Zweite Fortsetzung

So bringt denn die Forderung der erwerbstätigen Frau vor allem einen großen Fortschritt: die Loslösung der sexuellen Beziehungen von den wirtschaftlichen Faktoren. Das bedeutet nichts andres als eine Epoche, in der die Beziehungen der Geschlechter, befreit von all den ökonomischen Bedenken, endlich auf die idealste und lauterste Basis gestellt werden können.

Es sind aber keineswegs nur Männer, sondern weite Kreise der Frauen selbst, die jedem wirklichen Fortschritt verständnislos und feindlich gegenüberstehen, die sich gegen die Idee der politischen und wirtschaftlichen Mündigkeit der Frau, gegen ihr sexuelles Selbstverfügungsrecht wehren und die Verfechterinnen dieser Ansichten weit von sich weisen, als wären sie der leibhaftige Gottseibeiuns! Sowie heute noch die Mehrzahl der Frauen die künstliche Verkümmerung des Frauenkörpers durch das Korsett als etwas Notwendiges befürwortet, in der irrigen Anschauung lebt, dass die Muskulatur der Frau unbedingt solcher Stütze bedarf, während sie in Wirklichkeit nur deshalb so unentwickelt ist, weil man ihr eben von Jugend an diese Stütze aufzwang, so gibt es heute noch eine breite Schicht, die ihre seelische Verkümmerung als Vorzug empfindet, sich wohl fühlt in dem steten Gefühl des Unselbständigseins und Gestütztwerdenmüssens. Bei vielen wirkt auch noch mit, dass man häufig genug von Seiten der Männer hochstehenden Frauen gegenüber eine gewisse Angst bekunden sieht. Aber so mancher Mann, der aus Furcht, seine Selbständigkeit zu beeinträchtigen, die Ehe mit einer freientwickelten Frau ablehnte, verlor jede eigene Willensfreiheit im Zusammenleben mit einem banalen, minderwertigen Gänschen! Wer selbst Achtung vor seiner Persönlichkeit beansprucht, erwirbt sich dies Recht durch Achtung vor der Persönlichkeit des andern. Freilich haben in diesem Punkt auch noch die Frauen in der Frauenbewegung selbst viel zu lernen. Wird doch von den verschiedensten Richtungen das Schlagwort betont: "Die Frauenbewegung erstrebe das Recht der Frau auf Persönlichkeit" und zugleich wird mit einer geradezu fanatischen Unduldsamkeit jede Persönlichkeit, die es wagt, dem Hergebrachten entgegenstehende Ideen zu verfechten, eigene Anschauungen zu äußern, sich zur Majorität der heute schon so "salonfähig" gewordenen Richtungen der Frauenbewegung in Gegensatz zu stellen, als gefährliche Ketzerin verlästert und gebrandmarkt.


Auch die ästhetische Seite des neuen Frauenideals soll kurz gestreift werden, denn auch hier herrschen in den Köpfen Fernstehender die eigentümlichsten Vorstellungen. Und während in Wirklichkeit das Gespenst der "Emanzipierten", das in geschmackloser Verwilderung und Verwahrlosung einen Fortschritt erblickt, so gut wie gar nicht existiert, spukt es seltsamerweise noch immer in vielen Köpfen. Freilich wird der Typus der Modedame stets mit einer wirklich individuell und künstlerisch empfindenden Frau unvereinbar sein. Auch im Äußeren strebt die denkende Frau nach Unabhängigkeit, nach dem Recht auf persönlichen Geschmack, auf Harmonie in Kleidung, Erscheinung und Wesensart. Wer daher die treueste Sklavin der Mode auch für die am besten und schönsten gekleidete Frau hält, der dürfte freilich im Kreise der wirklich modernen Frauen wenig Genugtuung empfinden. Wer aber Sinn hat für tatsächliche Verfeinerung und Ästhetik, die es verstehen den Schöpfungen der Mode nur so viel zu entlehnen und umzugestalten, wie es zum Wesen der Trägerin und zu ihren Bedürfnissen passt, der wird zweifellos befriedigt davon sein, zu erkennen, wie stark sich mit dem Persönlichkeitsbewusstsein selbst auch der persönliche Geschmack entwickelt hat. Die Zahl der absonderlichen und unästhetischen Erscheinungen ist heutzutage sicherlich innerhalb der Frauenbewegung nicht größer als in irgendeinem andern Kreise von Frauen. Wo solche Personen jedoch als Menschen wertvolle Leistungen vollbringen, da haben sie trotz ihres von Natur oder mangelnder Kultur ungünstigen Äußeren das Anrecht darauf, nach ihrem wirklichen Wert nicht unter rein äußeren Gesichtspunkten beurteilt zu werden. So wenig wir bei Männern, die im öffentlichen Leben stehen, bei den Kongressen und Konferenzen von Gelehrten, Politikern, Künstlern auch ungünstige äußere Erscheinungen abfällig beurteilen, oder etwa gar unsre Anerkennung ihrer Tätigkeit von ästhetischen Gesichtspunkten abhängig machen, so wenig ist es gerecht, wenn, wie es noch immer, insbesondere von Seiten mancher Berichterstatter geschieht, Lob oder Tadel der Frauenleistungen davon abhängig gemacht werden, ob die sie vollbringenden Personen jung, anmutig, geschmackvoll oder das Gegenteil sind. Es ist auch seltsam, dass die Männer, die so viel Verständnis und Achtung für den politischen Kampf und das politische Märtyrertum ihres eigenen Geschlechtes zeigen, sich dazu bereitfinden, den politischen Kampf der Frau mit Hohn und Spott zu überschütten. Wenn man liest, in welch entstellter und verzerrter Weise immer wieder in den Berichten der Presse die englischen Suffragettes herabgezerrt werden, während sie in Wirklichkeit eine Schar tüchtiger, mutiger Frauen sind, die durchaus mit den Waffen, die in ihrem Lande gebräuchlich sind, kämpfen, die noch Keinem etwas angetan haben und tagtäglich für ihre Überzeugungen durchaus hart zu ertragende Gefängnisstrafen auf sich nehmen, so muss man doch an alle ernst und gerecht empfindenden Männer die Aufforderung richten, in der politisch kämpfenden Frau, mögen sie ihr Ziel billigen oder nicht, die mutvolle Verfechterin ihrer Überzeugung zu achten. In einem privaten Gespräch, das ich kürzlich mit Professor August Forel hatte, meinte er, die Frauen hätten mehr Mut als die Männer. Und vielleicht kann man tatsächlich erkennen, dass die Frauen, die überhaupt begeisterungsfähig sind, einen starken Kompromittierungsmut besitzen, bereit sind, ohne Rücksicht auf etwaige schwere Konsequenzen als Trägerinnen neuer Ideen zu kämpfen. Allerdings möchte ich hier wie überhaupt vor einer Generalisierung warnen, vor der leidigen Gewohnheit, immer von der Frau und dem Mann zu sprechen. Führt doch diese Generalisierung auch zu seltsamen Vorstellungen bezüglich des ungleichen Wertes der Geschlechter. "Die Frauen sind die silbernen Schalen, in die wir goldene Äpfel legen". Wenn Goethe so empfand, so liegt noch kein Grund vor, dass nun alle Männer sich für Spender goldener Äpfel halten, denen die Frauen bestenfalls als silberne Schalen genügen. Der Einwand, dass die Frauen minderwertig seien, weil sie keine Genies ersten Ranges, keinen Goethe, Lionardo, Michel Angelo, Beethoven, Napoleon hervorgebracht haben, lässt ganz außer acht, dass der Durchschnittsmann von diesen Genies wohl ebenso weit entfernt ist als die Durchschnittsfrau.

Viele große Quellen speisen unablässig die Frauenbewegung, als stärkste Triebfedern neben der wirtschaftlichen Notwendigkeit, das soziale Empfinden und das Gefühl brachliegender Kräfte. Die wirtschaftliche Notwendigkeit braucht man wohl in einer Zeit, die einem einzigen Jahrzehnt eine Zunahme der erwerbstätigen Frauen um 56 1/2 % gebracht hat, in der die Frauen schon den dritten Teil der gesamten Volkswirtschaftsarbeit selbstständig verrichten, nicht mehr zu beweisen. Und diejenigen, die nicht selbst aus wirtschaftlichen Motiven in den Kampf gestellt werden, treten hinaus, getrieben vom sozialen Empfinden der Not ihres Geschlechtes, der Not der Kinder, der Not aller Unterdrückten. Gerade auf sozialem Gebiete wirkt die Frau schon heute in vielen Punkten anregend und fördernd auf das soziale Gefühl der Männer; die brachliegenden Kräfte der Frau sind auch ein schwerer Verlust für die Allgemeinheit, für die Frau selbst bedeuten sie Verkümmerung und Verarmung. Es liegt Wahrheit in dem Satz: "Besser mehr Last als Kraft, denn eine Kraft, für die keine Last vorhanden." Und während Millionen besitzloser Frauen unter dem Übermaß der Lasten zusammenbrechen, gibt es noch immer ganze Schichten, in denen Frauen aus Mangel an Last verkrüppeln. Es ist gänzlich falsch, wenn man das Wort: "sich ausleben" dahin versteht und deutet, dass derjenige sich auslebt, der von Genuss zu Genuss jagt, der ohne großes Ziel sich von schwankenden Eingebungen des Augenblicks leiten lässt, der ohne Selbstzucht sein Leben vergeudet. Ein solcher Mensch, gleichviel ob Mann oder Frau, lebt sich nicht aus, der verlebt sich. Sich ausleben heißt, all seine Kräfte anspannen dürfen und können, in den Dienst großer Ideen sich einsetzen, Überzeugungen haben und ihnen folgen, auch wenn man dabei untergehen mag, Irrtümer und die daraus entstehenden Leiden mutig tragen, weil ein großer Glaube hinter den Irrtümern stand. Gabriele Reuter hat das schöne Wort geprägt: "Sich ausleben heißt sich nicht ausfreuen". In diesem Sinne beansprucht das neue Frauenideal sich ausleben zu dürfen. Die hässliche und kleinliche Deutung des Wortes aber entspringt lediglich dem kleinlichen, engherzigen Sinne derjenigen, die unablässig gegen "das Ausleben" predigen.

Eine relativ kleine Schicht von Männern ist es, die heute schon das neue Frauenideal anerkennt und sucht. Aber die geringe Zahl gewinnt an Bedeutung durch die Wesensart dieser Wenigen. Insbesondre die intelligentesten Kreise der Jugend haben in viel höherem Maße als die um ein bis zwei Jahrzehnte ältere Generation begonnen, das neue Frauenideal zu verstehen, zu ersehnen. Aus den Kreisen dieser jungen Männer hört man berechtigte Klagen über die Interesselosigkeit, die engen Anschauungen, den Mangel an Kameradschaft der studierenden weiblichen Jugend, es ist traurig, bestätigt zu sehen, dass viele junge Akademikerinnen, die kampflos auf geebneten Pfaden in die, Universitäten einzogen, an allgemeinem Interesse, an Großzügigkeit der Lebensanschauung, an Kampffreudigkeit und Solidaritätsgefühl mit der nichtakademischen Frau um vieles schwächer sind als ihre Vorgängerinnen, die unter steten Schwierigkeiten Schritt um Schritt geistiger und wirtschaftlicher Freiheit erobern mussten.

Schon hat sich auf vielen großen Gebieten eine gewisse Loslösung von Fachgebieten aus dem Rahmen der Frauenbewegung, die sie ursprünglich umschloss, vollzogen. In Vereinigungen für Soziale Reform, für organisierte Armenpflege, für sexuelle Reform und Mutterschutz, arbeiten Männer und Frauen gemeinsam — ein Beweis, dass die Frauenbewegung auf die Dauer nicht trennend sondern einigend auf die beiden Geschlechter wirkt. Und auf dem Boden dieser gemeinsamen Arbeit vollzieht sich auch in Lebens- und Weltanschauung das Wachsen des gegenseitigen Verständnisses. So wird denn die Geschlechtsdifferenzierung auf ihr richtiges Maß zurückgeführt. Sie wird bestehen bleiben, soweit sie wirklich in unabänderlichen Naturveranlagungen vorhanden ist, und sie wird glücklicherweise stets stark genug sein, um den mächtigen Magnetismus zwischen den zwei verschiedenen Polen wirksam zu erhalten. Sie wird sich mildern, insoweit sie auf rein wirtschaftlichen Faktoren beruhte, die sich geändert haben und noch weiterhin ändern werden. Eine Erstarkung des weiblichen Geschlechts, eine Entwicklung mehr nach klaren, großen, fest umrissenen Zügen, ein Aufhören des Weibchen- und Luxusdamendaseins von Seiten der Frau, eine Verfeinerung des männlichen Geschlechts, ein Aufhören des tyrannischen Herrenideals ebensogut wie des im Banne erotischer Willenlosigkeit um Frauengunst sich wirtschaftlich abquälenden Mannes werden wohl stattfinden. So wird sich die stärkere Annäherung der beiden Geschlechter vollziehen, dann werden sie sich nicht mehr gegenüberstehen, in zwei fremden Sprachen zu einander redend, sondern eine einheitliche Sprache finden, mit einheitlichen Bezeichnungen und Begriffen für Sittlichkeit und Recht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von den Männern und dem neuen Frauenideal.