Abschnitt 1

Im Kruge.


Dorf Hohen-Vietz (es hatte auch „ausgebaute Lose“) beschränkte sich in seinem Innenteil auf eine einzige langgestreckte Straße, die, dem Fuße des Hügels folgend, nach Norden hin mit dem Vitzewitzeschen Rittergute, nach Süden hin mit einem großen Mühlengehöft abschloß.


Das Rittergut, soweit seine Baulichkeiten in Betracht kommen, bestand aus zwei hufeisenförmigen Hälften, von denen die eine sich aus den drei Flügeln des Herrenhauses, die andere aus Ställen und Scheunen des gutsherrlichen Gehöftes zusammensetzte. Die offenen Seiten beider Hufeisen waren einander zugekehrt, zwischen beiden lief ein zugleich als Auffahrt dienender Steindamm, der in seiner Verlängerung hügelansteigend in die mehrgenannte Nußbaumallee überging.

Freundlicher noch als das Rittergut lag die Mühle, die eine Öl- und Schneidemühle war. Ein Wasser, das mit starkem Gefälle am Dorf vorüberfloß, trieb beide Werke. Jetzt war der Bach gefroren. Schnee und Eis aber, die in phantastischen Formen an den großen Triebrädern hingen, steigerten, wenn nicht den idyllischen, so doch den malerischen Reiz des weitschichtigen, aus Häusern, Schuppen und Lagerräumen bunt zusammengewürfelten Gehöftes.

Rittergut und Mühle die Flügelpunkte; dazwischen die Straße, die ihre dreißig Häuser oder mehr, ziemlich unregelmäßig auf beide Seiten verteilt hatte. Die linke Seite, die östliche, war die bevorzugte. Hier lagen die Pfarre, die Schule, der Schulzenhof, während die rechte Seite, die fast ausschließlich von Büdnern und Tagelöhnern bewohnt wurde, nur ein einziges stattliches Gebäude aufwies: den Krug.

In diesen treten wir jetzt ein. Er hatte nicht das Ansehen, wie sonst wohl Dorfkrüge, dazu fehlte ihm der auf Holzsäulen ruhende, jedem vorfahrenden Wagen als Wetterdach dienende Giebelbau, vielmehr sprang eine doppelarmige, aus Backsteinen aufgemauerte Treppe vor, die fast ein Dritteil der unteren Hausfront ausfüllte. Auch das Geländer war von Stein. Dieser äußeren Erscheinung, die mehr Städtisches als Dörfisches hatte, paßte sich auch die innere Einrichtung an. Von den zwei Gastzimmern, die durch den fliesenbedeckten Flur getrennt waren, zeigte das eine mit seinen blankgescheuerten Tischen und hochlehnigen Schemelstühlen, in die ein Herz geschnitten war, allerdings noch den Krugcharakter, das andere aber mit Mullgardinen und eingerahmten Kupferstichen, darunter Schill und der Erzherzog Karl, glich fast in allem einer Bürgerressourcenstube und hatte sogar einen Lesetisch, auf dem, neben dem „Lebuser Amtsblatt“, der „Beobachter an der Spree“ und die „Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen“ ausgebreitet lagen. Alles verriet Behagen und Wohlhabenheit, und durfte es auch, denn über beides verfügten die Hohen-Vietzer Bauern, die hier ihr Solo spielten, in ausgiebigster Weise. Ihre Hörigkeit, wenn sie je vorhanden gewesen war, hatte in diesen Gegenden, wo dem herrenlosen Bruch- und Sumpflande immer neue Strecken fruchtbaren Ackers abgewonnen wurden, seit lange glücklicheren Verhältnissen Platz gemacht, und Berndt von Vitzewitz, weil er selbst frei fühlte, freute sich nicht nur dieser wachsenden Selbständigkeit, sondern kam ihr überall entgegen. Ein Ereignis aus seinen jüngeren Jahren her hatte dazu beigetragen. Kurz vor dem Zweiundneunziger Feldzug, als er – noch von seiner Garnison aus – einen Besuch in der Salzwedler Gegend machte, hatte ein Schloß-Tylsener Knesebeck, ein ehemaliger Regimentskamerad, ihn vom Schloß aus ins Dorf geführt und dabei die Worte zu ihm gesprochen: „Seht, Vitzewitz, hier werdet Ihr etwas kennenlernen, was Ihr Euer Lebtag noch nicht gesehen habt: freie Bauern.“ Und diese Worte, dazu die Bauern selbst, hatten eines tiefen Eindrucks auf ihn nicht verfehlt. Das lag nun zwanzig Jahre zurück, war aber unvergessen geblieben und den Hohen-Vietzern mehr als einmal zugute gekommen.

Auch heute, am Weihnachtstage 1812, hatten sich einige bäuerliche Honoratioren, alles Männer von Mitte Fünfzig und darüber, in der Gaststube versammelt. Es waren ihrer vier: Ganzbauer Kümmeritz, Anderthalbbauer Kallies, Ganzbauer Reetzke und Ganzbauer Krull, lauter echte Hohen-Vietzer, die, seit unvordenklichen Zeiten an dieser Stelle sässig, mit den Vitzewitzen das alte Höhendorf bewohnt und verlassen, dazu auch gemeinschaftlich mit ihnen die guten und schlechten Zeiten durchgemacht hatten. Alle waren festtäglich gekleidet, trugen lange, dunkelfarbige Röcke und saßen, mit Ausnahme eines von ihnen, grade aufrecht in den breiten, gartenstuhlartigen Holzsesseln, die zu acht oder zehn um einen großen, rotbraungestrichenen Rundtisch herumstanden.

Als fünfter hatte sich ihnen der Wirt selber, der Krüger Scharwenka, zugesellt, der durch Erbschaft von Frauensseite her ein Doppelbauer und überhaupt der reichste Mann im Dorfe war, nichtsdestoweniger aber, trotz seiner sechshundert Morgen Bruchacker unterm Pflug, nicht für voll und ebenbürtig angesehen wurde. Das hatte zwei gute Bauerngründe. Der eine lief darauf hinaus, daß erst sein Großvater, bei Urbarmachung des Oderbruchs, mit andern böhmischen Kolonisten ins Dorf gekommen war; der andere wog schwerer und gipfelte darin, daß er, allem Abmahnen zum Trotz, von dem wenig angesehenen Geschäft des „Krügerns“ nicht lassen wollte. Scharwenka, sooft dieser heikle Punkt zur Sprache kam, pflegte sich auf seinen Großvater selig zu berufen, der ihm von Kindesbeinen an beigebracht habe: Dukaten seien nie despektierlich. Der eigentliche Grund aber, warum er den Bierschank und das „Knechtebedienen“ nicht aufgeben wollte, lag keineswegs bei den Dukaten. Es war dem reichen Doppelbauer viel weniger um den hübschen Krugverdienst als um die tagtägliche Berührung mit immer neuen Menschen zu tun; das Plaudern, vor allem das Horchen, das Bescheidwissen in anderer Leute Taschen, das war es, was ihn bei der Gastwirtschaft festhielt. Er setzte seinen Stolz darin, die Nachricht von einer bäuerlichen, durch die Verhältnisse notwendig gewordenen Mesalliance vierundzwanzig Stunden früher zu haben als jeder andere. Subhastationen konnte er voraus berechnen wie die Kalendermacher das Wetter; seine eigentliche Spezialität aber waren die der Feuerlegung verdächtigen Windmüller. Die Liste, die er darüber führte, umfaßte so ziemlich das ganze Gewerk.

So Krüger Scharwenka.

Seinen Platz hatte er gerade der Türe gegenüber genommen, um jeden Eintretenden sehen und begrüßen zu können. Unmittelbar neben ihm saßen Reetzke und Krull, die schon seit einer Stunde rauchten und schwiegen, ganz im Gegensatz zu Kümmeritz und Kallies, die beide von den Gesprächigen waren. Auch von ihnen ein Wort.

Ganzbauer Kümmeritz, trotz seiner Fünfzig, hatte durchaus die Haltung und das Ansehen eines alten Soldaten. Und beides kam ihm zu. Er war erst Grenadier, dann Gefreiter im Regiment Möllendorf gewesen, hatte die Rheinkampagne mitgemacht und zweimal die Weißenburger Linien mit erstiegen. War dann bei Kaiserslautern verwundet worden und hatte den Abschied genommen. Er vertrat in diesem Kreise, neben dem Schulzen Kniehase, der heute zufällig ausgeblieben war, die Traditionen der preußischen Armee, kontrollierte den Kaiser Napoleon, malte seine Schlachten auf den Tisch und hielt die Ansicht aufrecht, daß Jena, „wo wir den Sieg ja schon in Händen hatten“, nur durch einen Schabernack verlorengegangen sei.

Das volle Gegenteil von Kümmeritz war Anderthalbbauer Kallies, ein schmalschultriger, langaufgeschossener Mann. Geistig regsam, aber schwach und widerstandslos von Charakter, mußte er es sich gefallen lassen, geneckt und gehänselt zu werden, wozu schon, alles andere unerwogen, sein Beiname herauszufordern schien. Er war nämlich, als er kaum laufen konnte, in eine große Rahmbutte oder Sahnenschüssel gefallen und hieß seitdem in sehr bezeichnender Weise „Sahnepott“. Denn es war ihm sein Lebelang etwas Milchernes geblieben.

Alle fünf dampften jetzt aus langen holländischen Pfeifen; neben jedem lag ein Zündspan. Kallies hatte das Wort. Aus allem ging hervor, daß eben ein anderer Gast, ein Reisender, ein Kaufmann, wie es schien, das Zimmer verlassen haben mußte.

„Immer, wenn ich ihn so stehen sehe“, sagte Kallies mit Wichtigkeit, „fällt mir sein Vater, der alte Tiegel-Schultze ein; der stand auch immer so da, mit beiden Händen in den Hosentaschen, und war auch so ein schnackscher Kerl und sah aus, als hätt’ er den Gottseibeiuns beim Dreikart betrogen. Scharwenka, du mußt ja den alten Tiegel-Schultze auch noch gekannt haben.“

Scharwenka nickte; Kümmeritz aber, der eben eine neugestopfte Pfeife anrauchte, sprach in kurzen Pausen vor sich hin: „Tiegel-Schultze? Soll mich das Wetter, wenn ich den Namen all mein Lebtag gehört habe. Und bin doch auch ein Hohen-Vietzer Kind.“

„Das war, als du bei den Soldaten warst, Kümmeritz. So um die Achtziger Jahre. Nachher war Tiegel-Schultze tot, wenn er überhaupt gestorben ist.“

Kümmeritz, der wenigstens einen Teil seines wendischen Aberglaubens bei den Soldaten gelassen hatte, schmunzelte vor sich hin und sagte dann: „Sahnepott, keine Dummheiten. Immer räsonabel. Wer tot ist, ist tot. Spuken kann er; aber sterben muß er. Warum hieß er Tiegel-Schultze?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm