Einleitung - Äußere Geschichte des Protestantismus - Die Kirche in Frankreich - Der Aufruhr in den Cevennen und die Camisarden - Ihre Stellung zum Protestantismus

Wie es dem Wandrer geht, wenn er aus weiter Ferne in die Heimat zurückkehrt, wie das Fremdartige mit jedem Schritte mehr in den Hintergrund zurücktritt und das Wohlbekannte immer mehr und immer bestimmter sich hervordrängt, bis er endlich ganz zu Hause sich findet, am traulichen Herde, mitten unter den Seinen: so ergeht es dem, der aus der Geschichte der Vorzeit heraus der Geschichte der Gegenwart näher rückt. Immer mehr treten die Gestalten und die Zustände zurück, die er durch lange Zeiträume von sich geschieden weiß und die er darum als vergangene, der Geschichte verfallene Dinge bezeichnet, und es treten die Personen und die Verhältnisse näher an ihn heran, mit denen er sich noch verwachsen fühlt, die, wenn sie auch nicht mehr an seine persönliche Erinnerung heranreichen, doch nur ein bis zwei, höchstens drei bis vier Glieder aufwärts liegen in der Reihe der Geschlechter, und die eben daher einen Anspruch an unsere nähere Verwandtschaft haben. Ist es uns doch dann zu Mute, als ob die Väter uns von ihren eigenen Vätern und Großvätern, als ob die Mütter uns von ihren Müttern und Großmüttern erzählten, oder als ob wir hineingeführt würden in einen großen Familiensaal, in welchem die Wappen und die Bildnisse der Bürgermeister, der Zunftmeister, der Ratsherren, der Geistlichen und Professoren umherhangen, unter denen Einer um den Andern seinen Vorfahren oder den eines Freundes und Verwandten wieder erkennt. Suchen wir doch gewisse Familienzüge noch nachzuweisen in den Gesichtern, und bieten sich uns selbst im Äußern, in der Tracht, in der Haltung so manche Vergleichungspunkte dar!

In diesem Falle befinden wir uns jetzt, indem wir die Geschichte des 18. Jahrhunderts, in kirchlicher und religiöser Beziehung zunächst, aber auch wieder im Allgemeinen betrachten wollen.


Betrachten wir nun erst die Zeit, die vor uns liegt, im Allgemeinen, so wird sich uns sogleich ein anderes Bild darstellen, als das des 16. und 17. Jahrhunderts war. Hatten wir es dort noch zu tun mit blutigen Verfolgungen und Religionskriegen, so hören wir das 18. Jahrhundert preisen als das Jahrhundert der Aufklärung und der Toleranz. — Zwar gilt dies noch mehr von der zweiten als der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Noch finden wir ja auf der Grenze der Jahrhunderte die feindlichen Heeresmassen gelagert, noch sehen wir Schafotte und Scheiterhaufen für Ketzer aufgerichtet, und noch finden wir viele selbst unter den Gebildeten, welche Gott glauben einen Dienst zu tun durch die Verfolgung Andersdenkender; aber im Vergleich mit den beiden frühern Jahrhunderten sind dies doch nur die Zuckungen eines Körpers, der dem Tode verfallen ist, es sind noch die Schwingungen des Pendels vom alten Uhrwerke, während bereits der Zeiger des neuen auf ganz andre Triebräder im Innern schließen lässt; denn schon hat eine andere Stunde geschlagen. Nicht als ob nun etwa, nachdem die Religionskriege ausgeblutet, jene Zeit des ewigen Friedens gekommen wäre, wo die Lämmer bei den Tigern weiden und die Schwerter in Pflugschare sich wandeln. Die Kriege dauern fort, nur haben sie andre Motive: sie beziehen sich nicht mehr unmittelbar auf die Religion, sie sind mehr rein politisch und nur hie und da finden sich in den Manifesten und Friedensbestimmungen noch Anklänge an die konfessionellen Zerwürfnisse. Wir werden daher auch die Geschichte dieser politischen Kriege, vom spanischen Erbfolgekriege bis zum siebenjährigen, ganz bei Seite lassen, oder höchstens nur das aus ihnen aufnehmen, was in unfern Bereich gehört. — Aber nicht nur haben die äußern Religionskriege und Verfolgungen mit dem 18. Jahrhundert ihre baldige Endschaft erreicht, sondern auch jene inneren Glaubenskämpfe, wie sie das 16. und 17. Jahrhundert bewegten, die Kämpfe zwischen Protestantismus und Katholizismus, zwischen Lutheranern und Calvinisten, treten mehr und mehr in den Hintergrund; und wo sie noch geführt werden, werden sie von den Schulen geführt, die die alten Erinnerungen aufwärmen und den alten zähen Faden fortspinnen, während das Volk bereits keinen oder nur geringen Anteil an ihnen nimmt. Das Volk des 18. Jahrhunderts wendet seine Blicke mit größerem Interesse dem politischen, ökonomischen, industriellen Leben zu; das kirchliche kommt mehr und mehr in Verfall. Aber eben hier tritt uns auch die Schattenseite des Bildes entgegen, das wir zu betrachten haben. Mit der Toleranz stellt sich auch der Indifferentismus ein in religiösen Dingen; mit der Verfolgung des Glaubens weicht die alte Begeisterung für denselben; mit der Aufklärung wächst die Zweifelsucht, und dem Aberglauben ringt der Unglaube das Szepter aus den Händen, um eine nicht geringere Tyrannei als jener über die Gewissen zu üben. Und eben diese Geschichte des religiösen und des kirchlichen Verfalles ist es, vorzüglich deren Ursachen und Folgen, die wir werden zu betrachten haben. Es mag freilich minder erfreulich sein, diesem Verfall zuzusehen, als in die Zeiten der Glaubenskraft und der Glaubenstreue sich zu versetzen, in die wir früher unsre Blicke versenkt haben; aber nicht minder belehrend ist es, und so auch nicht minder fruchtbar für unser geistiges Leben. Wir alle wandeln noch heut zu Tage bald mit offenen, bald mit schlaftrunkenen und träumenden Augen unter den Ruinen des Tempels, an dem die Väter gebaut haben, und zu dessen Zerstörung tausend geschäftige Kindeshände von allen Seiten beitrugen, bis der gewaltige Sturm der Zeit noch vollends darüber herbrauste und auch das Letzte aus den Fugen riss; wir sehen die Trümmer, aber wir wissen oft nicht, wie sie zusammenpassen. Und wenn wir uns auch freuen über das Schöne und Gute, das der schaffende Geist des Jahrhunderts, dem zerstörenden zum Trotze, wieder unter uns aufgebaut hat, so wissen wir doch nicht recht, wie das Neue zum Alten sich verhalte und wie es sich zu ihm verhalten müsse, wenn es Bestand haben und nicht wieder einem neuen Sturm unterliegen soll.

Dazu ist eben nötig, dass wir die Geschichte dieses Verfalles kennen, und zwar von allen Seiten sie kennen, damit wir in den Stand gesetzt werden, zu beurteilen, was mit Recht gefallen ist als ein Veraltetes, das nicht mehr auferstehen soll, und was mit Unrecht gefallen, als ein Heiliges, als ein Bewährtes, das wieder zu erwecken, wenn auch in andrer Form und in andrer Verbindung und Mischung, unser Beruf und die Aufgabe unsrer Zeit ist. Dazu ist aber auch ein Zweites nötig, dass wir nämlich nicht nur die Geschichte des Verfalles kennen, sondern auch das beachten lernen, was mitten unter dem Verfalle sich erhalten, ja was im Stillen und im Kleinen, oder im Großen sich erbaut hat; und dabei dürfen wir zugleich das nicht übersehen, was, wenn auch oft in einseitiger und befangener Weise, doch dazu gedient hat, den Keim des Bessern zu bewahren und vor Untergang zu sichern. Es ist überhaupt nötig, dass wir dem Zeitgeiste, von dem so viel geredet und dem alles zugeschrieben wird, was fallt und wieder ersteht, klar und fest ins Auge schauen, damit wir wissen, was er will; damit wir nicht den eignen Geist mit seinen Launen dem Zeitgeist fälschlich unterschieben; damit wir nicht eigensinnig uns verhärten gegen seine gerechten Forderungen, und eben so wenig leichtsinnig uns wiegen und wägen lassen von jedem Winde der Lehre; damit wir nicht erfunden werden als solche, die wider Gott streiten, aber wohl erfunden werden als solche, die offen dem den Krieg ankündigen, was nicht aus Gott ist.

Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist immerhin eine schwierige. Je mehr unsere Zeit selbst noch wurzelt in der jüngst vergangenen, je mehr die noch jetzt herrschenden Ansichten und Überzeugungen, die noch jetzt herrschenden Vorurteile mit dem zusammenhängen, was wir betrachten sollen: desto mehr laufen wir Gefahr, nach der einen oder andern Seite hin parteiisch zu werden. — Die alte Zeit der Reformation, auf die wir als auf die Wurzel zurückgehen müssen, ist das Gemeingut aller Protestanten; jeder sucht darin das Seinige wieder und findet es oder glaubt es zu finden, je nachdem er selbst die Zeit und ihre Bewegungen auslegt. Der strenggläubige evangelische Christ erkennt in den Reformatoren die Vorkämpfer des Glaubens, die Säulen der Kirchlichkeit, vielleicht gar die Autoritäten , über deren Ansichten hinauszugehen Frevel sei. Der Mann der Aufklärung, der Bewegung, des Fortschrittes beruft sich auf dieselben Reformatoren als auf die Freunde des Lichts und die Feinde der Finsternis, er sieht in ihnen die Propheten des Liberalismus, die nur nicht weit genug gegangen, aber die uns doch den Weg gezeigt hätten, den wir gehen sollen. Die Einen rufen wehklagend, wenn sie die neue Zeit mit jener vergleichen, von der wir ausgegangen sind: Wir sind abtrünnig geworden der Lehre der Väter, wir sind auf dem Irrwege; — und die Andern triumphieren: Wir haben errungen, was jene geahnt, wir stehen bereits auf ihren Schultern und schauen hoch über sie weg in das Morgenrot einer bessern Zeit. So berufen sich zwei einander ganz entgegengesetzte Parteien auf dieselbe Zeit, auf dieselben Männer, auf dieselben Kämpfe und dieselben Früchte ihres Wirkens. — Beider Verfahren haben wir früher schon als ein einseitiges erkannt; denn nur der hat den Geist des Protestantismus recht begriffen, der beides an ihm zu würdigen versteht, das Aufhellende und Aufräumende, wie das Feste und Positive, das er nicht zu zerstören, sondern neu zu begründen und zu beleben kam. Das werden wir auch jetzt wieder Gelegenheit haben, bei verschiedenen Anlässen zu wiederholen. Aber im 18. Jahrhundert liegen diese Extreme nicht mehr wie im 16. in und neben einander im Keime, als bloße Möglichkeiten, sie liegen als Tatsachen, als großgewordne geistige Mächte in ihrer weitesten Spannung auseinander vor unfern Augen. Hier entschiedene Freigeister (wie sie sich selbst nennen), Feinde alles Gegebnen, alles Überlieferten, alles Geglaubten; religiös Radikale, die alles neu aus der frischen gesunden Natur des Menschen, gleichsam aus frischem Holze schneiden, alles aus dem gesunden Menschenverstande heraus entwickeln und nichts wollen bestehen lassen, was diesem Menschenverstande nicht als ein Vernünftiges, zum Dasein Berechtigtes sich empfiehlt; — dort eben so entschiedene Christen der alten strengen Observanz, die nicht nur keinen Finger breit weichen wollen von dem, was ihnen als Glaube der Väter ist überliefert worden, sondern die dem Unglauben und dem Kaltsinn der Zeit einen um so glühenderen Glaubenseifer und eine um so kühnere Sprache glauben entgegensetzen zu sollen, die bis zur ernsten Weissagung des hereinbrechenden Gerichtes sich versteigt. Beide Richtungen sehen wir auftreten mit dem Anspruche protestantisch zu sein; und in der Mitte beider erscheint eine große, meist unentschiedene Masse Gelehrter und Ungelehrter, die gern das Gute der alten Zeit behalten und doch auch die Früchte der neuen Aufklärung kosten möchten, die aber, ohne dass sie es selbst merken, immer weiter von dem Strome fortgerissen werden; nur wenige kräftige, besonnene Geister, die mitten in der Überschwemmung auf einem festen Boden Fuß gefasst haben, die sich mit klarem Blicke umschauen nach dem Wind, woher er kommt, nach den Wogen, wohin sie treiben, und dann rechts und links die Hand ausstrecken , zu retten, was gerettet werden kann, doch meist auf gutes Glück hin und immer in Gefahr, von denen, die sich ihnen vertrauensvoll anhängen, wieder mit hinabgezogen zu werden in den Strudel. Ja, ein endloses Chaos von Meinungen und Bestrebungen ist es, in das wir hineinzublicken haben, und aus dem nur allmählich ein heiteres und tröstlicheres Bild uns aufgehen wird.

Das Schwierige der Aufgabe, das ich vorhin andeutete, wird nun eben darin bestehen, jeder Richtung, auch der einseitigen und verderblichen, so weit ihr Recht widerfahren zu lassen, als sie nach irgend einer Seite hin mit der Wahrheit zusammenhängt, und doch auch eben so sehr wieder das Falsche, das Einseitige, von der Wahrheit Abgekehrte, dem Irrtum Zugewendete, an jeder Erscheinung, selbst an der besten und frömmsten, bemerklich zu machen; denn was schon Grotius sagte, dass keine Sekte der Welt die Wahrheit ganz besitze, wohl aber jede Sekte etwas von der Wahrheit in sich habe: das werden wir bei all den Sekten und Parteien, die wir werden kennen lernen, bestätigt finden. Wer soll uns aber den Maßstab an die Hand geben? Die persönliche Zu- oder Abneigung, das Belieben des Einzelnen, die augenblickliche Stimmung? Gewiss nicht. Wir müssen also etwas Gemeinsames anerkennen, an dem die verschiednen Erscheinungen zu messen sind. Dieses Gemeinsame ist, unsrer einmal gestellten Aufgabe nach, kein andres als der evangelische Protestantismus, mit dessen Geschichte wir uns ja von Anfang an beschäftigt haben. Nicht was absolut wahr oder unwahr sei an den Erscheinungen , haben wir zu beurteilen (das würde uns ins Unendliche führen und wir vermöchten es doch nicht zu lösen), sondern nur wie sich eine jede dieser Erscheinungen verhalte zum Geist und Wesen der Reformation, oder, was dasselbe sagen will, zum Geist und Wesen des durch die Reformation wiederhergestellten, reinen, schriftgemäßen Christentums, das wollen wir nach bestem Wissen und Gewissen darzustellen suchen. Es wird uns zwar auch hier begegnen, dass wir unsre Ansicht von Reformation und Christentum, unsre Ansicht von Evangelium und Protestantismus, mithinanbringen zu dem Urteil; allein gewisse Grenzen sind denn damit doch gezogen, und ich glaube, was meine Behandlungsweise selbst betrifft, mich hierin wohl auf meine frühern Vorlesungen berufen zu dürfen, bei denen wenigstens das Streben nach allseitiger Billigkeit anerkannt worden ist.

Ehe wir jedoch den Geistesrichtungen des Jahrhunderts selbst näher treten, werden wir, wie wir auch früher getan haben, die äußere Geschichte des Protestantismus vorausschicken müssen; und wenn ich auch zuvor gesagt habe, dass die blutigen Verfolgungen und Religionskriege es nicht seien, welche den Charakter dieses Jahrhunderts ausmachen, so treten wir doch, wie ebenfalls von mir angedeutet worden, auf eine mit dem Blut der Religionskriege befleckte Grenze, und gewinnen damit den Faden zur weitern, wenn auch minder blutigen, doch immerhin grausamen Geschichte der Protestantenverfolgungen, von denen auch das 18. Jahrhundert noch über seine erste Hälfte hinaus nicht frei geblieben ist. — Für heute beschränken wir uns auf Frankreich.

In Frankreich machten sich die Folgen der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) noch in ihrer ganzen Härte fühlbar. Die im Lande zurückgebliebnen Hugenotten, etwa 2 Millionen an der Zahl, blieben all den Bedrückungen ausgesetzt, von denen wir in den frühern Vorträgen gesprochen haben. Nichts desto weniger blieben sie dem Glauben ihrer Väter treu. Mitten unter den Gefahren, die sie umringten, versammelten sie sich in den Wäldern, auf entlegenen Heilen, in Klüften und Höhlen, wie einst die Christen der ersten Jahrhunderte. Dies der Anfang jener Kirchen der Wüste (Assemblées du désert), über welche die neuere Zeit neues Licht verbreitet hat. Nicht lange blieb es bei dem passiven Widerstand allein. Auch darf uns nicht wundern, wenn in jenen Gebirgen des Niederlanguedoc, wenn vorzüglich in den Cevennen, wohin die Verfolgten gleich einer verscheuchten Herde sich geflüchtet, das lange von außen unterdrückte Wort nur um so kühner sich Bahn zu brechen suchte von innen heraus auf den Flügeln des Sturmes, im Rausche wilder Begeisterung. Erweckte traten auf, Kinder und Frauen schauten Gesichte und weissagten den Untergang der Welt und das Hereinbrechen der Gerichte Gottes über die römischkatholische Kirche und ihre Priesterschaft, über Frankreich und seinen König. Die Zahl der Propheten und Prophetinnen wuchs mit der der Gläubigen, Flamme entzündete sich an Flamme; denn mit eben der Begeisterung, mit der das Wort von den Propheten gesprochen wurde, mit eben derselben ward es aufgenommen und weiter fortgetragen von der Menge. Von Dorf zu Dorf, von Berg zu Berg wallten die heldenmütigen Scharen der Bekenner; Wälder und Klüfte waren ihr Nachtlager, ihre Kirchen, ihre Rathund Bethäuser; wilde Feldfrüchte, wie der südliche Himmel sie giebt, ihre Nahrung. Den nachsetzenden Verfolgern setzten sie Trotz und Todesverachtung, nicht selten auch Notwehr entgegen. Sie unterlagen der Übermacht mehr als einmal. Die Gefängnisse füllten sich mit Gottbegeisterten und ertönten von ihren Psalmen wieder. Viele starben freudig auf dem Scheiterhaufen. In dem einzigen Monat November des Jahres 1701 wurden in den Cevennen gegen 200 Propheten aufgegriffen und zu Galeeren, zu Kriegsdienst verurteilt; und im Jahr 1702 schätzte man die Zahl der Inspirierten im Languedoe auf 8.000. Die Prophezeiung wirkte ansteckend, im Begleite von gichtischen Zufällen. Auch Solche, die ausgeschickt waren, sich der Schlachtopfer zu bemächtigen, wurden von dem Geist ergriffen, der durch die Versammlung raste — sie streckten die Waffen, und redeten nun mit den Übrigen in neuen Zungen. Am meisten Verwunderung erregten die jungen Kinder, die, kaum drei bis vier Jahre alt, in reinem Französisch anfingen, Buße zu predigen. Darin erkannte man die Erfüllung der Worte: dass Gott seinen Geist ausgegossen habe über alles Fleisch, und dass er in dem Munde der Kinder und Säuglinge eine Macht sich zugerichtet habe, zu vertilgen den Feind und den Rachgierigen.

Um so grimmiger gebärdete sich die Geistlichkeit des Landes gegen diese neue Art von Predigern. Was diese als eine Wirkung des göttlichen Geistes priesen, das verdammten jene als ein Blendwerk des Teufels. Man ließ eigne Missionaire kommen, die Verblendeten zu bekehren; umsonst. Der Erzpriester der Cevennen, Abbe François de Langlade du Chaila, legte selber seine priesterlichen Hände an die Unglücklichen, indem er, wo die Worte nicht mehr verfangen wollten, sie aufs grausamste geißeln und foltern ließ; während er die reuig Zurückkehrenden mit Wohltaten überhäufte. Er büßte dafür mit seinem eignen Leben, indem ein Haufe Inspirierter sein Haus überfiel, es in Brand steckte und ihn selbst auf jämmerliche Weise zu Tode marterte. Auch andere katholische Geistliche wurden hingeschlachtet — ein neuer Grund zu noch grausameren Verfolgungen und Hinrichtungen!

An die Spitze der Verfolgten stellte sich ein gewisser la Porte aus Alais, ein Mann in seinen besten Jahren. Dieser, einst ein Schweinehändler, nannte sich nun „Oberst der Kinder Gottes, welche die Gewissensfreiheit begehren“, und datierte seine Briefe „aus dem Feldlager Jehovas“. Sowohl er als seine wilden Genossen übten mit ihren Rotten manchen Frevel an Kirchen und Kirchengeräten, an Leib und Gut der Geistlichen. Als la Porte im Gefechte mit den königlichen Truppen durch einen Schuss gefallen war, nahm Johann Cavalier seine Stelle ein, von da an das Haupt der Hugenotten und die Seele ihrer Unternehmungen. Auch er stammte aus der Gegend von Alais, aus Ribaute, und war der Sohn eines Landmanns. Als Knabe hatte er die Herde gehütet, dann das Bäckerhandwerk erlernt, späterhin in Genf einige Bildung sich angeeignet. Als ein Jüngling von einundzwanzig Jahren war er, eben beim Ausbruch des Krieges, in die Cevennen zurückgekehrt. Er war klein und gedrängt von Wuchs; den etwas dicken, tief in den Schultern sitzenden Kopf beschatteten lange braune Haare; aus dem breiten rötlichen Gesicht schaute ein großes, lebhaftes Augenpaar. Der Ausdruck seines Wesens schien eher gutmütig, als furchterregend. Dieser Cavalier, in Verbindung mit dem schweigsamen Roland aus Malet bei Andouse gebürtig, organisierte den Aufruhr. Die sich unter seine Fahne stellten, erhielten den Namen der Camisarden*).

Den Aufruhr in den Cevennen oder den Camisardenkrieg hier im Einzelnen zu erzählen, kann unsere Aufgabe nicht sein. Prof. Hofmann in Erlangen hat ihn nach den Quellen erzählt**); Tieck hat ihn bekanntlich in einer nicht beendeten Novelle als romantischen Stoff behandelt***). Uns genügt eine kurze Uebersicht.

*) Die Ableitung des Wortes ist verschieden: entweder von den Hemden (Blousen), die sie trugen (chemise, altfranz. camise), oder von den unerwarteten Überfällen (camisade) s. v. a. Wegelagerer.

**) Geschichte des Aufruhrs in den Cevennen unter Ludwig XIV. Nördlingen 1837. Außerdem wurden verglichen Brueys, histoire du Fanatisme de notre temps. Utrecht 1737. II. (aus dem römisch-katholischen Standpunkte).

***) Auch der französische Roman von Eugène Sue, Jean Cavalier ou les Fanatiques de Cévennes. Par. 1840. 4 Voll, hat eine historische Grundlage.


Gegen die Aufrührer war der französische General von Broglie mit einem Dragonerregiment und einigem Fußvolk ausgerückt. Die Camisarden hatten ihn lange durch ihre Streifzüge ermüdet, bis sie in der Nähe von Nismes es zum ersten offnen Treffen kommen ließen. Sie erwarteten den Feind auf einer Anhöhe, kniend und Psalmen singend; aber auf den ersten Angriff schlugen sie ihn in die Flucht, und bezeichneten ihren Pfad, den sie weiter fortsetzten, durch Mord und Brand. — Broglie erhielt Unterstützung durch den Herrn von Julien, einen ehemaligen Reformierten, der wieder zur katholischen Kirche zurückgetreten war; und auf abermaliges Anhalten um Hülfe von Seiten der Katholischen rückte endlich der Marschall Montrevel im Febr. 1702 mit verstärkter Kriegsmacht in Nismes ein. Montrevel erließ sogleich die strengsten Befehle gegen alle und jede Duldung der gefährlichen Sekte, und wusste diesem Befehl durch schleunigen Vollzug der Strafen Nachdruck zu verschaffen. Mit der weltlichen Macht verband sich die geistliche. Wo der Feldherr drohte und strafte, da ermahnte der fromme Bischof Flöchier in einem Hirtenbriefe die Gläubigen seines Sprengels zum Gebet, um die Bekehrung der Sünder zu bewirken und den Zorn Gottes von den Gläubigen abzuwenden. Aber Montrevel wartete die Wirkung dieser Gebete nicht ab. Als am Palmsonntage eine Schar Hugenotten in der Nähe von Nismes in einer Mühle sich versammelt hatte, um Gottesdienst zu halten, ließ er die Mühle erst von Dragonern umstellen und dann in Brand stecken. Wer dem Feuer entrinnen wollte, ward von den Dragonern niedergemacht. An 150 Personen, darunter Greise, Weiber und Kinder, kamen jämmerlich ums Leben. Während dies in Nismes verübt ward, wurden auf dem Lande umher alle des Protestantismus und des Aufruhrs Verdächtigen zu Gefangenen gemacht und in die Kerker benachbarter und weiter entlegener Städte geschleppt. Aus Languedoc wurden nach und nach an 700 Menschen zu diesem Ende nach Roussillon eingeschifft. Viele Ortschaften wurden der Plünderung preisgegeben, andere gebrandschatzt. — Der ehrwürdige Greis Baron von Salgas, der für einen eifrigen Reformierten galt, ward auf die Galeere geschickt, von der ihn erst 15 Jahre später die Fürbitte vornehmer Personen befreite. Diese harten Maßregeln verfehlten indessen, wie gewöhnlich, ihren Zweck: die Zahl der Aufrührer mehrte sich, und mit ihr die Gewalttat auch von ihrer Seite; denn wo die Camisarden einen Sieg erfochten, da konnte man auf grausame, auf unmenschliche Rache sich gefasst halten. Es ging wo möglich noch ärger her, als die deutschen Aufrührer im Bauernkriege es getrieben hatten. — Als sich der Krieg immer mehr in die Länge zog, kamen endlich der königliche Intendant Baville und der Marschall Montrevel überein, den ganzen Landstrich der obern Cevennen, der an 466 Dörfer und Weiler und in ihnen an 20.000 Menschen umfasste, zur Wüste zu machen, um den Camisarden alle weitern Mittel zur Fortsetzung des Krieges abzuschneiden. Nur wenige größere Orte sollten verschont werden; alle Einwohner der übrigen sollten binnen drei Tagen nach Empfang des Befehls auswandern, die Dörfer niedergemacht werden. Im September desselben Jahrs ward Hand ans Werk gelegt und bereits am 14. Dezember war das letzte Haus des letzten Dorfes zerstört. Indessen richteten sich auch die Augen des übrigen protestantischen Europas auf den Cevennenkrieg. In England und Holland sammelte man Unterstützungen; einer der französischen Ausgewanderten, der Marquis von Miremont, wusste die Königin Anna in das Interesse der Camisarden zu ziehen, und wenn auch die gemachten Versuche, ihnen Hilfe zu senden, fehl schlugen, so erhöhte doch die Teilnahme schon den Mut der Bedrängten. In mehreren Gefechten waren sie glücklich — selbst weibliche Heldinnen erinnerten an die alten Zeiten der Richter. So ein siebzehnjähriges Mädchen, Lucretia Guignon, die mit den Worten „hie Schwert des Herrn und Gideon“ den Dragonersäbel schwang, mit dem sie die Feinde verfolgte. Wenn die protestantischen Mächte den Mut der Camisarden anzufeuern suchten, so war es der Papst Clemens XI. seinerseits, der mit Ablässen und geistlichen Segnungen die Bistümer zu beglücken versprach, die sich in der Verteidigung des allerheiligsten Glaubens rühmlich auszeichnen würden; und fochten dort Jungfrauen in den Reihen der Begeisterten, so sah man hier Greise sich erheben, wie den Einsiedler „Bruder Franz Gabriel“, dem die Camisarden seine Einsiedelei verbrannt hatten, und der nun, in Verbindung mit noch drei andern, unter welchen der baumstarke Müller Florimond sich auszeichnete , ein eignes Corps von 400 Mann warb, um die Feinde der Kirche damit zu bekriegen. Diese, die sogenannten Kreuzritter, hausten furchtbar, so dass auch die katholische Bevölkerung genug von ihnen zu leiden hatte und die versammelten Stände von Languedoe laute Klage wider sie erhoben. Nicht besser machten es ihrerseits die Wegelagerer, die Camisarden. Hinter den Mauern und Weinbergen von Nismes versteckt, schossen sie auf die vorübergehenden friedlichen Einwohner der Stadt, welche herauskamen, ihre Felder zu bestellen. Montrevel ließ die Mauern niederreißen und gab den Leuten, wenn sie aufs Feld gingen, eine Bedeckung mit. Umsonst! — aus einem Hinterhalt vertrieben, hatten die nie Ermüdenden gleich wieder einen andern gefunden; alle Gebirgswege, alle Schluchten und Höhlen machten sie sich zu nutze, während die königlichen Truppen, des Landes ungewohnt, vergebens ihre Kraft verschwendeten. Diesen fing der Krieg an beschwerlich zu werden, besonders in der Winterzeit; und selbst Montrevel, der erst getan, als ob er alles verschlingen wollte, ward der Sache müde. Eine Niederlage, die sein Unterbefehlshaber Jonquières den 14. März 1704 erlitt (in der Einöde les Devois des Martignargues), brachte ihn in Missachtung bei Hofe. Er verließ die Landschaft, nachdem er zuvor noch (in dem Treffen bei Nages) einen Sieg über die Camisarden erfochten hatte, um nun dem Herzog von Villars seinen Platz einzuräumen. Nicht lange mehr, und es handelte sich um den Frieden; denn auch Cavalier suchte denselben, nachdem er vergebens gestrebt hatte, die gewichene Zucht in seinen verwilderten Scharen wiederherzustellen. Cavalier war bisher nicht nur im Felde der Tapferste und Einsichtsvollste, er war auch in den kirchlichen Zusammenkünften als Prophet und Inspirierter tätig gewesen. Aber wie sein Schwert ihm erlahmte in der Hand, so erstarb ihm auch das prophetische Wort auf der Zunge. Der Geist schien ihn verlassen zu haben, und die fleischliche Gesinnung gab sich jetzt in ihrer ganzen Blöße dar. Eitel und selbstsüchtig, suchte er vor allem einen günstigen Frieden für sich und gab das fernere Schicksal der Protestanten, um des willen doch der Krieg geführt worden war, leichtsinnig preis. Nachdem man ihm den Rang eines Obersten in königlichen Diensten außerhalb Frankreichs angeboten und seinem Regiment einen reformierten Prediger gestattet hatte, bekümmerte er sich wenig mehr um die übrigen Glaubensgenossen. Er gab sich schon zufrieden, als man diesen freien Abzug aus dem Lande gestattete. Von Duldung des Gottesdienstes im Lande konnte keine Rede sein. Und doch meinte er auf diese Bedingung hin, die er freilich nur ungern eröffnete, die Seinigen zum Frieden bewegen zu können. Aber er traf auf heftigen Widerstand. „Verräter!“ tönte es ihm von allen Seiten entgegen; er war seines Lebens nicht mehr sicher, feine Rolle war einstweilen ausgespielt; er trat ab vom Schauplatze. An seiner Stelle suchte nun der verwegene Roland die Scharen im Feuer zu erhalten; und neben ihm Ravanel, der sich von Anfang des Krieges an neben Cavalier und Roland durch seine Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Roland verlor bald darauf (14. August 1704) das Leben durch einen feindlichen Schuss; die andern Führer kamen entweder ebenfalls um, bald im Gefecht bald auf dem Richtplatze, oder sie fielen freiwillig ab. Nur Ravanel stand noch ungebrochen und unerschüttert da. Fünfhundert Thaler waren dem ausgesetzt, der ihn lebendig, tausend Livres dem, der ihn tot einbrächte. — Nun erst, als alles verloren schien, wachten in dem abtrünnigen Cavalier die alten Sympathien wieder auf, und dies um so lebhafter, als er sich in seinen Erwartungen rücksichtlich seiner Aufnahme bei Hofe schmählich getäuscht sah. Der gefangene Löwe entfloh seinen Begleitern, die ihn über die Grenze hätten bringen sollen, in der Nähe von Besançon und entkam in die Schweiz, von da nach Piemont, wo er aus den reformierten Flüchtlingen ein neues Heer sich zu sammeln anheischig machte. In der Schweiz, namentlich in Lausanne, fanden sich viele solcher Flüchtlinge ein, die erst vom savoyischen Gesandten und dann auf gemeinschaftliche Kosten der englischen und der niederländischen Regierung unterhalten wurden. Der französische Gesandte verlangte von der Berner Regierung ihre Wegweisung; sie zogen sich in das Bistum von Basel zurück, von da vertrieb sie wieder der Bischof. Nun wandten sie sich nach Zürich und von da ins Württembergische. Überall wo sie hinkamen, ließen sie Samen ihres schwärmerischen Wesens zurück, aus dem später üppige Gewächse aufschossen. Unterdessen dauerten die Verfolgungen in den Cevennen fort; Hinrichtungen folgten auf Hinrichtungen; auch Ravanel endete unter Psalmengesang auf dem Scheiterhaufen, mit ihm Catinat, ebenfalls einer der Tapfersten, und noch Andere mehr.

Noch immer waren die hoffnungsreichen Blicke der Sekte auf die beiden protestantischen Seemächte, Holland und England, gerichtet. Cavalier, der jetzt als Oberster in den Diensten des Herzogs von Savoyen stand, ging mit Erlaubnis seines Herzogs nach Holland, im Jahre 1706. Seine Erscheinung machte dort solches Aufsehen, dass, wenn er ausging, das Volk in großen Scharen ihn umdrängte. Auch von der dortigen Regierung erhielt er Oberstenrang, und mit diesem den Auftrag, ein Regiment von 6—700 Mann aus flüchtigen Reformierten und Camisarden anzuwerben. — In demselben Jahre kam ein Vetter Cavaliers, Johann Cavalier, mit noch zwei andern Camisardenflüchtlingen nach London. Alle drei besaßen zugleich die Prophetengabe; besonders machten die Weissagungen des Einen, Elias Marion, Aufsehen. Bald wurden die Kinder des Landes von demselben Geist ergriffen, der in den Propheten wirkte. Ein englischer Edelmann, Namens Laey, bekam ähnliche Entzückungen wie sie. Dies konnte der bischöflichen Kirche nicht gefallen, die überall auf Ordnung hielt. Der Bischof von London gab dem französischen Konsistorium daselbst den Auftrag, die Sache zu untersuchen. Das Konsistorium erließ im Januar 1707 ein Gutachten, worin die Eingebungen jener Propheten für fleischlich und betrügerisch erklärt wurden. Es erschienen Schriften für und wider sie. Der Pöbel mischte sich mit ein, und während ein Teil desselben die vorgeblichen Wunder anstaunte, bestürmte der andere die Häuser der Propheten und drohte sie zu steinigen. Der Unglaube, der eben damals in England seine mächtigsten Organe hatte, spottete nicht ihrer allein, sondern benutzte die Ausartung als einen willkommenen Anlass, um den Glauben an höhere Offenbarungen und Eingebungen überhaupt lächerlich zu machen. Die Geistlichkeit Englands war in großer Verlegenheit. Sie stand zwischen dem spottenden Unglauben und dem rasenden Fanatismus ratlos in der Mitte. Endlich machten sich die Propheten anheischig, die Wahrheit ihrer Sache durch Wunder zu beweisen; und obwohl auch diese missglückten, wie ihre Weissagungen, so wuchs die Zahl ihrer Verehrer dennoch, bei Vornehmen und Geringen, sowohl in London als in andern Städten Englands. — So hatte der Vulkan, der im Gebirgsstocke der Cevennen wurzelte, allmählich seine Funken weiter gesprüht; aber der Krater selbst war am Ausbrennen, am Verkohlen. Es erlosch allmählich das Feuer der Begeisterung auf dem ursprünglichen Herde, und der traurige Krieg nahm ein eben so trauriges Ende, ohne dass ein förmlicher Friedensschluss dieses Ende bezeichnete.

Blicken wir auf diesen merkwürdigen Krieg zurück, so ist er kaum den Religionskriegen beizuzählen, in welchen es sich, wie bei den frühern Religionskriegen in Frankreich, um das Recht eines freien protestantischen Bekenntnisses und die Ausübung des protestantischen Gottesdienstes handelte. Kam auch dieses mit zur Sprache, so schien es doch mehr ein Vorwand zu anderweitigen politischen Begehren. Beobachten wir das Benehmen der Camisarden selbst genauer, so fehlt ihm durchaus jener ernste Halt, jene Besonnenheit und Sicherheit des Glaubens, jene strenge Sittlichkeit, wie wir sie in den Kriegsheeren der Hugenotten kennen gelernt haben. Nicht als ob es dort gänzlich an Verirrungen und Übertreibungen gefehlt hätte, oder als ob nicht auch hier Regungen eines bessern evangelischen Geistes stattgefunden hätten. Aber was dort Ausnahme war, erscheint hier als Regel, und so umgekehrt. Im Allgemeinen hat der Krieg in den Cevennen den Charakter des politischen Aufruhrs und der Schwärmerei, und er ist daher am besten dem deutschen Bauernkriege im Zeitalter der Reformation zu vergleichen*) und auf ähnliche Prinzipien zurückzuführen, wie dieser; auf Prinzipien, wie sie etwa die frühesten Wiedertäufer geltend machen wollten, denn auch sie beriefen sich, wie diese, auf neue Offenbarungen, auf wunderbare Vorfälle, auf Weissagungen und Verzückungen. Wir wissen aber, wie Luther über jene Erscheinungen geurteilt hat, und so muss der Protestantismus noch immer über ähnliche Erscheinungen urteilen. Deshalb nehmen auch manche protestantische Kirchenhistoriker Anstand, ob sie die Camisarden überhaupt nur zu den Protestanten rechnen oder sie nicht lieber als eine dem Protestantismus wie dem Katholizismus gleich fremde schwärmerische Sekte behandeln wollen. Schon gleich bei ihrem Auftreten in der protestantischen Welt erklärten sich die Stimmen der besonnenem Theologen, wie die eines Turretin zu Genf, entschieden gegen sie; ja diese Theologen mussten sich um so mehr gegen sie erklären, als die verständige Nüchternheit, in welche die protestantische Orthodoxie jener Zeit übergegangen war, am wenigsten ein Mittel der Verständigung darbot. Entweder schaute der damalige Protestantismus, in altorthodoxer Weise, in den wunderbaren Erscheinungen Blendwerke des Teufels (wofür auch die Katholiken sie ansahen), oder er verlachte dieselben als Betrug und Schwärmerei, im selbstgefälligen Bewusstsein der nunmehr erlangten aufgeklärteren Denkweise. Der heutige Protestantismus muss anders urteilen. Auch er weiß wohl zu unterscheiden zwischen dem reinen Feuer evangelischer Begeisterung und der wilden Flamme des Fanatismus. Auch er wird im Ganzen die Auftritte in den Cevennen als Verirrungen der Schwärmerei bezeichnen. Was aber jene begleitenden Umstände betrifft, das Ergriffensein von einer unerklärlichen Macht, das Hellsehen, das Zungenreden, mit all den wunderlichen Gebärden und Zufällen, so hütet er sich, über die Tatsachen selbst ein vorschnelles Urteil zu fällen. Er verweist sie in das große, noch lange nicht ausgeforschte Gebiet der höheren Natur- und Seelenkunde. Das aber steht ihm fest, dass die Wahrheit und Reinheit einer Lehre nicht ruht auf der Menge der Wunder und Weissagungen, selbst wenn es damit in der Regel noch besser beschaffen wäre, als gewöhnlich der Augenschein hinterher es lehrt. Diese sind ihm ein unsicheres Gewährsmittel. Da gilt ihm das, was schon Luther über die Zwickauer Propheten geurteilt hatte, dass es nicht auf das ankomme, was im Notfall auch der Teufel nachtun könne, sondern auf den demütigen in der Versuchung sich bewährenden Geist. — Nun lässt sich zwar für die Camisarden außer ihren zweideutigen Weissagungen und Wundern noch etwas anderes anführen, was eher Bewunderung verdient: ich meine die Standhaftigkeit, womit einige unter ihnen ihre Sache verteidigten, und den Mut, mit dem sie in den Tod gingen. Viele starben ja, ähnlich den früheren Märtyrern, unter Gebet und Gesang, mit freudigem Lächeln. Als einer der Camisarden, Namens Maillé, zum Tode durch das Rad verurteilt wurde, hörte er lächelnd sein Urteil an. Lächelnd zog er durch die Straßen zum Richtplatze. Als ihm schon die Glieder zerbrochen waren, hatte er noch Kraft genug, die Priester zurückzuweisen, die ihn zum römisch-katholischen Glauben bekehren wollten; noch ermutigte er die Andern, so vieler zu sprechen vermochte, und starb mit heiterer Miene. Ein andrer, Boëton, predigte noch vom Rade herab so lange, dass man ihm bloß darum den Todesstoß gab, weil man mit Recht fürchtete, es könnte durch dieses grässliche Schauspiel die Phantasie der Menge aufgeregt werden, so dass sie Partei für die Verfolgten zu nehmen bewogen würde.

Allerdings verdienen solche Helden Bewunderung; allein selbst der mutvollste Tod vermag an und für sich eben so wenig als das auffallendste Wunder die Wahrheit einer Sache zu beweisen. Auch der Schwärmer geht für seine Lehre in den Tod; auch Verbrecher schon hat man mit freudigem Mute und unter hartnackigem Läugnen ihres Verbrechens oder gar unter scheinheiliger Beschönigung und Lobpreisung desselben sterben sehen. Was den Märtyrertod zum Märtyrertode macht und ihn als eine große sittliche Tat heraushebt, ist die Unterlage eines im Dienste der Wahrheit vollbrachten Lebens, einer ächten, gediegenen, selbst im Tode nicht wankenden Überzeugung. Erst wo der freiwillige Tod als die Blüte einer in heiligen Überzeugungen gewurzelten und bewährten Gesinnung erscheint, erst da vermag er zugleich ein Zeugnis abzulegen von der Redlichkeit und Festigkeit der Überzeugung selbst. Diese aber wird nicht besser oder richtiger durch den Tod, den man für sie leidet, so wenig als durch das Wunder, das man für sie tut; sie hat ihren Maßstab an etwas anderem, am Worte Gottes. Wer diesem gemäß handelt, der leidet auch diesem gemäß. Wie es falsche Wunder gibt, so gibt es auch ein falsches Märtyrertum. Aber es gibt nur eine Wahrheit, und für diese zu leben und zu sterben ist des Christen würdig. — Fragen wir nun bei den Camisarden nach diesem tieferen Grunde der einen Wahrheit und der Überzeugung von ihr, so finden wir eben hier nicht mehr dasselbe klare sichere Glaubensleben, wie bei den alten Hugenotten, einem du Plessis Mornay u. a. Der gelehrte und kräftige, aber mitunter leidenschaftliche Peter Jurieu († 1713) kann als der letzte hugenottische Theologe der alten Zeit betrachtet werden. Unter den eigentlichen Camisarden finden wir keine ausgezeichneten Lehrer und Theologen mehr, nur Kämpfer mit der Streitaxt und dem Schwerte, oder Propheten nach ihrer Weise. Das klare Bewusstsein ist gewichen, unklare Begeisterung an dessen Stelle getreten. Der Same des Wortes war überwachsen und überwuchert von dem unkrautartigen Schlinggewächs einer wilden aufrankenden Phantasie, so dass von ruhigem und gedeihlichem Heranreifen der Frucht wenig zu hoffen war. Viele der gepriesenen Propheten machten sogar sich grober Ausschweifungen und fleischlicher Vergehen schuldig; und wo auch eine strengere Disziplin sich geltend machte, da war es mehr der blinde Gesetzeifer, als die rechte christliche Zucht, welche das Szepter führte. So war im Heere Cavaliers dreimal täglich gemeinsames Gebet, alles Schwören und Fluchen war streng verboten, ja Cavalier bedrohte Einen mit dem Tode, welcher bei einer über ihn gehaltenen Untersuchung seine Unschuld mit einem Schwur bekräftigen wollte. Aber wie stimmt diese Strenge zu Cavaliers eigner Eitelkeit, zu der unmenschlichen Grausamkeit der Camisarden und zu den wüsten Lastern, denen sich selbst Anführer hingaben? Der Schatten alter Größe war noch da, aber der Leuchter war weggerückt von seiner Stelle, und das Licht erloschen. Das alles entschuldigt freilich auf der andern Seite das Benehmen der Regierung und der Geistlichkeit, welche die Camisarden zu verfolgen befahlen, keineswegs. Sie verfolgten in ihnen nicht den Aufruhr allein, sondern zugleich mit Willen und Wissen den Protestantismus. Diesem galt ihr Hass, wie es sich von den Tagen Calvins an, in der Bluthochzeit, in den Religionskriegen, in den Dragonaden gezeigt hat, und wie es sich uns in der fernern Geschichte der Verfolgungen des Protestantismus in Frankreich zeigen wird.

*) Nur mit dem Unterschiede, dass dort das Politische von Anfang an das Motiv war, während es hier erst aus der frühern religiösen Währung sich herausentwickelte. Die Camisarden wurden aus Verzweiflung dahin getrieben, worein die deutschen Bauern (wenigstens nach Luthers Ansicht) zum Teil aus Mutwillen verfallen waren.