Schloß Guse.

Der Lauf unserer Erzählung führt uns während der nächsten Kapitel von Hohen-Vietz und dem östlichen Teile des Oderbruchs an den westlichen Höhenzug desselben, zu dessen Füßen, heute wie damals, die historischen Dörfer dieser Gegenden gelegen sind, altadelige Güter, deren meist wendische Namen sich schon in unseren ältesten Urkunden finden. Hier saßen, um Wrietzen und Freienwalde herum, die Sparrs und Uchtenhagens, von denen noch jetzt die Lieder und Sagen erzählen, hier hatten zur Reformations- und Schwedenzeit die Barfus, die Pfuels, die Ihlows ihre Sitze, und hier, in den Tagen, die dem Siebenjährigen Kriege unmittelbar folgten, lebten die Lestwitz und Prittwitz freundnachbarlich beieinander; Prittwitz, der bei Kunersdorf den König, Lestwitz, der bei Torgau das Vaterland gerettet hatte. Oder wie es damals in einem Kurrentausdruck des wenigstens sprachlich französierten Hofes hieß: „Prittwitz a sauvé le roi, Lestwitz a sauvé l’état.“

Alle diese Güter begannen bald nach der Trockenlegung des Oderbruchs, also etwa dreißig Jahre vor Beginn unserer Erzählung, zu ihren sonstigen Vorzügen auch noch den landschaftlicher Schönheit zu gesellen. Wer hier um die Pfingstzeit seines Weges kam, wenn die Rapsfelder in Blüte standen und ihr Gold und ihren Duft über das Bruchland ausstreuten, der mußte sich, weit aus der Mark fort, in ferne, beglücktere Reichtumländer versetzt fühlen. Die Triebkraft des jungfräulichen Bodens berührte hier das Herz mit einer dankgestimmten Freude, wie sie die Patriarchen empfinden mochten, wenn sie, inmitten menschenleerer Gegenden, den gottgeschenkten Segen ihres Hauses und ihrer Herden zählten. Denn nur da, wo die Hand des Menschen in harter, nie rastender Arbeit der ärmlichen Scholle ein paar ärmliche Halme abgewinnt, kann die Vorstellung Platz greifen, daß er es sei, der diesen armen Segen geschaffen habe; wo aber die Erde hundertfältige Frucht treibt und aus jedem eingestreuten Korn einen Reichtum schafft, da fühlt sich das Menschenherz der Gnade Gottes unmittelbar gegenüber und begibt sich aller Selbstgenügsamkeit. Es war an diesem westlichen Höhenrande des Bruches, daß der Große König, über die goldenen Felder hinblickend, die Worte sprach: „Hier habe ich in Frieden eine Provinz gewonnen.“


Ein Bild, das diesen Ausruf gerechtfertigt hätte, bot die Niederung am dritten Weihnachtstage 1812 freilich nicht. Alles lag begraben im Schnee. Aber auch heute noch war ein Blick von der das Bruch beherrschenden „Seelower Höhe“ aus nicht ohne Reiz; über den zahlreichen ausgebauten Höfen und Weilern zog ein Rauch, die Stelle menschlicher Wohnstätten verkündend, während auf Meilen hin die nur halbverschneiten Kirchtürme der größeren Dörfer im hellen Sonnenschein blitzten.

Einer dieser Kirchtürme, der nächste, zeigte sich in kaum Büchsenschußentfernung von der ebengenannten Höhe, und eine Allee alter Eichen, deren braunes Laub, wo der Wind den Schnee abgeschüttelt hatte, klar zu erkennen war, lief in gerader Richtung auf die Kirche zu. Neben dieser, weit über den Wetterhahn der Turmspitze hinaus, erhoben sich mächtige, zum Teil fremdartig aussehende Bäume, allem Anscheine nach einem großen Parke zugehörend, der von links her das Dorf umfaßte.

Dieses Dorf war Guse.

Wie sein Name bekundet, wendischen Ursprungs, führten es doch erst begleitende Vorgänge des Dreißigjährigen Krieges, um welche Zeit die Schaplows hier ansässig waren, in unsere Landesgeschichte ein. Zwei Jahre vor Abschluß des Osnabrücker Friedens vermählte sich Georg von Derfflinger, damals noch General in schwedischen Diensten, mit Margarethe Tugendreich von Schaplow und übernahm das Gut. Nicht als Frauenerbe, sondern gegen Kauf; die verschuldeten Minorennen konnten es nicht halten.

Zunächst war die Erstehung des Gutes wenig mehr als eine Kapitalsanlage, vielleicht auch ein Versuch, sich im Brandenburgischen territorial und politisch festzusetzen; aber schon in den sechziger Jahren, lange bevor der Tag von Fehrbellin, der pommersche und der ostpreußische Feldzug den Ruhm Derfflingers auf seine Höhe gehoben hatten, sehen wir den Alten beflissen, hier nicht nur die Schäden vieljähriger Verwahrlosung auszugleichen, sondern auch durch Bauten und Anlagen – in allem dem Beispiele seines kurfürstlichen Herren folgend – eine Musterwirtschaft herzustellen. Abzugsgräben wurden gezogen, Dämme und Wege durch den Sumpf gelegt, das Schloß entstand; die Kirche, zunächst erweitert, erhielt eine Gruft, und ein Kasernenbau, bis diesen Tag erkennbar, nahm die Dragonerabteilung auf, die zu täglichem Dienst bei ihrem Chef und General aus dem benachbarten Garnisonsort nach Guse hinbeordert war. Das eigentlichste Augenmerk des Alten war aber der Park, der ihn bald glücklicher machte als der Ruhm seiner Taten. Ein guter Wirt und Haushalter, wie fast alle diejenigen, die das Schwert mit der Pflugschar vertauschen, war er doch freigebig, wenn es die Beschaffung schöner Bäume galt. Zypressen und Magnolien wurden unter großen Kosten herbeigeschafft, und noch jetzt führt ein Zedernhain des Parkes den Namen „Neulibanon“.

In Zurückgezogenheit zu leben und sich seiner Anlagen zu freuen, wurde mehr und mehr das einzige Verlangen des nun achtzigjährigen Feldmarschalls, der, wie er sich selber ausdrückte, bei Hofe „viel Saures und Süßes“ gekostet hatte, „aber des Sauren mehr“. Die Zeiten, wo er seinem Freunde, dem Grafen Baudissin, ins Stammbuch schreiben konnte:



Wind und Regen

Sind mir oft entgegen;

Ich ducke mich, lass’ es vorübergahn,

Das Wetter will seinen Willen han,



diese Tage beinahe heiterer Resignation lagen für ihn weit zurück, und er war versteift, eckig und reizbar geworden. Endlich gab der Kurfürst, der ihn trotz seiner hohen Jahre im Dienste festhalten wollte, nach, und der Alte hatte nun seinen Willen und seine Freiheit; er gab die Stadt auf und ging nach Guse. Hier, eine kleine Weile noch, sah er auf alles, was er geschaffen, und freute sich des Segens in Feld und Haus. Aber er war müde, müde auch seines Glückes. Noch vor Ablauf des Jahrhunderts schloß sich sein reiches Leben. Er wurde, wie er es angeordnet, ohne Gepränge beigesetzt, in der Gruft, die er selbst gebaut hatte. Auch der Geistliche mußte sich auf den Nachruf beschränken: „Gott habe den Entschlafenen innerhalb des Kriegsdienstes von der niedersten bis zur höchsten Stufe gelangen lassen.“ Der Alte hatte Ruhmes genug im Leben erfahren, um den Klang desselben im Tode entbehren zu können.

Sein einziger überlebender Sohn, Friedrich von Derfflinger, trat die reiche Erbschaft an, die außer Dorf und Schloß Guse noch fünf andere Oderbruchgüter umfaßte. Er war Reiterführer und Chef eines Dragonerregiments wie sein Vater; aber nur in Rang und äußerer Stellung ihm verwandt, besaß er wenig von dem kriegerischen Sinn und der feldherrlichen Einsicht, die den Vater zu so hohen Ehren gebracht hatten.

Der Wechsel der Zeiten konnte nicht wohl die Ursache davon sein, denn das neue Jahrhundert, nach einer kurzen Epoche des Friedens, begann mit einem der schlachtenreichsten Kriege, und bei Turin und Malplaquet lagen die Brandenburger gehäuft unter den Toten. Aber wenn die Kriegsannalen nicht von ihm sprechen, so doch Guse, wo er nicht nur die Schöpfungen seines Vaters fortzusetzen, sondern auch diesen Vater selbst zu ehren vom ersten Augenblick an beflissen war. Er erweiterte den Park, er verschönte das Schloß, vor allem aber ließ er dem Toten ein Monument errichten. Die besten Kräfte, wie sie das Berlin der Schlüterzeit aufwies, waren bei Ausführung dieses Denkmals tätig. Über einem offenen Steinsarkophag, in den die Hand des Sohnes den Feldmarschallstab legte, wurde die Büste des Vaters aufgestellt, eine Fama blies in die Posaune, und zwei Derfflingerstandarten mit blauseidenen Fahnentüchern und der Inschrift „agere aut pati fortiora“ kreuzten sich zu einer Waffentrophäe. Bis diesen Tag ist der Guser Kirche dieses Denkmal erhalten geblieben.

Drei Jahrzehnte nach dem Tode des Vaters starb auch Friedrich von Derfflinger, und mit ihm erlosch der berühmte Name, der kaum länger als ein halbes Jahrhundert geglänzt hatte, aber während dieser kurzen Dauer hell genug, um auch den Namen Dorf Guses für immer der Dunkelheit zu entreißen. Das alte Derfflingererbe ging durch verschiedene Hände, bis es in Besitz des Grafen von Pudagla kam. Der Graf ließ es zunächst verwalten, und um diese Zeit, wo sich zuerst wieder das Nationale zu regen begann, war es auch, daß die Wallfahrten nach der Derfflingergruft ihren Anfang nahmen. Nicht zum Vorteil dessen, der in ihr ruhte. Jeder, nach einem Andenken lüstern und seine Pietätslosigkeit mit der Vorgabe historischen Interesses deckend, vergriff sich an der Kleidung des Toten, so daß dieser, vor Ablauf eines Jahrzehntes, wie ein nackt Ausgeplünderter in seinem Sarge lag, nur noch mit dem angeschnallten Brustharnisch und seinen hohen Reiterstiefeln bekleidet.

So kam das Jahr 1790. Graf Pudagla starb, und seine Witwe, das Gut übernehmend, machte dem Unfug ein Ende.

Diese Witwe war Tante Amelie.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm