Abschnitt 1

Tubal an Lewin.


Der dritte Feiertag fiel auf einen Sonntag. Es war ein klarer Morgen. Die Scheiben, nach der Parkseite hinaus, standen im goldenen Schein der eben über den Kirchhügel steigenden Sonne, überall aber, selbst wo sonst Schatten lag, leuchtete der am Abend vorher frisch gefallene Schnee.


Es mochte neun Uhr sein. In dem großen Wohnzimmer, in das wir unsere Leser schon in einem früheren Kapitel führten, saßen Lewin und Renate, aber nicht um den Kamin herum, wie am Abend des ersten Weihnachtstages, sondern in der Nähe des eine tiefe Nische bildenden Eckfensters. Sie hatten hier nicht nur das beste Licht, sondern vermochten auch mit Hilfe der mehrgenannten breiten Auffahrt auf die Dorfstraße zu blicken, deren Treiben in der Einsamkeit des ländlichen Lebens immer eine Zerstreuung und oft den einzigen Stoff der Unterhaltung bietet.

Das Frühstück schien beendet; die Tassen waren zurückgeschoben, und Lewin legte eben ein elegantgebundenes Buch aus der Hand. „Ich fürchte, Renate, wir haben ihm doch unrecht getan. Aber diese unglückliche Begeisterung des Dolgeliner Pastors! Da reißt einem die Geduld. Und doch ist viel Sinniges darin. Nun hinke ich mit meiner Ehrenerklärung nach; amende honorable retardée oder ?moutarde après le diner?, wie Tante Amelie mit Vorliebe sagen würde.“

Renate nickte.

„Apropos die Tante“, fuhr Lewin fort, „ich habe den kleinen Schlitten bestellt, zwei Uhr; in einer Stunde sind wir drüben, ich fahre selbst. – Und Marie war noch immer nicht in Guse?“ fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

„Nein“, erwiderte Renate.

„Du schriebst aber doch, sie habe einen guten Eindruck auf die Tante gemacht. Wenn die ?Gräfin Pudagla? nicht Anstand nahm, unserem Liebling in diesem Zimmer zu begegnen, so sollte ich meinen, das Eis müßte gebrochen sein.“

„Die Begegnung war unabsichtlich; Marie, die mir ein Buch unseres Seidentopf brachte, trat unerwartet ein. Im übrigen solltest du nicht immer wieder vergessen, daß die Tante alt ist und einer anderen Zeit als der unserigen angehört. Warum willst du Standesvorurteile nicht gelten lassen?“

„Die lasse ich gelten, vielleicht mehr als recht ist. Aber, was ich nicht gelten lasse, das sind die Halbheiten. Tante Amelie – die Vitzewitze mögen mir diese Bemerkung verzeihen – ist durch ihr Hineinheiraten in die Pudaglafamilie in gewissem Sinne über uns selbst hinausgewachsen, sie ist eine vornehme Dame, und wenn es ihre gräfliche Gewohnheit wäre, fächernd und ein Bologneserhündchen im Arm, über das Zweimenschensystem geheimnisvolle Unterhaltungen zu führen, so würde ich ihr respektvollst die Hand küssen und am allerwenigsten eine Widerlegung versuchen. Ich wiederhole dir, ich kann all das würdigen, wenn meine eigenen Empfindungen auch andere Wege gehen. Aber Tante Amelie gehört nicht zu diesen Gräfinnen aus der alten Schule. Sie hält sich für aufgeklärt, für freisinnig. Da vergeht kein Tag, keine Stunde, wo nicht aus Montesquieu, aus Rousseau zitiert, wo nicht freiheitlich-erhaben von der ?vaine fumée? gesprochen wird, ?que le vulgaire appelle gloire et grandeur, mais dont le sage connaît le néant?, und wenn nun nach all dieser Philosophenherrlichkeit die Probe auf das Exempel gemacht werden soll, so erweist sich alles als leere, pomphafte Redewendung, als bloße Maske, hinter der sich der alte Dünkel birgt.“

Die Schwester wollte antworten, Lewin aber fuhr fort: „Nein, nein, Renate, suche davon nichts abzudingen; ich kenne sie, so sind sie samt und sonders, diese Rheinsberger Komtessen, denen die französischen Bücher und Prince Henri die Köpfe verdreht haben. Humanitätstiraden und dahinter die alte, eingeborene Natur. Es ist mit ihnen, wenn du das prätentiöse Bild verzeihen willst, wie mit den Palimpsesten in unseren Bibliotheken, alte Pergamente, darauf ursprünglich heidnische Verse standen, bis die frommen Mönche ihre Sprüche darüber schrieben. Aber die Liebesseufzer an Chloe und Lalage kommen immer wieder zum Vorschein. Rund heraus: das Vorurteilsvolle lasse ich gelten; nur das Unwahre verdrießt mich.“

„Daß ich dir’s nur bekenne“, nahm jetzt Renate das Wort, „ich hatte ein Gespräch mit der Tante über ebendiesen Gegenstand. Sie hat sich zu dem Widerspruchsvollen, das in ihrer Haltung liegt, bekannt, und dies Bekenntnis, das sie sehr liebenswürdig gab, wird dich schließlich auch entwaffnen müssen. Ich müßte dich nicht kennen.“

Lewin lächelte. „Wo war es, hier oder in Guse drüben?“

„Hier. Es war bei Gelegenheit derselben Begegnung, von der du aus meinem Briefe weißt; nur über das Gespräch, das folgte, ging ich kurz hinweg. Wir waren zu dreien, Papa, die Tante und ich. Unsere gute Schorlemmer fehlte wie gewöhnlich; die ?beiden Tanten?, wie du weißt, stimmen nicht gut zusammen. Marie trat ein und stutzte einen Augenblick. Sie ist zu klug, als daß sie nicht lange schon empfunden hätte, wie die Tante zu ihr steht. Rasch faßte sie sich aber, verneigte sich, richtete des Pastors Auftrag an mich aus und entfernte sich wieder unter einer freimütigen Entschuldigung, unser Beisammensein gestört zu haben.“

„Und die Tante?“

„Sie schwieg, wiewohl ihre scharfen Augen jede Bewegung gemustert hatten. Erst als Papa fort war, sagte sie, ohne daß ich es gewagt hätte, eine Frage an sie zu richten: ?Die Kleine ist charmante, eine beauté aus dem Märchen, welche Wimpern!? – ?Wir lieben sie sehr?, wagte ich schüchtern zu bemerken, worauf die Tante nicht ohne Herzlichkeit, zugleich in ihrem allerfranzösischsten Stil, den ich dir erspare, fortfuhr: ?Ich weiß, ich weiß, und jetzt, wo ich sie gesehen habe, begreife ich, was ich bisher für eine Laune hielt. Bei Lewin hielt ich es für mehr. Kann sein, daß ich mich irre?, setzte sie hinzu, als sie bemerkte, daß ich den Kopf schüttelte. Eine kurze Pause folgte, in der die Tabatière ein paarmal auf- und zugemacht wurde; dann sagte sie lebhaft: ?Ich habe mir’s diese Minuten überlegt, ob ich euch auffordern sollte, die Kleine mit nach Guse hinüberzubringen; es fehlt uns dergleichen, und sosehr ich alte Damen hasse, so sehr liebe ich junges Volk. Aber Renate, ma chère, es geht nicht. Ich nehme wahr, daß gewisse Vorstellungen und Geschmacksrichtungen in mir stärker sind als meine Grundsätze. Es bestätigt sich: On renonce plus aisément à ses principes qu’à son goût. Wohl entsinne ich mich des Tages, wo uns Prince Henri durch ein ähnliches Geständnis überraschte. Der Prinz und der Philosoph lagen immer in Fehde. Nun sieh, dieses Kind hat einen Zauber; aber ich fühle doch, daß, wenn sie selbst im längsten Kleide käme, ich mich des Gedankens nicht erwehren könnte, jetzt verkürzt sich die Robe, und sie beginnt den Schaltanz zu tanzen. Ich will dem Kinde durch solche Gedanken nicht wehe tun, ich denke also, wir lassen’s beim alten.?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm