Vorschrift über das Verfahren bei der Eidesablegung der Israeliten. (Aus der Wiener Zeitz. Nr. 338.)

Aus: Allgemeine Zeitung des Judentums, 11. Jahrgang, 18. Januar 1847
Autor: Herausgegeben von Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabbiner. 1837 begründete er die Allgemeine Zeitung des Judentums, die er bis zu seinem Tode im Jahr 1889 herausgab und redigierte., Erscheinungsjahr: 1847
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Bürgerrechte, Gleichberechtigung, Emanzipation, Eid vor Gericht, Recht und Gesetz, Prozess, Schwur, Schwörende
Wenn vom Gerichte ein Israelit zur Ablegung eines Eides aufgefordert wird, ist da, wo es nach den Verhältnissen tunlich ist, zur Meineiderinnerung ein Rabbiner zuzuziehen. Vor allen Anderen hat der Vorsitzende des Gerichtes dem zum Eide zugelassenen Israeliten dasjenige, was er zu beschwören hat, bestimmt und deutlich vorzuhalten, und erforderlichen Falles zu erklären. Nachdem er sich überzeugt hat, dass der Israelit den Gegenstand des Eides wohl verstanden habe, schreitet er zur Meineideserinnerung, welche mit Vermeidung des Ablösens einer bestimmten Formel, der Geistesbildung und Fassungskraft des Schwörenden gemäß mit angemessener Berücksichtigung folgender, auf den israelitischen Religionsbegriffen und Büchern beruhender Bemerkungen einzurichten ist.

Es ist die Amtspflicht des Gerichtes, ehe der Israelit den Eid ablegt, ihm die Heiligkeit des Eides, das Sündhafte und Sträfliche eines Meineides vor Gott und dem weltlichen Richter nachdrücklich zu Gemüte zu führen. Durch den Eid ruft der Schwörende Gott, den Allwissenden und Allmächtigen, zum Zeugen seiner Aussage an, ihn den allgerechten Weltenrichter, der in die Herzen sieht, der alles Geheime und Verborgene erforscht, und daher auch weiß, ob der zum Schwure aufgeforderte Israelit einen reinen unverfälschten Eid, oder einen Meineid schwöre. Wenn die Aussage des Schwörenden mit der Wahrheit vollkommen übereinstimmt, wenn er ohne geheimen Vorbehalt, ohne Zurückhaltung oder Zweideutigkeit so redet, wie er denkt, und wie er es vor dem allgegenwärtigen und allwissenden Gotte zu verantworten sich getraut, so heiliget er durch den Eid den Namen Gottes, und wirket mit zur Handhabung des Rechtes, welches eine von den Grundsäulen der Welt ist; denn auf Wahrheit Recht und Frieden steht und ruhet die Welt, und nach dem Ausspruche zweier Zeugen soll das Recht gesprochen werden, und Bestand haben.

Wenn aber der Schwörende nicht die volle, reine und unverfälschte Wahrheit sagt, wenn er anders redet, als er denkt, wenn er sich irgend eine Täuschung, geheimen Vorbehalt, Zurückhaltung oder Zweideutigkeit zu Schulden kommen lässt, wenn er in den Worten und dem Sinne seiner Rede, oder in den Gedanken die Wahrheit verleugnet, umgeht, oder verdreht; so legt er einen Meineid ab, er ruft Gott zum Zeugen einer Lüge an, er missbraucht, schändet und entweiht den heiligen, unaussprechlichen Namen Gottes, er versündigt sich auf das Schwerste gegen den allmächtigen Gott, welcher die Schändung seines heiligen Namens nie unbestraft lässt, wie es in den zehn Geboten Gottes geschrieben steht, auf welche der Schwörende zur größeren Bekräftigung seines Schwures die Hand zu legen hat. Nicht nach der Meinung und dem Sinne des Schwörenden, sondern nach der Meinung und dem Sinne des Gerichtes, nach der Meinung und dem Sinne des allwissenden und allgerechten Gottes wird der Schwörende in Eid genommen. Nicht darauf, wo und vor welchen Personen der Eid abgelegt wird, beruht die Heiligkeit desselben; denn der zum Eide aufgeforderte Israelit schwört vor Gott, welcher allgegenwärtig, also auch bei dieser Eidesablegung anwesend ist, ihm ist der Schwörende für jede Entstellung oder Umgehung der Wahrheit, für jede Krümmung oder Verdrehung des Rechtes verantwortlich.

Der Schwörende schändet den Glauben seiner Väter, den er selbst bekennt, wenn er denselben durch einen Meineid verdächtig macht, dass derselbe falsche Eide gestatte oder lehre.

Er vergeht sich durch einen Meineid auf das Schwerste gegen den Staat, seine Mitbürger, und Alles, was dem Menschen heilig ist. Er erschüttert die Grundfeste des Vertrauens, er ist die Ursache ungerechter Entscheidungen und eines (besonders bei Zeugnissen in Kriminalfällen) oft nicht mehr zu ersetzenden Schadens, er zerstört das Recht und die bürgerliche Ordnung, so weit es in seinen Kräften liegt. Nach den allgemeinen Landesgesetzen ist er nicht nur verpflichtet, für allen durch seinen Meineid verursachten Schaden und entzogenen Gewinn volle Genugtuung zu leisten, sondern auch des Verbrechens des Betruges schuldig, welches mit Ausstellung auf der Schandbühne und schwerem Kerker nach Beschaffenheit der Umstände selbst lebenslang bestraft wird.

Die Meineidserinnerung wird mit der Frage geschlossen, ob der Israelit bereit sei, den Eid abzulegen. Wenn er diese Frage bejaht, legt er die rechte Hand bis an den Ballen auf die Tora, zweites Buch Mosis zwanzigstes Kapitel siebenten Vers, bedeckt das Haupt und spricht dem Vorsitzenden folgenden Eid nach:

                              Allgemeiner Eingang.

Ich N. N. schwöre bei Gott, dem Alleinigen, Allmächtigen, Allgegenwärtigen und Allwissenden, dem heiligen Gotte Israels, der Himmel und Erde geschaffen hat, mit reiner Überlegung einen reinen, unverfälschten Eid nach der Meinung und dem Sinne des Gerichts, ohne geheimen Vorbehalt, Zurückhaltung oder Zweideutigkeit, ohne Arglist, Betrug oder Verstellung, ohne Rücksicht auf Geschenk oder Versprechen, Nutzen oder Schaden, Zuneigung oder Abneigung, Freundschaft oder Feindschaft, ohne was immer für eine zur Unterdrückung der Wahrheit oder des Rechtes gereichende Absicht.

Fortsetzung für eine Partei im Zivilrechtsverfahren, dass (hier folgt der durch die richterliche Entscheidung festgesetzte Inhalt des Eides) ich schwöre bei Gott dem Allwissenden und Allgegenwärtigen, dass diese meine Aussage in allen ihren Teilen die volle, reine und unverfälschte Wahrheit sei, wie ich es vor Gott zu verantworten mir getraue.

Fortsetzung für einen Zeugen im Zivilrechtsverfahren, dass ich in Betreff dessen, worüber ich in der Rechtssache des gegen den wegen vom Gerichte werde befragt werden, Nichts verschweigen, Niemanden zu Lieb oder zu Leid die volle, reine und unverfälschte Wahrheit, wie ich es vor dem allwissenden und allgegenwärtigen Gotte zu verantworten mir getraue, aussagen und diese meine Aussagen Niemanden entdecken wolle, bevor sie nicht vom Gerichte selbst werden kundgemacht worden sein.

Fortsetzung für einen Zeugen im Kriminalverfahren, dass alles dasjenige, was ich vor dem Gerichte (hier wird das Gericht, von welchem der Zeuge vernommen wird, näher bezeichnet) in Betreff des (hier wird der Gegenstand der Vernehmung mit wenigen Worten angegeben) ausgesagt habe, seinem ganzen Inhalte nach die volle, reine und unverfälschte Wahrheit sei, wie ich es vor dem allwissenden und allgegenwärtigen Gotte zu verantworten mir getraue.

Fortsetzung für einen Sachverständigen, dass ich die Gegenstände, welche mir vom Gerichte zur Beurteilung werden zugewiesen werden (wenn der Sachverständige für einen besonderen Fall beeidet wird, kann der Gegenstand des Befundes hier bestimmter angegeben werden), genau in Augenscheinnehmen, die Beschaffenheit derselben, über welche ich vom Gerichte werde befragt werden, nach sorgfältiger Überlegung aller Umstände, deutlich angeben, und hierüber die volle, reine und unverfälschte Wahrheit, wie ich es vor dem allwissenden und allgegenwärtigen Gotte zu verantworten mir getraue, aussagen wolle.

                              Allgemeiner Schluss

So wahr mir Gott der allmächtige Herr der Heerscharen, Adonaj Elohe Zehaot, dessen unaussprechlicher Name geheiliget werde, in allen meinen Geschäften beistehe, in allen meinen Nöten helfen möge. Amen! Amen!

Während der Eidesablegung haben sich alle anwesenden Personen stehend mit der der feierlichen Handlung angemessenen Ehrerbietung zu verhalten. Wien, am 1. Oktober 1846.

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabbiner

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabbiner

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabiner. Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Bonn-CastellJPG

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabiner. Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Bonn-CastellJPG