Erste Fortsetzung

So vollzieht sich denn immer mehr die Wertung der Frau nicht nur unter dem entweder — oder Begriff des entweder Weibchen oder Kämpferin, sondern als Mensch, im vollen Umfange dessen, was die Frau von heute auf allen Gebieten sein will und kann. Einen kleinen Beitrag zu dieser Umwertung lieferte kürzlich die Umfrage in einer nordischen Frauenzeitschrift über das Thema, welches die besten Jahre der Frau seien. Die Mehrzahl der Antworten pries nicht die erste Jugend, sondern die späteren Zeitabschnitte zwischen 30 und 40, ja noch darüber hinaus, als die "besten Jahre", mit der Motivierung, dann sei die Frau noch jung genug, um Liebe zu erwecken, alt genug, um alles zu verstehen, und Freundin zu sein. Für den aufgeklärteren und selbständig denkenden Teil unsrer Männer entspricht daher nicht mehr das unbeschriebene Blatt dem Ideal der Frau, und damit beginnt zugleich jener ungerechte und eingewurzelte Begriff der "Geschlechtsehre" als der einzigen Ehre, die man der Frau zubilligte, zu verschwinden. Wir nähern uns der Zeit, in der man Keuschheit nicht mehr identifizieren wird mit dem Begriff, keine Liebe erlebt zu haben, in der die Überschätzung der bloß physischen Jungfräulichkeit verschwinden, und zum wahren Maßstab die Reinheit der Wesensart, die Lauterkeit und Tiefe der Empfindung wird. Bei dem neuen Frauenideal wird, wie Ellen Key es sagt, der Mann nicht mehr fragen, wie oft hat diese Frau geliebt, sondern wie liebt diese Frau, wenn sie es tut. Damit fällt das Ideal von der Unwissenheit des Mädchens und die falsche Grundlage jener Ehen, die aufgebaut wurden auf der Unkenntnis und Unerfahrenheit der Frau gegenüber einem Manne, der lange Jahre die Junggesellenfreiheit ausgenützt hat. Freilich wird es schwer halten, die Menschen erst zu einer natürlichen Auffassung der Natur zu bringen. So wie in Zeiten künstlerischer Unwahrheit und Entartung die Menschen verlernt hatten richtig zu sehen, weil sie die falschen Darstellungen schlechter Maler auf die Wirklichkeit übertrugen, und wie dann erst die ersten wahren Schilderer sie die Natur so wie sie ist sehen lehren mussten, so ergeht es heute in Bezug auf die natürliche Auffassung der Naturvorgänge. Man braucht nur zu hören, welche Anschauungen über die Reinheit des unbekleideten menschlichen Körpers in manchem Kopfe spuken, um sich klar zu werden, wie viel Unnatur und ungesundes Fühlen auszurotten sind. Hat doch z. B. erst kürzlich der Verein Frauenstreben in Berlin (Vors. Frau Sera Proelß), der sich gleichfalls zu den "gemäßigten" Organisationen zählt, in einer Erklärung gegen die (von allen freidenkenden Pädagogen erstrebte, Nacktkultur Stellung genommen. Das Schriftstück, das verdient niedriger gehängt zu werden, besagt u. a., dass die Nacktkultur eine den Idealen der Frauenbewegung direkt feindliche Tendenz verfolge. Das Nackte in lebendigem Fleisch und Blut ziehe herab, reize zum Zynischen, verletze und töte das Schamgefühl, "dieses uns ebenso wie das Gewissen eingepflanzte Kriterium des Menschtums"!! Die Nacktkultur gehe von geistig nicht normalen Individuen aus (!), hinter den beliebten Schlagwörtern: Rückkehr zur Natur, Rassenveredlung, Hygiene, wahre Reinheit und Schönheit, Freibäderbewegung, Duncanschwärmerei lauere Untergrabung des natürlichen! Empfindens, Entsittlichung.

Diese wirklich interessante Antikultur -Kundgebung schließt, wie kaum anders zu erwarten, mit dem bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten herbeizitierten Geiste des seligen Tacitus und seines Lobes der alten Germanen, dessen Missbrauch Ludwig Thoma in seiner Satire "Moral" so köstlich verspottet hat.


Ebenso wie die vorgefassten Anschauungen eben geschilderter Art, sind auch noch zahlreiche irrige Meinungen über die übermäßige geschlechtliche Differenzierung zu beseitigen. Solch eine unberechtigte aber festgewurzelte Anschauung, der Glaube, dass die Frau, die nur Mutter und Hausfrau sei, auch physiologisch und seelisch die stärksten weiblichen Instinkte habe, daher am besten geeignet sei, den Mann zu beglücken, tritt auch in dem kürzlich an dieser Stelle erschienenen Aufsatz von Dr. Franke "Wir brauchen an Körper und Geist gesunde Mütter", in dem Richtiges und Irriges vermengt ist, zutage. Von den wirtschaftlichen und geistigen Triebfedern der Frauenbewegung scheint der Verfasser nur wenig zu wissen. Die Verkümmerung der weiblichen Geschlechtssphäre aber ist gänzlich unabhängig von der Höhe geistiger Entwicklung, von Beruf, von wirtschaftlicher Selbständigkeit oder Unselbständigkeit. Sie wird unterstützt nicht etwa durch jene Bestrebungen, die auf eine Befreiung der Frau hinauslaufen, sondern im Gegenteil von der noch nicht überwundenen alten Sittlichkeitsanschauung, die das Geschlechtsleben an sich als Sünde ansieht, dem Mädchen einbläut, dass geschlechtliche Unempfindlichkeit Reinheit ist, dass die Berechtigung, ein Sinnenleben zu haben, von Standesamt und Kirche abhängt. Diese Theorien werden natürlich laut propagiert und gefördert von den selbst kalten, verkümmerten und von den sexuell abnorm veranlagten Frauen, die sich in nicht geringer Zahl unter den Gegnern der sexuellen Reformbewegung befinden. Diesen Elementen fällt es selbstverständlich leicht zu predigen und sie bestärken auch Normale darin, ihr geschlechtliches Empfinden als etwas Unreines abzutöten, zu unterdrücken. Durchaus unrichtig ist aber die Auffassung, dass dort, wo die Frau auf ihre rein physiologischen Funktionen als Weib und Mutter beschränkt wird, sie auch die beste Mutter, selbst im Sinne der physiologischen Tüchtigkeit, abgibt, ebenso die feinste und vollendetste Gefährtin des Mannes auf erotischem Gebiete. Gerade hier zeigt es sich immer wieder, dass zahlreiche Nur-Hausfrauen schlechte Mütter und derartig unbegabt für die Liebe sind, dass sie, wie Dr. Franke es treffend bezeichnet, "gleich einem eiskalten Wasserstrahl auf die regen Sinne des Mannes wirken", die Ehe völlig zerrütten, "weil sie keinen Sinn haben für das Sehen, Hören und Fühlen des großen Werdejubels". Ebenso wohl aber sind zahlreiche Frauen, deren ganzes Leben Kampf, außerhäusliche Arbeit schweres geistiges Ringen gewesen, auch physiologisch höchst befähigte Mütter prächtiger Kinder, Miterleberinnen von Freud und Leid in Freundschaft und Erotik. Ansichten wie die in dem genannten Artikel kleben offenbar noch fest an einem alten Ideal der "Weiblichkeit". Dieser Begriff der Weiblichkeit ist wie alles etwas Fließendes und Wandelbares. Denn was ist Weiblichkeit? Wenn es unweiblich ist, an Stelle des Hilfsbedürftigseins das Helfenkönnen zu setzen, an Stelle des Schutzbrauchens das Schutzgewähren, dann ist unser neues Frauenideal unweiblich. Wenn es unweiblich ist, nicht mehr zusammenzubrechen, sondern mit der Kraft des Überwindens aus alten Trümmern sich neues Leben aufzubauen, dann sind die neuen Frauen unweiblich. Und in demselben Sinne unweiblich ist es wohl, an die Stelle des Nichtwissens das bewusste Handeln zu setzen, an die Stelle des Opferlamms die starke sichere Persönlichkeit, an die Stelle der Entsagung den Kampf, an die Stelle der passiven Geduld den aktiven Mut, die handelnde Tugend, denn Tugend ist Glückgeben, und Geben ist Handeln (Multatuli), und so ist denn das neue Frauenideal nicht das der Selbstentäußerung, sondern das der Selbstbehauptung. "Die Frauenbewegung wird uns neben erbitterten Rivalinnen wahre Kameradinnen bescheren, Vollmenschen, die wahrlich nicht reizloser sind als die weißen Sklavinnen der Halbvergangenheit" schreibt ein modern denkender junger Mann, Erich Felder, in seinem Büchlein "Vom Zauber der Frau".

Und wenn ehedem das Frauenideal sich immer im Extrem verkörperte, dem einen als Dämon Weib, Sphinx, Rätsel, dem andern als lichter Engel, als Gottheit, der man Altäre baute, dem dritten als willfährige Sklavin und dienende Magd, so soll sich heute aus all diesen Übertreibungen das Ideal herauskristallisieren der Frau als Mitmensch und Mitkämpfer. Der Kampf der Geschlechter gegeneinander wandelt sich zum gemeinsamen Kampf der beiden Geschlechter gegen zerstörende und hemmende Kräfte der Aufwärtsentwicklung, ein Kampf, in dem es nicht heißen darf: Hier Mann, hier Weib, sondern: Hier Fortschritt, hier Reaktion! In je mehr Punkten Mann und Weib sich ergänzen, um so vollendeter kann über Zeit und physischen Wandel hinweg die Anziehungskraft bleiben, neue Ekstasen erblühen zwischen Menschen, die sich so vollkommen verstehen und begreifen, wie wir es bisher nur in Ausnahmefällen berühmt gewordener Liebespaare kennen. Durch die Freiheit der Frau und die Achtung vor ihrer Persönlichkeit gewinnt der Mann ebensoviel an Glücksmöglichkeiten. Und wenn ein altes Wort lautet: "Die beste Frau ist die, von der man nicht spricht," so wollen wir dem nun freilich nicht das Wort entgegenstellen: "Die beste Frau ist die, von der man am meisten spricht," wohl aber dürfen wir behaupten: "Die beste Frau ist diejenige, die nach ihrer Überzeugung handelt, gleichviel, ob man darüber spricht oder nicht." Der Grundsatz: "Sei dir selbst getreu" gilt auch für die Frau.

Das schwierigste Problem der Fortentwicklung ist, wie schon eingangs erwähnt wurde, die Vereinigung von Mutterschaft und Beruf. Eine Fülle individueller und sozialer Fragen erhebt sich hier. Niemand kann die ungeheuren Hindernisse verkennen, die sich einer völligen, einwandfreien Lösung des Problems entgegenstellen. Aber es muss wenigstens eine unvollkommene Lösung versucht werden, denn es gibt kein Zurückschrauben wirtschaftlicher Entwicklung. Mag man wollen oder nicht, das unablässige Anwachsen der Frauenarbeit auf allen Gebieten ist eine Tatsache. Ebenso ist es gleich undenkbar, wie unerwünscht, die so schwer errungene Unabhängigkeit der Frau wieder völlig aufheben, sie aus der Erwerbsarbeit entfernen, ins Haus festbannen zu wollen. Das Interesse des Mannes geht dahin, nicht in zweckloser Bekämpfung der Frauenarbeit seine Kräfte zu vergeuden, sondern im Gegenteil, durch gemeinsame Organisation mit den Frauen, durch Forderung gleichwertiger Vorbildung das Ziel zu erreichen, das auch die Frauen erstreben: gleichen Lohn für gleiche Leistung. Zu bekämpfen ist die Anspruchslosigkeit der Frau, die sie so oft zur Lohndrückerin macht. Auch diejenigen, die der verheirateten Frau ausschließlich den Mutter- und Hausfrauenberuf zuweisen wollen, erkennen doch an, dass man unmöglich alle Mädchen beruflos auf die Versorgungsehe warten lassen könne. Ergibt doch unsre Statistik, dass 57% des weiblichen Geschlechts bis zum 30. Jahr ehelos bleiben (einschließlich der Witwen beträgt der Prozentsatz der ehelosen in der Altersgruppe bis zu 30 Jahren nach Elisabeth Gnauck-Kühne 77%!) Sowie man aber die Erwerbstätigkeit der unverheirateten Frau als notwendig und berechtigt ansieht, lässt sich auch der verheirateten kein "Halt" zurufen. Denn der Mangel, an dem bisher noch unsre Frauenwelt krankt, ist die Tatsache, dass noch zu viel Mädchen ihre Tätigkeit als eine provisorische ansehen, weil sie doch hoffen, sie in der Ehe aufzugeben. Gerade aus diesem Grunde aber geht die unzureichende Vorbildung des weiblichen Geschlechts hervor, und aus dieser unzureichenden Vorbildung die Unterbietung mit weniger guten, aber billigen Arbeitskräften. Verlangt man, dass die unverheiratete Frau ihren Beruf ebenso ernst auffasst wie der Mann, und das muss geschehen, wenn nicht die Frauenarbeit dauernd eine Halbheit bleiben soll, verlangt man somit, dass für die Töchter der Familie dieselben Opfer an Zeit und Geld für die Vorbildung aufgewandt werden, so wird es sich in der Praxis ohne alles Theoretisieren als untunlich erweisen, ein solches Kapital, wie es die Ausbildung und der dadurch erlangte Verdienst darstellen, einfach bei Verehelichung fortzuwerfen. Dies gilt um so mehr, als wieder zufolge der Statistik eine große Zahl der Frauen genötigt ist, wegen Tod, Krankheit oder unzureichenden Verdienst des Mannes die Familie ganz oder teilweise zu erhalten. Darum steuern wir unaufhaltsam der Vereinigung von Mutterschaft und Beruf entgegen, und wer dies erkannt hat, wird nicht mehr versuchen, dagegen Front zu machen, sondern umgekehrt, alle Kräfte dafür einsetzen, dass unsre staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen umgestaltet werden, um diese Vereinigung ohne schweren Schaden für die Kinder zu ermöglichen. Eine der wichtigsten Forderungen auf diesem Gebiete bleibt somit die Einführung einer allgemeinen Mutterschaftsversicherung, die immer weiter ausgebaut, es der Mutter ermöglichen soll, sich zu schonen, und ihr Kind wenigstens in den ersten Lebensmonaten, später hoffentlich auch 1/2 Jahr und darüber, zu stillen.

Übrigens ist es auch unter rein ideellen Gesichtspunkten für unsre Auffassung keineswegs mehr ein Ideal, wenn die Last der Familienerhaltung allein auf dem Manne ruht. Schon heute ist in weiten Kreisen und nicht nur des Proletariats die Vaterschaft zu einem bloßen Schemen herabgesunken. Wir haben zahlreiche Väter, die vom Existenzkampf dermaßen in Anspruch genommen sind, dass ihnen für Familienleben und Erziehung der Kinder keine Zeit bleibt. Darum ist es Neuaufbau und nicht Zerstörung des Familienlebens, wenn man dafür eintritt, dass die Arbeit Beider die Familie erhalten soll, dann aber mit einem derart gekürzten Arbeitstag (8 Stunden), dass wirklich noch Zeit zum Familienleben verbleibt. Es heißt auch die Technik und ihre Entwicklung übersehen wollen, wenn man noch immer daran festhält, dass der Einzelhaushalt die Kraft der Frau voll benötige. Schon jetzt sehen wir die Ansätze zu einer vollständigen Umgestaltung der Hauswirtschaft in den Einküchenhäusern und Genossenschaftshaushaltungen, ferner in der sich unaufhaltsam vollziehenden Auflösung des Dienstbotenstandes, in der Umwandlung des hauswirtschaftlichen Kleinbetriebes in einen Großbetrieb. Ein Irrtum ist es zu glauben, dass etwa diese Einküchenhausgründungen das Kasernenmäßige und Schablonenhafte unsres Lebens noch verstärken wollen. Im Gegenteil: Die Bestrebungen werden von starken Individualisten getragen, die eine neue Heimkultur einführen wollen, und der Begriff der allerintimsten und behaglichsten Häuslichkeit ist durchaus vereinbar mit der Zentralküche und der Aufgabe der Verrichtung der zeitraubenden und ungemütlichen Kocherei, Heizerei, Wäsche usw. Wir stehen ja noch ganz am Anfang dieser Bewegung und schon haben sich in England interessante Typen entwickelt, die Verbindung des Eigenhauses mit der Zentralküche, sowie denn auch wertvolle Anregungen gegeben worden sind, um Gartenstädte mit solchem Zentralküchensystem zu schaffen. Sollten auch manche ersten Versuche wegen der Neuheit des Experiments nicht gleich gelingen, so bedeutet das nichts gegenüber der zweifellos kommenden wirtschaftlichen Entwicklung. Und die seichten Einwände, die man zumeist hört, erinnern nur daran, dass alles, was uns heute selbstverständlich ist, mit ebenso viel Misstrauen und Unverständnis betrachtet wurde, da dies Alte noch neu war. "In meiner Jugend durften wir Brot beim Bäcker nur ganz heimlich holen. Eine solche Schande wäre es gewesen, einzugestehen, dass nicht der gesamte Bedarf im Hause gebacken wurde." Dies hat mir erst kürzlich eine noch keineswegs sehr bejahrte Dame erzählt.

Die Einküchenhausbewegung bringt nicht nur die notwendige Reform der Hauswirtschaft mit sich, sondern zum Teil auch jene Ergänzungen, deren die Kindererziehung bedarf, wenn wir in Zukunft mit der erwerbstätigen Frau aller Schichten zu rechnen haben. Denn wenn wir auch voll dafür eintreten, dass die Mutter während des ersten Lebensjahres sich in weit höherem Umfange, als es bisher üblich war, ihren Mutterpflichten widmet, so müssen wir doch Vorkehrungen treffen, um dann die Frau wieder ungehindert ihrem Berufe zurückzugeben, ohne dass, wie es heute um vieler nichtiger Ursachen willen geschieht, die Kinder entweder verwahrlost oder unverständigem Dienstpersonal überantwortet werden. Was musterhaft geleitete Krippen und Kindergärten für einen kleinen Kreis Erwerbstätiger heute zu leisten vermögen, das könnten sie in viel größerem Umfange breiten Schichten zuteil werden lassen. Selbstverständlich soll nicht etwa von einem Kindergartenzwang analog etwa dem Schulzwang die Rede sein, wohl aber von ausreichenden Möglichkeiten für jede Mutter, die dessen bedarf, ihre Kinder in den Stunden, wo sie sich nicht selbst mit ihnen beschäftigen kann, den besten und bewährtesten Händen anzuvertrauen. Das Einküchenhaus in Friedenau, das in allernächster Zeit dem Betrieb übergeben wird, hat im Komplex seiner Gebäude auch einen Kindergarten nach den vorzüglichsten Grundsätzen eingerichtet; es steht den Müttern völlig frei, ihre Kinder regelmäßig dahin zusenden, oder sie nur stundenweise bei Abwesenheit vom Hause, anderweitiger Arbeit, Krankheit usw. dort unterzubringen. Die Zukunft wird auch ein von Pädagogen immer wärmer reklamiertes Schulideal, die Tagesschule als Erziehungsschule verwirklichen. Die Forderung entspringt den mannigfachsten Ursachen, die doch alle zu demselben Ergebnis führen. Schon heute haben wir 9 Mill. erwerbstätige Frauen, von denen, soweit es die verheirateten betrifft, ein großer Teil nicht in der Lage ist, die Mittagsmahlzeit für die Familie regelmäßig zu bereiten. Man kann wohl sagen, dass Hunderttausende von Kindern auf eine unbekömmliche ihnen daheim morgens zurückgelassene Nahrung, vielfach nur Kartoffeln und Kaffee, angewiesen sind. Zu denen, für die überhaupt Nahrung bereitgestellt werden kann, gesellen sich im Deutschen Reiche viele Tausende, deren Eltern nicht die Mittel haben, auch nur den Hunger der Kinder zu stillen. Man lese nur das beachtenswerte Büchlein von Helene Simon "Schule und Brot", es sind ja auch fast alle Gemeinden in letzter Zeit genötigt gewesen, sich mit der Frage der Schulspeisung zu beschäftigen; dennoch scheinen die bisherigen Maßnahmen noch alle als unzureichend. Dazu kommt, dass die weiten Wege vom Heim zur Schule und Arbeitsstätte sowohl in der Stadt wie oftmals auf dem Lande ein wirkliches behagliches Ausruhen zur Mittagszeit längst illusorisch gemacht haben. Es kommt weiter noch dazu, dass in unsern Großstädten die vom steinernen Häusermeer eingeklammerten Schulgebäude weit davon entfernt sein müssen, all jene Behelfe zu enthalten, die man mehr und mehr von der Schule verlangen muss, je weniger Gelegenheit den Kindern der arbeitenden Schichten in der Stadt zu einem Zusammenhang mit der Natur, zu irgendwelcher gesunder Körperkultur geboten ist. Es sind erbärmliche Palliativmittel, wenn man sich damit behilft, die von Wänden umschlossenen Schulhöfe als Spielplätze freizugeben, wenn man Blumentöpfe verteilt, die daheim gepflegt werden, wenn man versucht, irgendein tückchen Boden als Eisbahn anzulegen. Was vermag dies alles gegenüber den Scharen von Kindern, die in Mauern aufwachsen, in dumpfen überfüllten Räumen und von denen, wie Umfragen ergeben haben, ein großer Prozentsatz nie ein Kornfeld, eine Herde Schafe, wild blühende Blumen, ein Stück ausgedehntes freies Feld gesehen hat. Einsichtigen Pädagogen entspringt daher der Gedanke, die Schule, die immer mehr eine wirkliche Erziehungs- nicht eine Lernschule zu werden berufen ist. aus der Einschnürung der Großstädte hinaus zu verlegen an die Peripherie, in eine "pädagogische Zone," sie so ähnlich auszugestalten, wie die Waldschule in Charlottenburg, die ja leider bloß kranken Kindern zugute kommt, während sie in Wirklichkeit das Ideal der Schule für die Gesamtheit darstellen würde. Solche im Freien gelegene Schulen mit Gärten, Waldbestand, Bädern, Spielplätzen könnten in hohem Maße dazu beitragen eine Gesundung des Volkes herbeizuführen. Sie würden aber bei der unvermeidlich größeren Entfernung, die nach den gemachten Vorschlägen mit besonderen Zügen von Schnellbahnen zu überwinden wäre, eine ungeteilte Schulzeit mit daran anschließender Fertigstellung der Aufgaben, mit Spiel, Sport und Wanderung, kurz, eine Zusammenziehung alles dessen, was heute getrennte Organisationen der Kindheit leisten, erfordern, und somit unbedingt eine mittägliche Schulspeisung aller Kinder (der bemittelten gegen Erstattung der Kosten) nötig machen. Und wenn dann Mann, Frau und Kinder in den Nachmittagsstunden alle nach beendeter Tagesarbeit sich in einem Heime zusammenfinden würden, das selbst bei den Ärmsten frei wäre von hausindustriellen Betrieben, von den Dünsten, Gerüchen und dem Lärme der Hausarbeit, würde eine neue Blüte des Familienlebens zu gewärtigen sein. Wenn wirklich der Gehalt der Familie in nichts anderem bestünde als in der heute noch üblichen Form des Kleinbetriebes, der Reinigung der Wäsche und der Herstellung der Mahlzeiten, dann wäre die Familie nichts Besseres wert als unterzugehen. Aber der Zusammenhang zwischen zwei Menschen untereinander und beider mit den von ihnen gezeugten Kindern ist denn doch glücklicherweise ein viel ernsterer und tieferer, als dass er zerstört würde, weil bestimmte Formen der Hauswirtschaft als Überwunden und untergehend angesehen werden müssen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von den Männern und dem neuen Frauenideal.