Abschnitt 3

In der Amts- und Gerichtsstube.


Berndt schwieg. In diesem Augenblick klopfte es, und der eintretende Jeetze übergab einen Brief, großes Format mit großem Siegel. Berndt erkannte Turganys Handschrift. Er überflog den Inhalt und las dann laut: „Ich bitte Sie, hochverehrter Herr und Freund, in Ihrer Umgegend, vielleicht auch auf dem Forstacker, recherchieren zu lassen. Alles deutet darauf hin, daß die Sippschaft, die wir suchen, irgendwo zwischen Hohen-Vietz und Manschnow steckt. Wir haben heute ein zweites Verhör, der Manschnower Müller ist vorgeladen. Aber es wird nur das Resultat des ersten bestätigen, und unsere zwei herkömmlichen Sündenböcke werden, wie gewöhnlich, wieder entlassen werden müssen. Ich behalte mir weitere Mitteilung für die nächsten Tage vor. Ihr Turgany.“


Berndt lachte. „Sie sehen, Kniehase, Transport und Gefangenenkost sind abermals vergeudet. Aber Turgany ist auf falscher Fährte. Hier herum sitzen sie nicht. Es wird sich zeigen, wo. Wer brachte den Brief, Jeetze?“

„Konrektor Othegraven.“

„Ist er noch da?“

„Ja, Fräulein Renate hat ihn hereingebeten. Sie sind mit dem anderen gnädigen Fräulein im Wohnzimmer.“

„Ich lasse den Herrn Konrektor bitten.“

Jeetze ging, der Schulze wollte folgen.

„Nein, Kniehase, Sie bleiben, ich will mir den Sukkurs, den mir ein glücklicher Zufall schickt, nicht entgehen lassen.“

Gleich darauf trat der Konrektor ein, von Berndt mit besonderer Freundlichkeit empfangen. Einige kurze Begrüßungsworte wurden gewechselt. Dann fuhr der Hohen-Vietzer Gutsherr fort: „Ich will Sie, lieber Othegraven, nicht mit Aufträgen an Turgany belästigen, wir haben morgen ohnehin Frankfurter Botentag. Aber gegen meinen alten Kniehase hier möcht’ ich mich Ihrer versichern. Er will mich im Stich lassen, er kennt in diesem königlichen Lande Preußen kein anderes Losschlagen, als was von obenher gebilligt worden ist. Seidentopf stimmt ihm zu. Auch Sie?“

„Nein und dreimal nein“, antwortete Othegraven, „und ich schätze mich glücklich, endlich einmal statt vor tauben Ohren vor einem gleichgestimmten Herzen Zeugnis ablegen zu können.“

Kniehase, der die strengkirchliche Richtung des Konrektors kannte, horchte auf; Othegraven selbst aber fuhr fort: „Es ist ein königliches Land, dieses Preußen, und königlich, so Gott will, soll es bleiben. Es haben es große Fürsten aufgebaut, und der Treue der Fürsten hat die Treue des Volkes entsprochen. Ein Volk folgt immer, wo zu folgen ist; es hat dem unseren an freudigem Gehorsam nie gefehlt. Aber es ist fluchwürdig, den toten Gehorsam zu eines Volkes höchster Tugend stempeln zu wollen. Unser Höchstes ist Freiheit und Liebe.“

Berndt war im Zimmer auf und ab geschritten. Er stellte sich vor Othegraven: „Ich wußt’ es. So sind wir einig, und ich darf auf Sie rechnen. Dieser Moment, der nicht wiederkommt, darf nicht versäumt werden. Ist man an oberster Stelle verblendet genug, sich der Waffe, die wir schmieden, nicht bedienen zu wollen, nun, so führen wir sie selbst.“

„So führen wir sie selbst“, wiederholte Othegraven. „Aber der Bruch, den wir fürchten, er wird sich nicht vollziehen. Es kommen andere, bessere Tage. Die Schwäche wird der Entschlossenheit weichen, und das sicherste Mittel, dahin zu wirken, ist, daß wir selber Entschlossenheit zeigen. Es ist, wie ich wohl weiß, ein Mißtrauen da in unsere Kraft, selbst in unseren guten Willen. Zeigen wir dem König, daß wir für ihn einstehen, auch wenn wir ihm widersprechen. Auch die Schillschen setzten sich in Widerstreit mit seinem Willen und starben doch unter dem Rufe: ?Es lebe der König?. Es gibt eine Treue, die, während sie nicht gehorcht, erst ganz sie selber ist.“

Kniehase sah vor sich hin. Er fühlte den Boden, auf dem er stand, erschüttert, aber noch war er nicht besiegt.

„Ich habe meinen Eid geschworen“, sagte er, „um ihn zu halten, nicht, um ihn zu brechen oder auszulegen. Die Obrigkeit ist von Gott. Aus der Hand Gottes kommen die Könige, die starken und die schwachen, die guten und die schlechten, und ich muß sie nehmen, wie sie fallen.“

„Aus der Hand Gottes“, rief jetzt Berndt, „kommen die Könige, aber auch viel anderes noch. Und gibt es dann einen Widerstreit, das letzte bleibt immer das eigene Herz, eine ehrliche Meinung und – der Mut, dafür zu sterben.“

„Es ist so, Schulze Kniehase“, nahm Othegraven wieder das Wort, „und sich entscheiden ist schwerer als gehorchen. Schwerer und oft auch teurer. Ihr Gutsherr hat recht. Sehen Sie sich um, das Ganze versagt den Dienst; überall fast ist es der einzelne, der es wagt. Ein Mann wie Sie, Kniehase, war auch der Hofer, treu wie Gold. Aber als sein Kaiser Frieden machte, da sagte der Sandwirt: ?Der Franz’I hat’s gemußt, ich muß es nicht; ich halt’ ihm dies alte Land Tirol.? Und als er so sprach und handelte, da brach er seinem Kaiser den Frieden und war schuldig bei Freund und Feind. Er hat es mit dem Tode bezahlt. Aber glauben Sie, Kniehase, daß der Kaiser, wenn er den Namen Hofer hört, an Eidbruch und Untreue denkt? Nein, das Herz schlägt ihm höher, und gesegnet Land und Fürst, wo die Liebe lebendig ist und auf sich selber mehr hört als auf Amtsblatt und Kommandowort.“

Kniehase war jetzt aufgestanden. Er streckte Berndt seine Hand entgegen. „Gnädiger Herr, ich glaube, der Konrektor hat es getroffen. Sich entscheiden ist schwerer als gehorchen. Ich habe mich entschieden. Wir machen uns fertig hier herum, und wir schlagen los, ohne nach ?ja? oder ?nein? zu fragen. Denn fragen macht Verlegenheit. Es darf keiner über die Oder. Und kommt es anders, und soll uns dies fremde Volk auf ewig unter die Füße treten, nun, so geb uns Gott Kraft, zu sterben, wie Hofer und die Schillschen gestorben sind.“

„Das dank’ ich Ihnen, Othegraven“, sagte Berndt, „ich allein hätte meinen Schulzen nicht bezwungen. Ich hoffe, wir sehen uns jetzt öfter. Der Plan ist mit Graf Drosselstein durchgesprochen. Ein Netz über das Land. Lebus beginnt; wir sind die Vorhut. Hier zwischen Frankfurt und Küstrin treffen die großen Straßen zusammen. Ich zähle die Stunden, bis es sich entscheidet.“

Sie blieben noch eine Weile; dann verabschiedeten sich der Konrektor und Kniehase und schritten die Treppe hinunter, über den Flur. Hektor, unter Zeichen besonderer Freude, als er den Schulzen sah, begleitete beide Männer über den Hof.

Sie nahmen ihren Weg auf den Scharwenkaschen Krug zu, immer noch in lebhaftem Gespräch. Doch schien es andere Fragen als Krieg und Landsturm zu betreffen. Sie trennten sich erst, nachdem sie die Front des Krügergehöftes wohl ein dutzendmal ausgemessen hatten.

Als des Konrektors kleines Fuhrwerk wieder auf der Frankfurter Straße südlich trabte, saß Schulze Kniehase bei seiner Frau. Sie plauderten lange, und wiewohl Frau Kniehase Verschwiegenheit gelobte, war doch vor Ablauf des Tages alles Geplauderte in Hohen-Vietz herum.

Nur eine wußte nichts davon, sie, die der Gegenstand dieses Plauderns gewesen war.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm