Erklärung der Begriffe: sozial und Sozialismus

Verehrte Anwesende!

An den vielen Fragen, welche unsere Zeit bewegen, ist eine neue, die soziale, hinzugetreten. Ich will versuchen, Ihnen die Bedeutung des Begriffes: sozial in kurzen Worten zu erklären. Man bezeichnet mit dem Worte: sozial alle die Verhältnisse, die aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen, aus dem natürlichen Verkehr, dem Handel und Wandel derselben hervorgehen — diese Verhältnisse im weitesten Umfange und ohne Beschränkung auf irgend welche einzelne Beziehungen genommen. Dies wird Ihnen deutlicher werden, wenn ich die Sozialwissenschaft oder den Sozialismus, als die Wissenschaft von diesen Verhältnissen, mit andern Wissenschaften Vergleiche, welche sich ebenfalls mit den Beziehungen der Menschen unter einander beschäftigen.


Die Politik z. B. hat es auch mit dem Zusammenleben der Menschen, mit der Gesellschaft zu tun, aber nur in der einen Beziehung, dass sie untersucht, wie bei diesem Zusammenleben die Einzelnen sich einer gemeinsamen Regel und einer Gewalt, welche diese Regel handhabt, unterordnen, ohne jedoch im Übrigen sich sehr darum zu kümmern, wie diese Einzelnen unter sich verkehren und welche Verhältnisse daraus hervorgehen, so lange diese nur nicht das Verhältnis zur Staatsgewalt berühren.
Die Rechtswissenschaft will auch das Zusammenleben der Menschen ordnen; aber auch sie begnügt sich damit, nur gewisse feste Schranken zu ziehen, innerhalb deren sich dasselbe bewegen soll; wie es sich übrigens gestalte. Das ist ihr gleichgültig, wenn nur jene Schranken nicht verletzt werden.
Endlich die Staats- oder Volkswirtschaftslehre geht zwar näher auf die eigentlichen materiellen Verhältnisse und Wirkungen des Verkehrs ein, aber sie betrachtet denselben mehr in seinen allgemeinen Folgen für das Ganze, für die Erzeugung eines sogenannten Nationalreichtums oder die Vermehrung der Gütermasse überhaupt, als in seinen Rückwirkungen auf das Wohl und Wehe der Einzelnen und auf das Verhältnis der verschiedenen Klassen der Gesellschaft zu einander.

Während also alle diese Wissenschaften nur einzelne Seiten oder Beziehungen der gesellschaftlichen Zustände berücksichtigen, will der Sozialismus sie alle umfassen, will er das Zusammenleben der Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in größter Allgemeinheit zum Gegenstande der Betrachtung erheben.

Das ist das Eine, wodurch der Sozialismus sich von allen den Wissenschaften unterscheidet, die sich bisher in die Behandlung der gesellschaftlichen Fragen geteilt haben.

Das Zweite ist die gründlichere oder, wenn Sie wollen, radikalere Weise der Betrachtung, die dem Sozialismus, gegenüber jenen andern Wissenschaften, eigen ist. Was jene Wissenschaften als feststehende Wahrheiten, als fertige Resultate, als nicht weiter zu begründende Voraussetzungen aufstellen oder gelten lassen, Das ist für den Sozialismus selbst erst wieder ein Gegenstand der Frage, der Prüfung, der Kritik. Der radikalste Politiker erhebt sich nicht über die Forderung allgemeiner politischer Gleichheit und Freiheit, allgemeiner Teilnahme Aller an den öffentlichen Angelegenheiten, völliger Pressfreiheit u. dergl. m. Der Sozialist bleibt dabei nicht stehen. Was hilft mir, sagt er, eine Gleichheit Aller, die dem Buchstaben des Gesetzes nach, auf dem Papiere, aber nicht in der Wirklichkeit besteht, nicht bestehen kann, so lange die äußeren Bedingungen nicht bei Allen dieselben sind, so lange in Bezug auf Vermögen, Bildung und gesellschaftliche Stellung noch so große Unterschiede, wie jetzt, existieren? Was ist Das für eine Freiheit, wo der Arme durch die eiserne Notwendigkeit in die größte, unwürdigste Abhängigkeit von dem Reichen versetzt wird, wo der Arbeiter der Sklave Dessen ist, der ihm Arbeit und Brot verschafft, wo er sich allen Unbilligkeiten und Launen seines Brotgebers widerstandslos fügen muss? Was hilft uns Pressefreiheit, was hilft uns eine Volksregierung, wenn nicht Alle durch ihre Bildung gleichmäßig befähigt sind, sich der Presse zu bedienen, wenn jene angebliche Volksregierung nur wieder eine Herrschaft der begüterten und gebildeten Klassen ist, bei der das eigentliche Volk, die Masse, leer ausgeht? Kurz, dem Sozialisten ist der politische Radikalismus noch lange nicht radikal, konsequent genug; ihm gilt die politische Freiheit und Gleichheit Nichts, wenn sie nicht zugleich die allgemein menschliche Freiheit und Gleichheit, die Freiheit und Gleichheit in allen Beziehungen, auch den ökonomischen, auch denen des natürlichen Verkehrs, mit sich führt.
Die Rechtswissenschaft sucht zwar die Eigentumsverhältnisse zu regeln; darüber aber, dass es überhaupt ein Eigentum geben müsse, geht ihr kein Zweifel bei. Das nimmt sie für gewiss, für sich von selbst verstehend an. Nicht so der Sozialismus. Er untersucht den Begriff des Eigentums selbst; er fragt, ob das Bestehen eines festen, abgeschlossenen Eigentums eine Notwendigkeit, ob es in den Gesetzen der menschlichen Natur, in den Gesetzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens begründet sei, oder nicht. „Qu'est ce que lu propriéte?" so heißt eine bekannte Schrift des französischen Sozialisten Proudhon, und seine Antwort darauf lautet: „La propriété c'est le vol." Und der deutsche Kommunist Weitling erklärt das Eigentum für eine Erfindung und sucht nachzuweisen, durch welche Verkehrung natürlicher Verhältnisse und Begriffe man auf diesen Gedanken des Eigentums gekommen sei.

Die Nationalökonomie endlich will zwar die Gesetze des Handels, die Bedingungen des Verkehrs, die staatswirtschaftlichen Wirkungen des Geldes ergründen; das aber fällt ihr nicht ein, dass der Handel überhaupt in seiner gegenwärtigen Gestalt, als ein Verkehr des Einzelnen mit dem Einzelnen, dass das Geld als Verkehrs- und Tauschmittel etwas Falsches und Vernunftwidriges sein könne. Wohl aber wirft der Sozialismus diese Frage auf. Er begnügt sich nicht damit zu fragen: wie ist der Handel, wie ist das Gewerbewesen, wie ist der Geldumlauf am Zweckmäßigsten zu regeln? sondern er will die ganze gegenwärtige Gestaltung unseres Verkehrswesens, die ganze gegenwärtige Art unserer Arbeitsteilung in der Industrie, samt dem Gelde, abgeschafft und durch eine völlig neue Organisation der Verkehrs- und Arbeitsverhältnisse ersetzt wissen.

In dieser Gründlichkeit, in dieser Konsequenz des Forschens, womit der Sozialismus Das, was andere Wissenschaften schlechthin für wahr annehmen, von Neuem in Frage stellt und so gleichsam alle Resultate früherer Forschungen wieder in den Schmelztiegel der Kritik zurückwirft, darin liegt die unbestreitbare wissenschaftliche Berechtigung des Sozialismus. Ich sage ausdrücklich: des Sozialismus, nicht: dieses oder jenes sozialistischen Systems, nicht: dieses oder jenes sozialistischen Versuchs. Ob die Aufhebung des Eigentums, ob die Abschaffung des Geldes, ob die radikale Umgestaltung aller unserer gesellschaftlichen und Verkehrsverhältnisse und die an dessen Stelle geträumte neue Organisation der Gesellschaft, wie sie der größte Teil der Sozialisten vorschlägt, wissenschaftlich gerechtfertigt oder praktisch möglich sei, Das ist eine Frage, die selbst erst wieder wissenschaftlich und praktisch erörtert sein will; allein, dass die konsequente Durchforschung und Kritik aller dieser sozialen Verhältnisse eine notwendige Folge des freien Denkens und Forschens überhaupt, eine notwendige Folge jener andern Forschungen auf politischem, juristischem und staatswirtschaftlichem Gebiete sei, deren Berechtigung teils in der Wissenschaft, teils selbst im praktischen Leben anerkannt ist — Das erscheint mir wenigstens als unzweifelhaft, und darum sagte ich: der Sozialismus als eine neue Wissenschaft oder wenigstens als eine wissenschaftliche Forschung sei in dieser Hinsicht unabweisbar und berechtigt.

Aber nicht bloß eine wissenschaftliche Berechtigung hat der Sozialismus, er hat auch eine praktische, er hat die Berechtigung und Bedeutung einer Tatsache. Der Sozialismus ist da, sein Dasein ist nicht mehr abzuleugnen, weder durch vornehmes Ignorieren, noch durch gewaltsames Unterdrücken und Verbieten. Der Sozialismus ist nicht bloß eine Fantasie oder Grille eines vereinsamten Denkers, nicht bloß eine Luftblase in dem Gehirn jugendlicher, unreifer Schwärmer oder neuerungslustiger Tollköpfe; er ist der Gegenstand tiefer wissenschaftlicher Forschungen, er ist die Lebensaufgabe großer und heller Geister, edler Gemüter, warmer Herzen geworden. Männer aus den höchsten Klassen der Gesellschaft, Männer von erprobter wissenschaftlicher Tüchtigkeit haben sich mit dem Studium des Sozialismus beschäftigt, haben ihr ganzes Leben demselben gewidmet, haben für die Aufklärung, Verbreitung und Verwirklichung der sozialistischen Ideen mit einem Eifer, einer Hingebung, einer aufopfernden Begeisterung gewirkt, wie sie nur eine gute und große Sache zu erzeugen vermag. Da ist ein Graf St. Simon, aus einer der besten Familien Frankreichs, der unter den größten Entbehrungen und Opfern bis zum letzten Augenblick seines Lebens an der Begründung und Verwirklichung eines sozialistischen Systems arbeitet. Da ist Fourier, ein Mann, ausgerüstet mit der ganzen Schärfe und Exaktheit des französischen Geistes, da ist sein größter Schüler, Considérant, der, einer der besten Köpfe der polytechnischen Schule zu Paris und bereits, nach glänzend bestandenen Prüfungen, zum Capitaine du genie befördert, eine ausgezeichnete Stellung aufgibt, um sich ganz der Sache des Sozialismus zu widmen; da sind wieder Männer, wie Proudhon, Weitling u. A., Leute aus dem Handwerkerstande, denen der Eifer für die Erforschung dieser sozialen Fragen den Much und die Kraft gibt, durch ein mühevolles Studium sich zur Höhe wissenschaftlicher, geschichtlicher Forschungen über die höchsten Angelegenheiten des Menschen und der Gesellschaft emporzuarbeiten.

Und nicht bloß in einzelnen wissenschaftlichen Denkern und ihren Schulen, sondern auch in der Masse des Volks haben sich bereits die sozialistischen Ideen verkörpert, sind gleichsam Fleisch und Blut geworden in jenen Chartistenmeetings und Arbeiterbewegungen in England, wo die Arbeiter nicht zu Tausenden, sondern zu Hunderttausenden zusammenkommen und über ihre Interessen, über die Verbesserung ihrer Lage beraten; sie sind Fleisch und Blut geworden in jenen blutigen Arbeiteraufständen in Paris und Lyon, in jenen geheimen Gesellschaften der Kommunisten, welche trotz der Strenge polizeilicher Überwachung in der Hauptstadt Frankreichs für Verbreitung ihrer Ideen tätig sind, ferner in jenen Handwerker-, Bildungs- und andern Vereinen in der Schweiz, welche die Fäden ihrer kommunistischen Propaganda nach allen Seiten hin und namentlich auch nach Deutschland herüberspinnen, und wiederum in jenen friedlichen, blühenden Ansiedelungen auf dem freien Boden Nordamerikas, die, nach sozialistischen Musterbildern organisiert, diese Ideen in der Praxis pflegen und ausbilden, ohne sich sehr um ihre theoretische Entwicklung zu kümmern. Und in Deutschland, wie steht es da in dieser Hinsicht? Manche meinen wohl: uns liege diese Bewegung noch fern, und es sei daher unzeitig, schon jetzt sich damit zu beschäftigen; es heiße Das wohl gar, sie mutwillig herbeibeschwören. Aber täuschen wir uns darüber nicht! Auch auf deutschen Boden hat der Sozialismus bereits seinen Fuß gesetzt, hat bereits ein nicht geringes Terrain auch hier sich erobert. Wenn ein Blick in unsere Literatur, die wissenschaftliche wie die journalistische, ja selbst die schöngeistige, wenn die Kunde von kommunistischen geheimen Verbindungen und Vereinen, die von Zeit zu Zeit bald hier bald dort auftaucht, wenn die auch unter den deutschen Arbeitern da und dort aufzuckenden Bewegungen uns darüber noch in Zweifel lassen könnten, so würden doch schon die ängstlichen Mienen Derer, die von einem Hereinbrechen sozialistischer Ideen am Meisten zu fürchten haben, so würden die geschäftigen Bestrebungen dieser Leute, durch Palliativmittel oder dadurch, dass man selbst die Frage der sozialistischen Reform in die Hand zu nehmen sucht, dieser Frage die Spitze abzubrechen, so würden endlich die Maßregeln unserer Staatspolizei — von jenem strengen Bundesverbote gegen alle kommunistische Verbindungen und Versammlungen an bis zu dem neuesten merkwürdigen Schritt der offiziellen Staatszeitungen, die, wahrscheinlich verzweifelnd an der Macht der Verbote, die gefährlichsten Ideen aus den Schriften eines der Mitglieder der schweizerischen Propaganda selbst dem deutschen Volke mitteilten, indem sie an dessen gesunden Sinn appellierten — dem man doch sonst von dieser Seite her wenig Vertrauen zu bezeigen pflegt — so würde, sage ich, dies Alles uns unbedingt darauf führen müssen, dass der Sozialismus auch für uns schon eine nicht mehr abzuweisende Zeit- und Lebensfrage geworden ist.

Die praktische Bedeutung des Sozialismus für unsere Zeit, die Notwendigkeit, sich mit ihm zu beschäftigen, beruht aber auch nicht bloß in seiner tatsächlichen Erscheinung und in der Macht und Verbreitung, welche seine Grundsätze bereits erlangt haben; sie geht aus den Verhältnissen selbst und dem immer lebendiger, immer allgemeiner werdenden Gefühl von der inneren Disharmonie und der Unhaltbarkeit dieser Verhältnisse hervor. Wir weiden uns mit Befriedigung an den Ungeheuern, beinahe zauberhaften Fortschritten unserer Industrie und unsres gesamten Kulturwesens; wir blicken mit Stolz auf die zahllosen neuen Erfindungen und Entdeckungen, die der menschliche Geist täglich macht — allein können wir uns verhehlen, dass jene Fortschritte, dass der ganze gewaltige Aufschwung unserer Industrie mit dem Elend, der geistigen und körperlichen Verkümmerung eines großen, ja des größeren Teils unserer Mitmenschen erkauft wird? dass jede neue Erfindung, welche der Industrie einen neuen Aufschwung gibt, jede neue Maschine allemal eine Menge von Arbeitern brotlos oder zu Sklaven eines tobten Mechanismus macht? Diese Betrachtung, die mit unwiderstehlicher Macht sich uns aufdrängt, verleidet uns fast die Freude an den glänzenden Erfolgen unserer Zivilisation, und es will uns dann oft scheinen, als seien jene Erfolge denn doch zu teuer erkauft mit dem Opfer des Wohlbefindens, der Freiheit, ja selbst der Existenz von Millionen unserer Brüder.

So weist uns denn also von der einen Seite die Konsequenz wissenschaftlichen Denkens, so drängt uns von der andern die Macht des Tatsächlichen zu einer ernsten Betrachtung der sozialistischen Fragen hin. Diesen Fragen aus dem Wege gehen, sie bei Seite schieben, sie vornehm ignorieren, sie bewitzeln oder mit geringschätzender Altklugheit über sie absprechen — Das ist eben so vergeblich und töricht, als wenn man sich einbildet, mit ihnen fertig zu werden, indem man sie gewaltsam zum Schweigen bringt. Nein! hier kann Nichts frommen, als eine ernste, gründliche, gewissenhafte und unbefangene Erörterung dieser Fragen. So unrecht es ist, wenn man dieselben zu einem bloßen Spiele der Fantasie oder der Sucht nach Pikantem benutzt, wenn man die Rot der armen Klassen und die gesellschaftlichen Übelstände nur dazu ausbeutet, um durch folternde Schilderungen oder durch pikante Kontraste das abgestumpfte Gefühl des verwöhnten Publikums zu galvanisieren (wie Dies leider von einer großen Anzahl unsrer Schriftsteller, voran der Altmeister dieser sozialistischen Belletristik, Eugène Sue, so häufig geschieht) — so unrecht Dies ist, so notwendig und heilsam ist auf der andern Seite eine ernste, wissenschaftliche Prüfung dieser Fragen. Wir dürfen diesen Fragen nicht kleinmütig aus dem Wege gehen, sondern müssen ihnen mutig ins Auge sehen; wir dürfen uns nicht scheuen, die Übelstände unsrer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung mit unerbittlicher Kritik auf zudecken und das Bild einer neuen, bessern Ordnung der Dinge, welches die Sozialisten uns entgegenhalten, fest und scharf ins Auge zu fassen.

Freilich werden ängstliche Gemüter sagen: ja, was soll aber daraus werden, wenn man alles Bestehende in Frage stellt, wenn man daran rüttelt? Gerüttelt soll an dem Bestehenden nicht werden, aber in Frage gestellt soll es allerdings werden, und es müsste schlimm um das Bestehende aussehen, wenn es eine solche Frage nicht ertrüge: es würde Dies das sicherste Zeichen sein, dass es inwendig morsch und faul wäre, und dass die Sozialisten Recht hätten, wenn sie einen radikalen Umschwung aller Verhältnisse verlangen. Nur dadurch, dass wir zur rechten Zeit die bestehenden Verhältnisse einer unbefangenen und schonungslosen Kritik unterwerfen, können wir einem gewaltsamen Umsturz vorbeugen, können wir das noch Haltbare und Lebensfähige in den gesellschaftlichen Zuständen der Gegenwart von dem Unhaltbaren und Überlebten sichten, jenes festhalten, Dieses aber auf die möglichst schonende Weise so umgestalten, wie es die Notwendigkeit erheischt; nur dadurch, dass wir den Strom sozialistischer Ideen, der sonst leicht als ein wildes Gewässer alle Dämme unsrer gesellschaftlichen Ordnung zerreißen und den ganzen Bau unserer Zivilisation hinwegschwemmen möchte, nur dadurch, dass wir ihn selbst in das Gebiet des Bestehenden hereinleiten und ihm seinen Lauf vorzeichnen, können wir ihn zu einem befruchtenden und segenspendenden machen. Was würde es uns auch helfen, wenn wir unsere Augen vor den sozialen Übelständen der bestehenden Gesellschaft verschließen wollten? Würden diese darum weniger da sein, weniger ihre verderblichen Wirkungen entfalten? Oder was hilft es, die öffentliche Besprechung dieser Fragen zu verhindern? Wird man dadurch zugleich die neue Bewegung aus den Gemütern verbannen? Nein! sie ist da und wird, wenn sie sich öffentlich nicht zeigen darf, nur um so mehr im Stillen um sich greisen und wird dann alle die gefährlichen Wirkungen entfalten, welche eine solche im Stillen schleichende Bewegung allemal mit sich führt. Diese schädlichen Wirkungen werden aber verhütet oder wenigstens gemildert werden durch das wohltätige Licht der Öffentlichkeit, des freien Aussprechens und Durchsprechens dieser Fragen.

Aus diesem Grunde glaube auch ich nichts Unnützes zu tun, indem ich Ihnen, verehrte Anwesende, diese Fragen vorführe und eine Aufklärung derselben, so weit es mir möglich ist, versuche. Ich werde dabei mit aller Unbefangenheit zu Werke gehen. Ich bin kein Sozialist, ich bin weder Anhänger des roheren Kommunismus, noch auch eines der feineren sozialistischen Systeme, wie sie bisher aufgestellt worden sind. Aber ich gehöre auch nicht zu Denen, welche den Kommunismus und Sozialismus blindlings verdammen oder vornehm bespötteln. Ich gehe daher an die Darstellung und Beurteilung aller dieser Systeme ohne ein Vorurteil, weder für, noch wider, und ich hoffe, dass Sie meine Vorträge in gleichem Sinne aufnehmen werden. Ich hege die Überzeugung, dass ein tieferes Interesse, als das der bloßen Neugier oder der Sucht nach Pikantem, Sie hierher geführt hat, und ich werde nach Kräften bemüht sein, diesem tieferen Interesse Nahrung und Befriedigung zu verschaffen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen.