschaftsabteilung, fünf Knabenhäuser der Zahl von nur zweien Mädchenhäusern gegenüber stehen. Vielleicht ist hieraus der Erfahrungssatz erkennbar, dass für Mädchen eine gute Familienpflege der Anstaltspflege vorzuziehen ist. Die Gründe liegen in dem natürlichen Unterschiede des Wesens beider Geschlechter. Für den Knaben, der für das Außenleben, das Wirken in größeren Kreisen bestimmt ist, passt wohl das Leben, Ringen und Wetteifern in zahlreicher Gesellschaft, die Gewöhnung an feste Ordnung u. s. w. Meist erwartet ihn überdies, wenn er aus der Anstalt entlassen ist, die Lehre bei einem Meister, in dessen Familie er noch mehrere Jahre (meist 4 oder 5) einen festen Anhalt und beständige Aufsicht findet. Das Mädchen ist auf die Welt des engeren häuslichen Kreises angewiesen; es wird zwar auch in der Anstalt an häusliche Geschäfte und Verrichtungen gewöhnt; die Erzieherinnen suchen, wie schon angeführt, auch nach der Entlassung die Verbindung zu unterhalten, — immerhin aber wird sich in diesem Verhältnis) schwerer die vertrauliche Hingebung entwickeln, mit der des Mädchens Wesen sich einer mütterlichen Pflegerin anschließen will. Dessen ungeachtet kann die Rummelsburger Anstalt im Allgemeinen auch mit den Resultaten zufrieden sein, die sie bei den Mädchen erzielt hat. Auch das Publikum hat in diesem Sinne geurteilt: mit Vorliebe wird von Familien, die weibliche Dienstboten verlangen, ein Mädchen aus Rummelsburg gesucht. Ferner gibt es auch unter den Mädchen häufig Naturen, welche die straffere Disziplin der Anstalts- Erziehung erfordern, und für solche Fälle würde jedenfalls das gänzliche Aufgeben der Anstalts-Mädchenhäuser ein fühlbarer Mangel werden. Endlich ist nicht gering anzuschlagen, was gerade die Rummelsburger Anstalt vor anderen Waisenhäusern auszeichnet und was den Mädchen in gleicher Weise wie den Knaben zu Gute kommt: die Kinder des Berliner Proletariates sehen sich aus der dumpfen Enge ihres früheren Aufenthaltes, wo so leicht alles bessere Gefühl abstumpft, in die freie Natur verpflanzt, deren mächtige, gesunde Anregung Geist und Leib wieder zu regerem Leben weckt. Dieser regenerierende Einfluss ist oft und bestimmt wahrgenommen worden. Wie weit daraus ein Motiv zu entnehmen, dieses oder jenes bestimmte Mädchen nach Rummelsburg zu geben, auch wenn eine wahrscheinlich gute Familienerziehung zur Verfügung steht, ist im einzelnen Falle zu erwägen. Vielleicht müssen bei dieser ganzen Frage: ob Kostpflege, ob Anstaltserziehung, die Verwaltungen mehr als sonst sich in dem Worte des türkischen Richters bescheiden: „Gott weiß es besser.“

Anmerkungen.

1) Das Berliner Stadt-Wappen.

2) Ein bei den unteren Klassen beliebtes Berliner Gebäck.

3) Kleine Vertiefungen zwischen den Pflastersteinen oder im Sande, in welche Kugeln aus Thon u. dgl. (Murmel) gerollt werden,

4) Ein Dreipfennigstück, Kupfermünze.

5) Eine im Volke gebräuchliche Benennung des Armen-Commissions-Vorstehers.

6) Ursprünglich der Eigenname eines, die Berliner Straßen durchwandernden, halbblödsinnigen Lumpensammlers; jetzt gebräuchlicher Name für alle ähnlichen Gestalten.

7) Die Behörden erhielten erst Kunde davon, als das in Elberfeld erscheinende Erbauungsblättlein „der Säemann“ unterm 13. Febr. 1861 einen wohlgemeinten Bericht darüber brachte. „Es waren,“ heißt es darin, „im Laufe der letzten Wochen die Zöglinge des Waisenhauses, Knaben und Mädchen, von einer heftigen Sündenangst, einer göttlichen Traurigkeit erfasst worden. Sie hatten gewaltigen Hunger nach Seelenspeise; sie legten Schriftabschnitte aus; sie verfielen in Krämpfe und brachen zusammen, dass sie zu Dutzenden da lagen: einige verloren die Sprache, andere wiederum waren mitunter förmlich am Brüllen . . . Über die Zeit war man nicht Herr.“ usw.

8) Zum ersten Frühstück dient Roggenmehlsuppe, zum zweiten erhält das Kind 5 Loth Brod und 1/10 Loth Salz. Zu Mittag gibt es 4 Mal wöchentlich Fleisch, 3 ½ Loth pro Kind; als Gemüse Reis, Hirse, Graupen in Fleischbrühe mit Kartoffeln, oder Erbsen, Linsen, Bohnen in Fett, Brühkartoffeln, saure Kartoffeln, Kohl mit Kartoffeln u. dgl.; zum Vesper 5 Loth Brod und 1/10 Loth Salz; zum Abendbrod ½ Quart Hafer- oder Buchweizen-Grütze, Gries-, Brod-, Semmel-, Bier- oder Kartoffel-Suppe, oder auch Kartoffeln mit Hering oder Butterbrod von 10 Loth Brod und 1 Loth Butter.

9) Vagabunden-Ausdruck für freie Natur.

10) Provinziell für „ausgegraben“.

11) Flasche

12) So schreibt ein „Künstler“ aus Dessau an seine Frau: Liebe Frau, es grüßt und kusst Dich Dein guter Mann. Ich hätte auch schon das letzte Jahr an Dich geschrieben, aber ich dachte, was sollte ich eher schreiben, wenn ich Dich nicht ein Paar Thaler schicken konnte. Unser Albert hatte am Sonntag 20 Sgr. 6 Pfg. Trinkgeld von den Herrschaften bekommen, denn er arbeitet schon recht brav, er ist jetzt schon so weit, daß er von Tisch und Stuhl macht, er macht die Kreuzbiegung und so macht er auch den Kopfsprung von Tisch und Stuhl, so daß er ein ungeheures Bravo von den Herrschaften erhielt und wurde einige Male rausgerufen, jetzt macht er auch schon recht viele Witze, die ich ihm wieder gelernt habe. Meine Adresse ist: an den Künstler Herrn Julius S. zu Dessau im Wilden Mann.
Nachher befand sich dieser Albert, nachdem Vater und Mutter durch Berlin gekommen waren und ihn zurückgelassen hatten, bei einem Onkel Cohn, der schon 24 Jahre im Zuchthaus gesessen hatte. Die nächste neue Gelegenheit, die ihn wieder ins Zuchthaus brachte, führte den Knaben dem Waisenhaus zu.

13) Außerhalb Berlins 2 Thlr., nur die in der Nähe Berlins gelegenen Städte Charlottenburg und Köpenick gelten wegen der höheren Preise der Lebensmittel der Hauptstadt gleich.