Abschnitt 5

... Sie vermieden dadurch den Anprall des fauchenden Westwindes auf ihre Breitseite, setzten ihm so nur den schmalsten Theil des Körpers aus, doch wie sonst ihr Futter vom Boden rupfend, gleichmüthige Gewöhnung an solche Wetterunbill sprach aus ihrem Behaben; die Schafe hatte man heut' im Pferch zurückgehalten, ihr dickes Wollenfell vor der Durchnässung zu bewahren. Ein trüber Tag war's und ein melancholisches Bild in stärkstem Gegensatz zu der Lichtfreudigkeit, die bisher über Neuwerk gelegen; trotz dem Maiausgang rührte auch die Luft kühlfrostig an. Doch empfand Arnold Lohmer dies nicht, und der Ausblick aus dem Fenster während seines Ankleidens verursachte ihm kein Mißbehagen. Wenn seine Augen durch die kleine Stube umhergingen, trugen die Gegenstände an der Wand und auf dem Gesims ungeachtet des trüben Lichtes wieder ein andres Gesicht als gestern; seine eigne damalige Verstimmung war von ihnen abgefallen, er sah drin nicht mehr einen Raritätenladen-Ausschuß, sondern jedes Ding war etwas für sich und besaß gewissermaßen seine Geschichte. Vermuthlich hatte der Vater Ages Terwisga die Sachen von seinen Fahrten nach tropischen Ländern mitgebracht und seine Tochter war nachher hier zwischen dieser Hinterlassenschaft großgewachsen, von deren Anblick sie täglich an ihren Vater und ihre Mutter, die sie beide nicht gekannt, erinnert werden mußte. Arnold nahm ein Korallenstück herab; das hatte die Kleine wohl schon vielhundertmal so in der Hand gehalten, und es mochte zu ihr, unbestimmte Vorstellungen anregend, von fremden Welten gesprochen haben. Denn ihm war seit gestern aufgegangen, in dem Mädchen sei ein reger Phantasiedrang lebendig, von dem ihr auch das Verlangen nach dem unbekannten Inhalt der Odyssee, die sie täglich in seiner Hand gesehn, eingeflößt worden.

Wie der fertig Angekleidete aus seiner Thür hinaustrat, um die Treppe niederzusteigen, vernahm er über sich den dumpfen Aufschlag des schweren Regensturzes auf das Hausdach. Die Herstellung desselben aus Schilfrohr hatte ihn schon bald nach seiner Ankunft gewundert, da es ihm den Gedanken angeregt, bei der häufigen wildstürmischen und nassen Witterung auf der Insel müsse von erwägender Bedachtsamkeit eigentlich eine besser schützende Bedachung aus Gebälk oder Ziegelpfannen vorgesehen werden. Doch erkannte er gegenwärtig das Irrige dieser Meinung, denn während der ganzen Nacht war kein Tropfen von außen durchgedrungen, das Rohr offenbar so dicht und fest verflochten, daß kein Wasser und Wind ihm etwas anhaben konnte und keine andre Dachart eine gleich sichere Bürgschaft geboten hätte. Der von dieser geleistete Halt ließ empfinden, sie sei im Einzelnen fast unangreifbar, wenn der Sturm drüber Herr werden solle, müsse er mit solcher Orkangewalt kommen, um im stande zu sein, das Ganze von den Steinwänden drunter loszureißen und fortzuwirbeln; zweifellos hatte die Erfahrung vieler Jahrhunderte die gleichmäßig bei allen Häusern Neuwerks vorhandene Ueberdachungsweise als die vortheilhafteste herausgestellt. Man mußte eben nicht voreilig eine von anderswoher mitgebrachte Beurtheilung auf veränderte Umstände übertragen, hier drohte weder eine Feuersgefahr, noch sahen die Inselbewohner auf eine vornehme Erscheinung ihrer Gebäude, vielmehr lediglich auf das sich den Naturbedingungen am günstigsten Anpassende. Und ähnlich verhielt sich's im Grunde auch mit dem, was man in einer großen Stadt als den Maßstab der Bildung anlegte. Die Kundigkeit des Lesens und Schreibens würde hier nur höchst selten eine Verwendung gefunden haben, und im Wesentlichsten geistiger Thätigkeit wurden die Leute auf Neuwerk durch diesen Kenntnißausfall nicht beschränkt. Dafür legten sowohl Hadlef wie Belke Terwisga genugsam Zeugniß ab, trugen ihr eigenes Denken und Empfinden in sich, das, wenn, sich's auch mit einfachsten Worten ausdrückte, die Ansammlung einer Welt- und Lebensanschauung in ihnen kundgab, wie sie von so ruhiger Sicherheit und innerlichem Erfassen der Grundlagen des menschlichen Daseins und seiner Befriedigung in wenigen der feingebildeten Häuser Hamburgs auffindbar sein mochte. Dem jungen Arzt war's heut' Morgen nicht mehr begreiflich, daß sein gestriger Mißmuth ihn darüber völlig verblendet und ihm bei noch längerer Andauer seines hiesigen Aufenthaltes gleichsam ein Hungerleiden durch Entbehrung geistiger Nahrungszufuhr vorgetäuscht gehabt. Im Gegentheil erfüllte ihn heut' ein Gefühl, er sei in dieser schlichten Umgebung der Empfangende und Lernende und ihm werde ein natürlicher Drang, sich dafür dankbar erzeigen zu können, beschwichtigt, indem er seinerseits durch das ihm zu Theil Gewordene einen Belehrungsentgelt leiste, einem Mangel und Verlangen der jungen Enkelin seiner Wirthe abhelfe. Mit solchen Gedanken stieg er, sein kleines Buch in der Hand haltend, die Treppe zu den unteren Wohnräumen hinab.


Wie er in den Pesel eintrat, verschluckten die dunklen Wände und Hausrathstücke desselben das mattgraue Tageslicht zu noch stärkerer Trübung, als droben in der Giebelstube, nur aus einem Winkel stach durch die halbe Dämmerung etwas Helles hervor, wie wenn sich eine geheime Lichtquelle, ihres Aufgangs harrend, dorthin zurückgezogen habe. Sonntag war's, und es war Age Terwisga in ihrer Sonntagstracht; von ihrem Sitz aufstehend, bot sie dem Ankömmling einen kurzen Morgengruß, ging hinaus, kehrte mit dem für ihn bereit gehaltenen Frühstück wieder und setzte sich wortlos in die Ecke zurück. Eilfertiger als sonst nahm Arnold den Imbiß ein, dann sagte er, den Kopf nach dem Mädchen umwendend, fröhlichen Tons: »Heut' wäre die Wäsche nicht trocken geworden, es war gut, daß ich Dir gestern beim Aufhängen und Abnehmen half. Dazu, dünkt mich, sind überhaupt die Menschen auf der Erde, sich gegenseitig zu helfen, jedem fehlt irgendwas, das ein andrer ihm geben kann und dafür etwas wieder bekommt. Dir ward's nicht möglich, hier auf der Insel lesen zu lernen, das hat mir die Schule beigebracht, und ich sehe heut' ein, daß es auch einen Nutzen für mich hat, denn sonst hätte ich nichts gehabt, Dir meine verlorene Wette zu bezahlen. Hübsch ist's von dem Tag so gemacht, daß ich dabei doch zugleich Deinen Einsatz gewonnen habe, und mir scheint, einen besseren Tag hätte der Himmel uns heute nicht bescheeren können.«

Halb im Ernst, halb scherzend sprach er's, leicht über ihre Unfähigkeit zum Selbstlesen als über etwas Selbstverständliches und an sich Bedeutungsloses wegstreifend; im Gegensatz zu seiner gestrigen Mißlaune klang Freundliches und Freudiges aus seiner Stimme. Age erwiederte nichts, doch der Ausdruck ihrer Züge ließ erkennen, sie habe sich um ihres Wettgewinns willen hierher begeben und sitze wartend da. Aus ihren auf den kleinen Band gerichteten Augen sah neben dem Verlangen danach eine ungewisse Scheu hervor; vermuthlich war's das erste Buch, dessen Inhalt ihr zu Gehör kommen sollte, und sie konnte sich keine Vorstellung davon machen, was in einem solchen stehe. Arnold drängte sich erst jetzt etwas bisher nicht Bedachtes auf, seine Zuhörerin könne die Odyssee nicht verstehn, ohne wenigstens einiges von der Vorgeschichte derselben zu wissen; so begann er mit einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts der Iliade, doch mußte auch dazu erst noch einen allgemeinen Ueberblick über die Lage des mittelländischen Meeres, Griechenlands und Kleinasiens voranstellen. Dann erzählte er in wenigen großen Zügen von dem Anlaß des Auszugs gegen Troja, dem Fortgang des Kampfes vor diesem und den hauptsächlichen Anführern und Helden auf beiden Seiten; eines indeß bedingte stets wieder das andre, er erkannte bald als unerläßlich, gleichfalls eine Schilderung der olympischen Götter und Göttinnen, wie ihrer Parteinahme in dem Streit um Ilium einzufügen. Das Mädchen hörte völlig bewegungslos zu, nur in ihren großgeöffneten Augen stand zu lesen, eine fremdunbekannte Welt mit Gottheiten, Menschen, Ländern und Geschehnissen, von denen sie niemals einen Laut vernommen, thue sich vor ihr auf; doch erkennbar war's auch, daß sie gespannte Achtsamkeit auf jedes Wort verwende und alle Kraft ihrer Verständnißfähigkeit anstrenge, um die Ueberfülle der fremden, seltsamen Dinge zu begreifen und im Gedächtniß zu bewahren. Zuweilen fragte der Erzähler bei der Wiederholung eines schon einmal genannten Namens: »Hast Du's behalten, der, von dem ich Dir vorhin sagte –?« Dann jedoch fiel sie jedesmal ein: »Ja, ich weiß ihn noch, er hat einen so sonderbaren Klang, der vergißt sich nicht. –« Offenbar besaß ihr Gedächtniß noch das unbeschränkte Aufnahmevermögen eines Kindes, alles prägte sich ihm als ein neuerworbenes Eigenthum fest ein. Sonst sprach sie nichts; nur als Arnold, wohl nach Ablauf einer Stunde bis zum Ende der Ilias gelangt, sein Buch zur Hand nahm, kam ihr langsam die Frage vom Mund: »Ist das alles wirklich so gewesen?« Darauf entgegnete er mit einem leichten Lächeln: »Eine Dichtung ist's, die berichtet, daß es vor Jahrtausenden so war. Aber weil's eine Dichtung ist, bleibt es immer, ob es einmal wirklich geschehen sein mag oder nicht, und ist auch noch jetzt so. Das kann ich Dir nicht – Du wirst's noch nicht recht begreifen –«

Aber dazu nickend, sagte sie ernsthaft: »Ja, ich begreife, es bleibt immer,« und er schlug nun nach der Vorbereitung die Odyssee auf und begann den ersten Gesang zu lesen, dasjenige, was der Hörerin darin nicht verständlich sein konnte, mit kurzen Worten erläuternd. Ihm war's einmal aufgeschossen, er habe sich durch ihren Wunsch bedachtlos zu einem thörichten Vorhaben verleiten lassen, das vollkommen jeder Vorbildung baare Mädchen mit der großen homerischen Dichtung bekannt zu machen; doch wenn er hin und wieder den Blick zu ihr aufhob, sah er, daß sie an seinen Lippen hing, und ein Gefühl ließ ihn fortfahren, ebensowohl wie eine Classe halbwüchsiger Gymnasiasten, nach einigen Richtungen wohl sogar besser, sei sie auch befähigt, das Eigentliche, dichterisch und menschlich Schöne und Werthvolle des Buches in sich aufzunehmen. Ja, gewissermaßen erschien ihm die Odyssee wie von der Natur grade für sie bestimmt, die von Kindheit auf mit dem Meer, mit Ruder und Segel vertraut war, für die es in Wind und Wasser nichts Fremdes noch Furchtweckendes gab. Gegenwärtig in ihrer hellleuchtenden Feiertagsgewandung regte sie zwar solche Vorstellungen nicht an, doch ihr Bild stand ihm doppelt vor dem Blick, neben dem wirklichen in dieser Stunde zugleich ihr andres im enganliegenden grauen Fries am Steuer sitzend, scharf unter dem haarfesselnden Kopftuch durch die weiße Mondnacht nach drohend anrollenden Wellen spähend und beim Dahinjagen durch den Sturm doch ruhig gleichmüthigen Ton's wie am sicheren Ufer von der weißhaarigen Ran sprechend. Zwei Bilder waren's, zwei Menschengeschöpfe, verschieden wie Tag und Nacht; hier das mit einer heimlichen Scheu auf das unbekannte Buch hinblickende, dort das unschreckbar dem tödtlichen Untergang entgegensehende, aber dennoch auch nur eines, dasselbe Wesen in der zwiefachen Erscheinung. Das war, selbst ohne die sogenannten nöthigsten Grundlagen der Geistesbildung, doch im Innern an Verständniß grade für die Odyssee den in allen Naturdingen völlig unerfahrenen Secundanern und Primanern eher überlegen, als ihnen nachstehend, und die Arnold Lohmer beim Beginnen einmal aufgeschossene Empfindung, daß er thöricht vor geistig verschlossenen Ohren lese, schwand bald wesenlos von ihm ab. Eine besser dem Buchinhalt angepaßte Tonbegleitung war kaum erdenkbar; der Wind fauchte und brauste in Stößen um's Haus, und der Niedersturz des Regens klang wie unablässig anrauschender Wogenschlag der See. Der erste Gesang zwar wurde noch nicht von Unwetter, Sturm und wilden Wellen durchtost, sondern berichtete von den Vorgängen auf Ithaka während der zehnjährigen Abwesenheit des Odysseus, den schamlos als Werber die lilienarmige Penelopeia umdrängenden ›Freiern‹ und dem von Pallas Athene berathenen Telemachos, der sich am Schluß mit seinen Umfahrtplänen für den nächsten Tag auf das Lager zur Ruhe begab. Eurykleia, die alte, treue Schaffnerin des Hauses, begleitete ihn mit brennender Fackel in die ›schöngezimmerte Kammer‹ und

›er zog das weiche Gewand aus,
Warf es dann in die Hände der wohlbedächtigen Alten.
Sie dann fügt' und schmiegte den Rock in Falten und hängt ihn
Auf an dem Pflock, zur Seite des schöngebildeten Bettes;
Ging dann hervor aus der Kammer, und fest mit silbernem Ring an
Zog sie die Pfort, und schob den Riegel davor mit dem Riemen.
Dort die Nacht durchruhend, umhüllt von der Flocke des Schlafes,
Ueberdacht er im Geist den Weg, den Athene geboten.‹

Das war trotz den auf Neuwerk fremd-seltsam tönenden Griechennamen ein so einfach-natürlicher Abendvorgang, wie er sich ganz ähnlich auch am heutigen Tage noch zutrug, und erstaunt sah die Zuhörende auf, daß manches vor Jahrtausenden in dem fernen fremden Lande fast ebenso gewesen und geschehen sei, wie auf ihrer Heimatinsel. Sichtbar that ihr's leid, als Arnold nach dem letzten Vers das Buch zuschloß, obwohl er selbst gern noch weiter fortgefahren hätte; doch war ihm so viel an pädagogischer Einsicht zu eigen, daß er fühlte, das Aufnahmevermögen des Mädchens nicht überlasten zu dürfen, und außerdem wollte er haushälterisch mit seinem Vorrath umgehn, nie mehr als einen Gesang am Tage verausgaben. Wie's bei seiner eignen poetischen Anlage zu erwarten gestanden, hatte er schön und klar verständlich gelesen; nun knüpfte er noch eine Erläuterung der Versart des Gedichtes an, suchte ihr den Dactylus an der dreifachen Gliederung eines Fingers zu verdeutlichen und seine sechsmalige Wiederkehr im Hexameter zu erklären. Das indeß, obgleich sie beflissen Acht gab, ging ihr merklich weniger gut ein; sie kannte nur ein paar Sprüche und kurze Liedchen, bei denen der Reim ihr das Gedicht ausmachte, sah auf ihre Fingergelenke nieder, doch reimlose Verse machten diese ihr offenbar nicht begreiflich; hier zog sich eine Schranke vor ihr Verständniß. Als Arnold innehielt, stand sie von der Bank auf, sagte kurz: »Ich danke Dir«, und ging zur Thür, doch wandte an dieser noch einmal den Kopf um und fragte: »Hast Du Deiner Braut schon auf ihren Brief geantwortet?« Wie er verneinend erwiederte, setzte sie hinzu: »Dann hast Du ja heute Vormittag noch gut Zeit dafür,« und begab sich jetzt fort, wie's ihm erschien, von häuslichen Verrichtungen in Anspruch genommen. Er stieg die Treppe zu seiner Gaststube hinan, setzte sich an den Tisch und griff, ihrer Mahnung Folge leistend, zur Feder. Dabei gerieth ihm in's Gedächtniß, daß er gestern nicht gewußt habe, über was er seiner Braut schreiben könne, doch das hatte offenbar auch nur von seiner Mißstimmung hergerührt, denn heute floß ihm ohne Nachsinnen eine Fülle des Mitzutheilenden zu. Er berichtete wieder von seiner Lebensführung auf der Insel, die gegenwärtig bei Sturm und Regen nicht minder schön und wohlthätig auf ihn einwirke, als in der Sonnenstille, so daß er keinerlei Verlangen nach der Hamburger Gesellschaft, selbstverständlich mit Ausschluß derjenigen, an die er schrieb, in sich fühle. Unwillkürlich hatte er sie mit ›Du‹ angeredet, bemerkte dies erst nach einer Weile, entschuldigte das Versehen dadurch, daß diese Sprechweise hier allein bräuchlich sei, und fügte nach, sie erscheine ihm auch zwischen sich nahstehenden Menschen als die einzig natürliche; darum fahre er so fort und bitte künftig um die gleiche Anrede, das ›Sie‹ berühre seine Empfindung wie mit einem fremden und frostigen Anhauch. Befriedigung und Freudigkeit klangen überall aus seinen Schilderungen auf; von seinem heut' begonnenen Vorlesen der Odyssee theilte er indeß nichts mit, das hätte er der Empfängerin des Briefes nicht verständlich machen können. Sie würde zweifellos daraus entnommen haben, es müsse nicht ganz richtig in seinem Kopf stehn, daß er sich dazu hergäbe, mit solcher Thorheit bei einem völlig ungebildeten, sogar des Lesens unkundigen Bauernmädchen seine Zeit zu vergeuden.

Der Schreibende saß, ein Weilchen innehaltend, und blickte durch's Fenster hinaus; draußen hatte der Regen zeitweilig etwas nachgelassen, nur der Wind fauchte und pfiff in gleicher Weise, eine vereinzelte weibliche Gestalt im grauen Friesrock ging drüben am Uferrand, über den die anwachsenden Flutwellen heraufschlugen. Erst bei schärferem Hinblick erkannte Arnold, es sei Age Terwisga, die sich nicht, wie er gemeint, in der Hauswirtschaft beschäftigte, sondern ihre Sonntagstracht abgelegt und sich in's Freie begeben hatte. Man sah, wie der Sturm das dicke Kleid zugleich eng um sie preßte und flatternd von ihr wegstob, so daß sie's mit einer Hand an sich zu halten suchte; so bewegte sie sich, gegen ihn ankämpfend, langsam fort, blieb ab und zu stehn und hielt, dem Hause den Rücken wendend, ihre Augen eine Zeitlang auf die See hinausgerichtet. Nach und nach gelangte sie weiter und verschwand aus dem Gesichtsfeld; sie schien trotz dem noch sprühenden Regen um die Insel gehn zu wollen, als sei's ihr im Hause bedrückend und wohler in dem Aufruhr der Luft und schwellenden Flut.

Wie's zuweilen eigenthümlich geschah, wohl geweckt durch ihren Anblick, doch im Grunde ohne einen ursächlichen Zusammenhang mit diesem entstanden, war Arnold Lohmer ein plötzlicher Gedanke aufgetaucht, den er noch einige Minuten lang erwog. Dann machte er kurz eine bejahende Kopfbewegung, nahm die Feder wieder zur Hand und vollendete den Brief an seine Braut. Lebhaft trat diese ihm dabei in ihrer ausnehmenden Schönheit vor die Augen, ließ ihn voll empfinden, daß er ein Neidenswerther sei, dem eine Anwartschaft auf Lebensglück, wie nur wenigen auf der Erde, zugefallen. Sich dafür durch gesunde Frische an Leib und Seele zu bereiten und würdig zu erzeigen, war eine ihm vor allem obliegende Pflicht, und froh erfüllte ihn die Gewißheit, durch seine Fußwanderung und den Aufenthalt hier das beste Mittel dazu ergriffen zu haben. Die Abschwächung des Regens dauerte nicht lange an, Age kehrte von ihrer Inselumgehung mit schwertriefender Kleidung heim. Bei ihrer Rückkunft stand Arnold grad' unter der Thür und empfing sie mit den Worten: »Du mußt durchnaß geworden sein.« Sie versetzte: »Ja, das thut gut.« – »Nein, das kann übles anthun, wenn Du Dich nicht rasch trocken umziehst.« – Darauf gab sie lachend Antwort: »Das denkt ihr Leute in der Stadt euch so, wir wissen nichts davon, das Wasser ist immer gut.« In's Haus tretend, hielt sie noch einen Augenblick an und setzte hinzu: »Aber Du bist ja ein Doctor, und ich möchte nicht krank werden, daß ich von Dir etwas Bitteres zum Einnehmen bekäme. Da will ich mich doch lieber anders anziehen.«

In spaßhaftem Ton war's gesprochen, doch klang draus auch etwas von einer gehorsamen Nachgiebigkeit seiner Ermahnung gegenüber und sie ging jetzt rasch in ihre Kammer. Als er danach am Mittagstisch mit ihr zusammentraf, hatte sie die Kleidung gewechselt, indeß ihre Sonntagstracht nicht wieder angelegt, entgegnete auf eine Frage des Großvaters, das Wetter sei heute zu schlecht dafür. Im Gange des Nachmittags fand Arnold sie einmal wie am Morgen in einer Ecke des Pesels sitzend, doch hob ihre Gewandung sich jetzt nicht hell vom dunklen Hintergrund ab, so daß er sie bei dem mattgrauen Licht nicht gewahrte, sondern den Raum für leer hielt. Erst als er sich wieder hinauswenden wollte, erkannte er seine Täuschung, denn ihre Stimme klang ihm nach: »Suchst Du etwas?« Leicht zusammenschreckend, erwiederte er mit noch ungewissem Blick: »Bist Du's? Heut' früh warst Du eine Möwe und hättest Dich auch in dem Winkel nicht versteckt halten können.« Nach ihrer Art lachend, gab sie Antwort: »Soll das sagen, jetzt bin ich ein Ziegenmelker, Du heißt ihn wohl Nachtschwalbe.« Scherzlaunig fiel er ein: »Ja, von der hattest Du heut' Vormittag etwas in der Weite, als Du gegen den Wind um die Insel flattertest.« Ihr flog vom Mund: »Hast Du mich gesehen?« – »Sonst wär' ich wohl nicht auf die Nachtschwalbe gerathen. Uebrigens hast Du Dich mit ihr verglichen, nicht ich. Warum sitzt sie denn jetzt hier allein in der dunklen Ecke?« – »Der Regen geht wieder zu stark; wenn ein Ziegenmelker nicht herumfliegen kann und nichts weiß, was er besser thun soll, so duckt er sich an einen Balken.«

In dem letzten lag etwas verborgen, ein dem Hörer verständlich werdender, leis angedeuteter Wunsch; das Mädchen hatte sich in der Hoffnung hierhergesetzt, er werde, von dem ungünstigen Wetter im Haus festgehalten, kommen und weiter aus seinem Buch vorlesen. Doch war's nicht ihre Absicht gewesen, dies kundzugeben, und rasch davon abbrechend, fügte sie die Frage nach: »Ist das der Brief an Deine Braut?« Er trug ein Papier in der Hand und antwortete: »Ja ich wollte mich erkundigen, ob heut' noch jemand von der Insel an's Land hinüberfahre, der ihn mitnehmen könnte.« Nun stand sie auf und sagte, herzutretend: »Ich glaube, Matthies Schloto fährt nach Cuxhaven; gieb ihn mir, ich will's besorgen.« Einen Augenblick lang den Brief wie auf sein Gewicht in der Hand wägend, setzte sie hinzu: »Man fühlt's ihm nicht an, daß so viel drinsteht. Nennst Du Deine Braut auch ›Sie‹, wie sie Dich?« Der Befragte erwiederte: »Bisher that ich's, aber heute kam's mir, ohne daß ich's gemerkt, anders in die Feder; wohl von dem Brauch hier, weil ich zu Dir ›Du‹ sage.« Daran war eigentlich nichts Lächerliches, doch sie mußte drüber lachen, richtete danach den Blick auf das Papier nieder und sagte: »Könnt' ich's sehen, würd' ich doch nicht sehen können, ob's so dasteht.«

Das rief Arnold den Gedanken zurück, der ihm am Vormittag während des Schreibens gekommen, zu dem er sich nach kurzer Ueberlegung selbst bejahend zugenickt hatte, und er knüpfte rasch an: »Möchtest Du nicht lernen, zu lesen? Der Tag ist lang, ich hätte genug Zeit, Dich zu lehren, und Du auch wohl täglich eine Stunde dafür übrig.«

Age Terwisga sah ihn, ohne zu antworten, groß an, als ob sie das von ihm Gesprochene nicht verstanden habe oder es als einen Spaß auffasse. Nur ein ihr in die Schläfen schießendes Roth ließ erkennen, daß seine Worte in ihrem Innern eine Erregung hervorgerufen hatten. Nun stieß sie kurz vom Mund: »Ich will fragen, ob Matthies Schloto heute noch fährt,« und den Brief in ihrem Kleid vor der Nässe bergend, lief sie zur Thür hinaus und hastig durch den stürzenden Regen dem Haus auf der Nachbarwurft zu.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor der Elbmündung. Reisebeschreibung