Nullum vinum nisi hungaricum.

Hier waren inzwischen, neben anderem Dessert, Schalen mit Obst sowie Ungar-, Port- und alter Rheinwein aufgestellt worden. Vor Bamme stand eine langhalsige Flasche Ruster-Ausbruch in Originalverpackung. Er schenkte zunächst ein Spitzglas bis zur Hälfte voll, befragte das Bouquet, zog einen Schluck langsam ein, und allen Kennzeichen der Echtheit begegnend, setzte er das Glas mit einem Ausdruck der Zustimmung wieder vor sich nieder. Lewin, Rutze, Medewitz rückten näher, alle zu derselben Ungarfahne schwörend. „Das ist recht“, sagte Bamme und füllte die Gläser bis an den Rand, „so was wächst nur in einem Husarenlande.“

An der anderen Tischhälfte saßen jetzt Drosselstein und Krach, jener einen Gravensteiner Apfel schälend, dieser auf eigene Hand mit einer Flasche Liebfrauenmilch beschäftigt. Er gehörte zu denen, die nüchtern bleiben und sich begnügen, erst zänkisch, dann zynisch und schließlich apathisch zu werden. Übrigens stand er heute von Innehaltung seines Turnus ab.


„Daß diesen Rheinhessen so was in die Fässer läuft!“ hob er an und ließ den Inhalt seines Glases im Lichte spielen. „Die schlechtesten Kerle den schönsten Wein! Von allen Blutsaugern, die anno 1806 und nun wieder in diesem Jahre durch Bingenwalde gekommen sind, sind keine so verschrien wie diese. Man kann die Kinder mit ihnen zu Bette jagen.“

„Sie haben toller gehaust als die Schweden“, erhob Medewitz von der anderen Seite des Tisches her seine Stimme, „sie haben meinen Amtsverwalter über Stroh gesengt; sie taugen nichts, aber sie sind zäh und tapfer.“

„Tapfer wie alles, was auf Bergen wohnt“, schaltete Rutze bekräftigend ein. „Auch bloße Höhenzüge schon geben Charakter.“

„Hauptmann!“ rief jetzt Bamme und schob den vor ihm stehenden Dessertteller zurück, „wir sind noch nicht tief genug in Wein, um Sie in Ihrem Protzhagener Schweizerbewußtsein ruhig hinnehmen zu können. Ist der Potsdamer Exerzierplatz eine Gebirgsgegend?“

Rutze machte Augen und schien antworten zu wollen; seine Geisteskräfte ließen ihn aber im Stich, so daß der Handschuh von anderer Seite her aufgenommen werden mußte.

„Über die Berechtigung des Protzhagener Schweizergefühls“, bemerkte Drosselstein, während er dem immer noch nach Worten suchenden Hauptmann freundlich zunickte, »wird sich streiten lassen; aber was mir unbestreitbar scheint, ist die besondere Tapferkeit der Gebirgsvölker. Nur die hart an der See wohnenden Stämme sind ihnen ebenbürtig. Auch vollzieht sich darin nur ein Natürliches. Der stete Kampf mit den Elementen erzeugt Kraft und Mut, und aus Kraft und Mut wird die Kriegstüchtigkeit geboren. Bedarf es der Beispiele? Die Normänner umfuhren Europa, gründeten Staaten und eroberten Byzanz, und wenn die Kuhhörner der alten Urkantone von den Bergen zu Tale klangen, so kam ein Schrecken über ganz Burgund. Vor dem Stoße der Gebirgsclane zitterte London. So war es immer, und so ist es bis diesen Tag. Als alles demütig zu Füßen des Eroberers lag, stieg der erste Widerstand von den Bergen nieder: Spanien und Tirol wagten den Kampf. Die ganze Geschichte dieses Jahrhunderts plädiert für Berg und See.“

„Ich weiß doch nicht, Herr Graf“, nahm jetzt Lewin unter verbindlicher Handbewegung gegen Drosselstein das Wort, „ob ich Ihnen zustimmen darf. Der Mensch ist und bleibt ein Sohn der Erde. Und wo er seine Mutter Erde am reinsten und unmittelbarsten hat, da gedeiht er auch am besten, weil ihm hier die Bedingungen seines Daseins am vollkommensten erfüllt werden. Und so möchte ich denn vermuten, daß der scheinbare Triumph von Berg und See auf Ausnahmefällen oder zum Teil auch auf bloßen Täuschungen beruht. Berge sind natürliche Festungen, und alle Festungen wollen belagert sein. Wer sie glaubt voreilig stürmen zu können, der scheitert, aber er scheitert mehr noch an Wall und Graben als an der Tapferkeit ihrer Verteidiger. Das Gebirge repräsentiert die Defensive, das Element der Eroberung ist in der Ebene zu Hause. Unseres Freundes Seidentopf Semnonen, die Besieger einer Welt, wo stammten sie her, wo saßen sie? Hier, zu beiden Seiten der Oder, vielleicht in Guse, wo wir jetzt selber sitzen.“

Bamme nickte; Lewin fuhr fort: „Kein Land wird von den Bergen aus regiert. Rom, als es Rom zu werden gedachte, stieg von der Höhe freiwillig an das Tiberufer nieder. Keine Hauptstadt liegt im Gebirge; aus großen Flachlandsterritorien wachsen die regierenden Zentren auf. Und in und mit ihnen die Feldherrn und die Helden, von Hannibal und Cäsar bis auf Gustav Adolf und Friedrich.“

„Bravo!“ rief Bamme. „Vom Standpunkte meines Metiers aus könnte ich mich sogar bis zu dem Satze versteigen, daß Weltgeschichte großen Stils, wie sie sich in Hunnen- und Mongolenzügen darstellt, immer und ewig vom Sattel herab, also, rundherausgesagt, durch eine Art von urzuständlichem Husarentum gemacht worden sei, aber ich entschlage mich aller persönlich eitlen Gedanken und proklamiere lieber den Frieden! Entfalten wir unser Preußenbanner: Suum cuique! Bei Lichte besehen, gilt von Völkern und Stämmen dasselbe, was von den Menschen gilt: sie sind alle zu brauchen. Aber freilich jeder an seiner Stelle. Da liegt’s. Wer in der Takelage des ?Victory? bei wütender See und feuernden Breitseiten die Trafalgaraffaire ausfechten will, der muß auf anderen Wassern geschwommen haben als auf dem Schwilow- oder Schermützelsee; wer aber umgekehrt bei Zorndorf durch die russischen Vierecke hindurch will, leicht und gewandt wie ein Kunstreiter durch den Papierreifen, dem hilft es nichts, und wenn er auf sämtlichen indischen Ozeanen den Haifischen die Bäuche aufgeschnitten hat. Es ist immer wieder die alte Fuchs- und Storchengeschichte; dem einen paßt der Teller, dem andern die Flasche. Ich persönlich bin vielleicht der einzige Fuchs, zu dem auch die Flasche paßt. Vor allem solche. Stoßen wir an. Es ist etwas Schönes um ein ausgiebiges Latein: Nullum vinum nisi hungaricum.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm