Vor der Elbmündung. Reisebeschreibung

Autor: Jensen, Wilhelm (1837-1911), Erscheinungsjahr: 1924
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Inhaltsverzeichnis
  1. So unterschied sich, dem Wesentlichen nach, darin seit Jahrhunderten ein wolkenlos schöner Maitag im Alten Land für umblickende Augen weder von den heutigen, noch von lang vergangenen, und an solchem Tage des Jahres 1781 ging ein junger Mann in der Mitte der Zwanziger dort zwischen den weißblühenden Kirschbäumen dahin. Er war von Hamburg mit einem Boot über die Elbe nach Harburg gekommen ...
  2. Wenig so anheimelnde Geborgenheit gabs wohl schon Jahrhunderte lang, als an frostig-dunklem Abend einen Colonialwaarenladen in einer kleinen Uferstadt. Vom Ende der Gasse her, wo sie in todte Finsterniß ausläuft, heult der Wind und wühlt sich kalt anfauchend durch die Kleider; unsichtbar klatscht die See in immergleicher Wiederholung dumpfschütternd auf den Strand, ab und zu schrillt einmal der Ruf eines Wasservogels dazwischen. Dort innen im Laden aber ists friedlich, hell und warm, einem sicher vor Sturm und Unwetter bergenden Hafenschutz ähnelnd. ...
  3. Als Arnold Lohmer erwachte, verging eine Weile, ehe er mit offenen Augen liegend, zur Besinnung kam, wo er sei. Es mußte schon ziemlich weit vorgerückte Morgenzeit sein, denn ihn umgab eine glänzende Helle, obwohl das Licht nur durch kleine, in Blei gefaßte Scheiben eines schmalen Fensters hereinfiel. Von seinem Wandbett aus ging der Blick in einen engumschränkten Stuben- oder Kammerraum mit oben an zwei Seiten abgeschrägten Wänden, die graden Flächen drunter waren mit viereckigen, blau und weiß gefärbten Kacheln belegt, von denen, abwechselnd und wiederkehrend, segelnde Schiffe, Windmühlen und ländliche Wohnhäuser ansahen. ...
  4. Nun sah Arnold Lohmer während Tag und Nacht zweimal Flut und Ebbe um die Insel wechseln und wohnte als Gast im Hause Hadlefs Terwisga. Als Arzt hatte er nichts mehr darin zu thun; die alte Belke war am vierten Tage nach seiner Ankunft aus dem Bett aufgestanden, voll hergestellt, Fuß und Hand wie vorher zu gebrauchen. So saß sie wieder an ihrem auf dem Tisch ruhenden Webstuhl von einfachster Art aus ferner Vormütterzeit, zog von der drehbaren Haspel die aufgewundenen Kettfäden durch die Schlitze und Löcher des senkrecht gegenüberstehenden Kammbretts, im Wechsel die Fäden hebend, senkend und den Schuß zurücklaufen lassend, und fertigte wie seit einem halben Jahrhundert, arbeitsam und der Thätigkeit bedürftig, ihr Bandwerk. ...
  5. Ebenmäßig ergoß sich die Nacht hindurch der Regen herab, und der Morgen fuhr in gleicher Weise damit fort. Eine dunkelgraue, schwere Decke hielt die Insel und die See überlagert, doch nahm von der letzteren der Blick kaum etwas gewahr, schon bis zum Uferrand verdichtete sich das fallende Wasser zu einem nicht weiter durchsichtigen Vorhang. Kein Schimmer leisester Helligkeit deutete den Stand der Sonne an, es regte den Eindruck, als sei sie heute nicht über den Himmelsrand heraufgekommen, nur eine wie von Schattenfäden durchzogene, unterweltliche Beleuchtung lag über dem grünen Weideland, darauf sämmtliche Rinder eigenthümlich die gleiche Stellung, den Kopf gegen Osten richtend, einnahmen. ...
  6. Eine kleine Welt des Menschenlebens war es auf der Insel, doch eine große der Natur. Auch diese nicht wie auf dem Festland den Boden mit bunter Lebensfülle überdeckend, kein Baum ragte von der winzigen Erdscholle auf, kaum ein niedriger Busch; sie kannte keine Kornsaat und kein Blühen, nur Graswuchs und ein paar Kräuter dazwischen. ...
  7. Der Juni, zählte zu den nur wenigen Monaten, die an den deutschen Nordseerändern länger andauernde Sonnentage zu bringen pflegten, freilich vermochte er sie auch durch schwere Stürme, in ihrer Heftigkeit denen des Spätherbstes kaum nachstehend, zu unterbrechen. Doch bewährte er in diesem Jahre seinen guten Ruf, ließ dem trüben Regen niederströmenden Tag bereits am nächsten etwas Aufhellung folgen, und wenn der Westwind auch noch seine Wolkenherde in dichtem Gedränge am Himmel dahintrieb, half er zugleich doch, unten das triefende Weidegras und durchweichte Erdreich aufzutrocknen, so daß die Sonne bei ihrer Wiederkehr am zweiten Morgen nicht viel mehr daran zu bessern vorfand. ...
  8. Am nächsten Tage stand der Wind ungünstig aus Norden, doch gab Anzeichen, daß er vorhabe, nach Osten umzulaufen; so trat es auch schon am Abend ein, und der kehrende Morgen sah das Boot mit dem in ihm untergebrachten, durch Linnenbedeckung gegen Kippwellen verwahrten Inhalt an allerhand Nahrungsmitteln zur Abfahrt bereit. ...
  9. Nun schwand vor dem Blick Süderoog im Norden wieder zurück, doch erst nach und nach sein Bild ein wenig an Größe verringernd, denn der Wind ging leise und brachte das Fahrzeug nur langsam vorwärts. ...
  10. Der Juni hatte seinen guten Ruf an der Nordsee, daß er andauernd heitere Tage bringe, bewährt, doch unterließ nicht, heute zu zeigen, er stehe keineswegs unter der Botmäßigkeit des höchsten Sonnenstandes, sondern sei unabhängig, nach eignem Belieben seine Sommertracht zu wechseln und sich auch in völlig andrer darzustellen. So lag er jetzt düster gewandet über der Insel, durchzog schon am frühen Nachmittag mit Schattenfäden die Luft, daß der Blick auf Neuwerk kaum von einem Gehöft zum andern hinüberreichte, nur dämmernd noch den Umriß der Wurften unterschied. ...
  11. Erst nach acht Tagen ungefähr landete Arnold Lohmer im Hafen seiner Vaterstadt an, und andre Tage vergingen noch, ehe er leibliche Kraft genug fühlte, das Haus seiner zukünftigen Schwiegereltern aufzusuchen. ...
Einführung.

Zwischen der Unterelbe und dem Mündungsgebiet der Weser dehnt sich eine Landschaft, sozusagen eine breite Halbinsel aus, die schon vor Jahrhunderten einem Berichterstatter von ihr zu eigenthümlichem Vergleich Anlaß gegeben hat. Denn er äußert sich dahin: »Daß das mittlere Theil / zwischen Stade und Bremen / durch welchen die Kauffleuthe gebräuchlich zu raisen pflegen / rauh / ungebawt / von Sand und Pfützen unfruchtbar unnd mit Heyde besäet seye: Deßwegen man dann dieses Land insgemein einem ausgebreiten Mantel vergleiche / dessen zwei vordere Theil / oder Außfäll / wann man an beeder Flüße / der Elb unnd Weser / Gestad über sich raiset, mit sehr fruchtbaren Aeckern und Waiden / als mit einem Sammet oder Taffet / gezieret / die übrige Breite aber von schlechtem Faden / oder Hanff gewirket seyn.«

Diesen Sammt- oder Taftbesatz bildeten demnach, der Stadt Hamburg gegenüber beginnend, am linken Elbufer entlang das ›Alte Land‹, das ›Kehdinger Land‹, dann das ›Land Hadeln‹ um seinen Hauptort ›Otterndorf‹ bis zur nördlichen Spitze der Halbinsel bei Ritzebüttel hin; von hier senkte sich an der Weserseite das ›Land Wursten‹ wieder südwärts hinab. Diese kleinen ›Länder‹ bestanden aus einem etwas mehr oder minder breiten Gürtel äußerst fruchtbaren, nach der Wasserseite durch feste Deiche geschützten Marschbodens; zwischen sich im Innern dagegen hielten sie das große Mantel-Mittelstück aus schlechtem Faden groben Hanfs, unbewohnte und unbebaute öde Sandwüsten, Moore und Sümpfe, von träg durch die Einsamkeit hinschleichenden Gewässern durchzogen. An diesen, von der Natur gesetzten Bodenzuständen vermochten Zeiten und Menschenhände nicht viel zu ändern, sie blieben sich im Wesentlichen bis heute stets gleich, seitdem die Gegenden hauptsächlich von dem altgermanischen Stamm der Chauken in Besitz genommen und besiedelt worden. Wann dies geschehen, berichtet keine Urkunde, noch Ueberlieferung; die Römer trafen sie bei ihrem Vordringen bis zur Nordsee als ein Volk von Fischern und Hirten hier an. Das ›Alte Land‹ zwischen Harburg und Stade ward indeß erst im 12. Jahrhundert von herübergezogenen Niederländern eingedeicht und urbar gemacht, die sich schon frühzeitig neben dem Getreidebau der Anpflanzung von Obstbäumen zugewandt zu haben scheinen. Bekannt und berühmt ist dieser Marschstrich in unsern Tagen durch seine Kirschblüthen im Mai, zwischen denen ein Wandrer Stunden um Stunden wie unter schneeweißem Dach hingeht. Hart fährt oft und lang der Wind an der Unterelbe daher, doch der römische Feldherr Lucullus brachte die Kirsche aus einer rauhen Heimath, der pontischen Küste, nach Europa, und sie ließ sich ihre Verpflanzung an die Nordsee ohne Widerstreben gefallen, tritt bereits zur Zeit des Plinius als einheimisch in den Niederlanden auf und gedieh bei vorherrschend feuchter Witterung in den fetten Marschen des Nordens sogar besser, als unter zu heißer Sonne auf dem trockenen Steingrund Italiens. Der Kirschbaum ist kein übermäßig langlebiges Gewächs, doch gleich den Menschengeschlechtern um ihn her erhält er sich auf dem Boden fort wo er dem Kern entsprossen; die Alten vergehen, aber stetig wachsen die Jungen nach und bieten den Augen der Enkel das gleiche Bild, wie es vor denen der Vorväter gestanden.