Abschnitt 11

... Am Vormittag war's und er traf seine Braut allein in einem reich ausgestatteten, von heller Sommersonne vergoldeten Gemach an; bei seinem Erscheinen über der Thürschwelle stand sie auf, trat ihm in ihrer stadtberühmten Schönheit entgegen und sagte mit bezauberndem Lächeln: »Kommen Sie endlich zurück, mein lieber Bräutigam, ich habe Sie schon früher erwartet, denn nach Ihrer correspondance mit mir durfte ich mich der Versicherung überlassen, daß Ihre Gesundheit sich heureusement völlig retablirt hat, und ich befürchte nur, daß Sie sich unter den Halbwilden Ihres Domicils schlimm ennuyirt haben müssen.«

Der Angesprochene blickte stumm in das Gesicht Lucinde Eschenhagens, wie abwesenden Geistes; er konnte sich plötzlich nicht besinnen, weshalb er hierhergekommen sei und was er wolle. Aber dann gerieth ihm vom Mund: »Ich habe Dir etwas zu überbringen.«


Verwundert sah sie ihn bei der unfeinen Anrede an, doch erwiderte: »Von wem und was?«

Nun sagte er: »Einen Kuß –« und sie fiel lächelnd ein: »Da wir unter vier Augen sind, verstößt solche salutation zwischen Verlobten wohl nicht gegen die conduite.«

Ihr Gesicht neigte sich ihm leicht entgegen, aber jetzt durchfuhr ihn ein Schauder, und verworren stieß er aus: »Nein, ein Todeskuß war's, – nicht für Dich – er gehört mir allein –«

Da stand sie wieder allein im Zimmer und blickte begrifflos auf die Thür, durch die ihr Bräutigam zurückverschwunden war. Ihre Züge sprachen von einem heftigen Unwillen, der sich jedoch allmählich zum Ausdruck eines sich ihr erschließenden Verständnisses umänderte, er sei doch nicht gesund heimgekehrt, vielmehr habe während seiner Abwesenheit die Vernunft in seinem Kopf einen Stoß erlitten. Das verwandelte ihre erste Unmuthsregung zu einem theilnehmenden Bedauern, dem sich indeß wahrnehmbar eine tröstliche Beschwichtigung beigesellte, daß diese Erkenntniß ihr sogleich nach seiner Rückkunft zweifellos aufgegangen sei, und sie begab sich zur Mittheilung des traurigen Vorfalls zu ihren Eltern hinüber.

Er war in seine Wohnung zurückgekehrt, stand dort eine Zeitlang und sah mit leeren Augen um sich. Dann streckte er die Hand nach einem kleinen Bändchen auf dem Büchergestell aus, nahm es herab und schlug in den Gedichten des frühabgeschiedenen Hainbunddichters Christoph Hölty eine Seite auf, wo sein Blick sich auf zwei Strophen niederheftete. Ueber ihnen stand: ›Der Kuß‹, und die Lippen bewegend, als ob er jemandem vorläse, las er, doch ohne Ton:

»Unter Blüthen des Mai's spielt ich mit ihrer Hand
Koste liebelnd mit ihr, schaute mein schwebendes
Bild im Auge des Mädchens,
Raubt' ihr bebend den ersten Kuß.

Zuckend fliegt nun der Kuß, wie ein versengend Feu'r
Mir durch Mark und Gebein. Du, die Unsterblichkeit
Durch die Lippen mir sprühte,
Wehe, wehe mir Kühlung zu!«

Nun griff er nach einer Feder, durchstrich die Ueberschrift über dem Gedicht und schrieb an die Stelle: »Der Todeskuß.« –

Arnold Lohmer ist in seiner Vaterstadt ein hochangesehener Arzt geworden und zu hohem Alter gelangt, doch unvermählt geblieben, ohne Nachkommen gegen den Schluß des vierten Jahrzehnts im l9. Jahrhundert gestorben. Er hat mannigfache, für seine Zeit noch ungewöhnliche, weite Reisen unternommen, sich eine Kenntniß- und Geistesausbildung mit seltener Umfassung vielfältiger Wissensgebiete zu eigen gemacht, von der manche hinterlassene Schriften noch Zeugniß ablegen; aus einigen Stellen derselben geht hervor daß er als jugendlicher Zeitgenosse des Hainbundes während seiner einsamen Lebensführung oftmals auch zu einer Bethätigung seiner poetischen Begabungsmitgift gebracht worden, aber er scheint die Gedichte nur für sich selbst verfaßt und vor seinem Tode sämtlich verbrannt zu haben. Nach der Nordsee sind seine Reisen nicht mehr gerichtet gewesen, so daß er sie niemals wieder gesehn; die Niederschrift seines letzten Willens jedoch bestimmte, das von ihm hinterbleibende Vermögen solle, da er ohne Erben abscheide, als Beitrag zu einer sicheren Umdeichung der Insel Neuwerk verwendet werden, wie solche im Gang des letzten Jahrhunderts, um das schwerbedrohte kleine Eiland vor dem Untergang zu bewahren, durch die Fürsorge des hamburgischen Staates zur Ausführung gelangt ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor der Elbmündung. Reisebeschreibung