Von den Männern und dem neuen Frauenideal.

Aus: Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft und Technik. sowie ihrer Beziehungen zur Literatur und Kunst.
Autor: Schreiber, Adele (1872-1957) österreichisch-deutsche Frauenrechtlerin, Politikerin, Journalistin, Erscheinungsjahr: 1909

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Männer, Frauen, Männerwelt, Gleichberechtigung, Familie, Schule, Frauenbewegung, Armenpflege, Mutterschutz, Geschlechter, Schulspeisung, Zerrbild, Hausfrau, Hausfrauendasein, Geschlechtswesen, Romanheldin, Ehe, Liebe, Mutterschaft, Beruf, Befreiung, Freiheit, Abhängigkeit, Bildung, Menschenrechte, Selbstverfügung, Reformbewegung, Misshandlungen, Gewalt, Alkoholismus
Allmählich aber unaufhaltsam beginnt die Männerwelt sich einem neuen Ideal der Frau zuzuwenden, insbesondere die männliche Jugend, die ja naturgemäß am entwicklungsfähigsten und fortschrittlichsten ist. Wie jedes Ideal ist auch dieses vorgeahnt, vorbewundert worden, man braucht nicht allzuweit zurückzugreifen, und aus der Fülle von Namen nur solche wie John Stuart Mill, Hippel, Schleiermacher, Ibsen, Multatuli zu nennen. Wie jedes Ideal, hatte auch dieses erst einige wenige für sich, ehe es von einem größeren Kreise begriffen und gewürdigt werden konnte. Aber wir sind jetzt auf dem Wege dazu. Die moderne Literatur der Kulturländer steht völlig unter dem Zeichen der neuen Frau, sie hat das süße Gänschen von einst überwunden; aus dem Zerrbild, das man ehedem von der selbständigen, schaffenden, studierenden Frau malte, ist die Romanheldin geworden, die mit ihrem Kämpfen und Ringen, als komplizierte, vielseitige Natur, in ihren Konflikten der selbständigen Denkerin und Erwerberin, im Mittelpunkt der gesamten Dichtung steht. Zugleich beginnt der Gegensatz zu schwinden, der einst zwischen den Männern und der Frauenbewegung bestand, ein Gegensatz, der keineswegs notwendig und berechtigt ist. Zu lange wurde übersehen, dass in der steten Wechselwirkung des einen Geschlechts auf das andre es auch für den Mann nur scheinbaren Gewinn bringen kann, wenn die Entwicklung der Frau zurückgehalten, gehemmt, die Kultur um die zahlreichen Werte geschmälert wird, die ein innerlich reicheres und freieres Frauengeschlecht ihr geben kann. Wenn tatsächlich in den Anfängen der Frauenbewegung die Bahn abseits vom Mann, weil abseits von der konventionellen Form des Hausfrauendaseins führte, so ist nur eine Kurve beschrieben worden, die heute wieder zu einer Annäherung der Geschlechter auf neuer Basis zurückführt. Das rege Interesse an sexuellen Fragen bedeutet nicht einen Niedergang, sondern den Beginn einer neuen Blütezeit, die Erkenntnis, dass es nichts Wichtigeres geben kann als das Problem der Rasse, der Bevölkerung, der bewussten, unter sozial-ethische Gesichtspunkte gerückten Fortpflanzung. Begreiflich ist es, dass in den Anfängen der Frauenbewegung eine Auflehnung der Frau gegen den ausschließlichen Charakter als Geschlechtswesen stattfand und dass sie, um gegen das alte Extrem Front zu machen, vielleicht in das gegenseitige Extrem verfiel. Um zu beweisen, dass die Frauen nicht nur Geschlechtswesen seien, wurde am liebsten übersehen, dass sie überhaupt geschlechtliche Eigenschaften hätten, noch heute sucht ja eine rein intellektuelle, in ihrem Gefühls- und Sinnesleben atrophierte ältere Richtung der Frauenbewegung das sexuelle Moment, dessen Bedeutung diese Geschlechtslosen nicht zu erfassen vermögen, als nebensächlich und gleichgültig, als unrein und "tierisch" hinzustellen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass gerade die fortschrittlichere viel verlästerte "radikale" Richtung als den zentralen Kern der Frauenbewegung die geschlechtlichen Probleme erkannt hat, die wichtige Frage der Umgestaltung von Ehe, Liebe, Mutterschaft unter den Gesichtspunkten der Rassenverbesserung, und dass sie ferner die große und schwere Aufgabe erfasst, die der Frau in Zukunft unweigerlich auferlegt werden wird, die Vereinigung von Mutterschaft und Beruf. Galten die ersten Kämpfe der Frau ausschließlich ihrer Befreiung aus geistiger Dumpfheit und Hörigkeit, aus wirtschaftlicher Abhängigkeit und Not, so ringt sie jetzt auch noch um ihre Freiheit auf zwei großen Gebieten: um ihre Staatsbürgerrechte und ihre Befreiung aus der sexuellen Hörigkeit. Wenn die Frau zuerst beweisen musste, dass sie fähig sei überhaupt am geistigen Leben teilzunehmen, als selbständig Erwerbende ihre Existenz zu sichern, so gilt es jetzt zu zeigen, dass sie vollwertig am politischen Leben teilzunehmen berechtigt ist, und dass sie ebensogut wie der Mann Menschenrechte verlangen darf, gerade in Bezug auf die intimsten und individuellsten Vorgänge des Lebens, die Selbstverfügung in Liebesangelegenheiten. Und wenn tatsächlich von Seiten führender Elemente in der "gemäßigten" Frauenbewegung die Behauptung aufgestellt wird, dass die sexuelle Reformbewegung mit der Frauenbewegung nichts zu tun habe, und versucht wird, jeden Zusammenhang zwischen diesen beiden abzuleugnen, so zeigt solche Behauptung so viel Kurzsichtigkeit und Mangel an Verständnis für die tieferen Zusammenhänge der Entwicklung, dass man solche Äußerungen bestaunen kann, sie wohl aber kaum ernstlich zu widerlegen braucht. Schon die geringste Beschäftigung mit der Frage lehrt, dass erst die wirtschaftlich und geistig selbständige Frau fähig wurde, den Kampf um ihre menschlichsten Rechte aufzunehmen, dass die treibende Kraft der sexuellen Reformbewegung vor allem eine Frauenbewegung ist, freilich eine die von solchen Frauen ausgeht, deren weibliches Fühlen durch die intellektuelle Reife nur erstarkte ihnen bewusster und klarer wurde, die darum volles Verständnis haben für das, was die Beziehungen zwischen Mann und Weib der Kultur bedeuten. Die geistige und politische Frauenbefreiung erscheint darum nicht als das Ziel an sich, sondern als die notwendige Voraussetzung für Vorgänge der Rassenauslese und Rassenverbesserung, die einer immer wachsenden Zahl von Menschen Zukunftsreligion sind. Sieht man die Frauenbestrebungen mit solchen Augen an, so zeigt es sich, dass auch das männliche Geschlecht gleichermaßen interessiert sein muss an den Fortschritten der Frauen. Schon die Tatsache, dass die Kindheit beiderlei Geschlechts gleich stark abhängig ist, vom Einflüsse der Mutter lässt eine Scheidung der Interessen nicht zu. Leidet das männliche Geschlecht in der Kindheit nicht ebensosehr, wenn die Mutter eine geringwertige Stellung in Staat und Familie einnimmt, wenn schlechte Frauenlöhne sie zur Überarbeitung und Unterernährung zwingen? Wird die männliche Frucht weniger geschädigt durch die industrielle Frauenarbeit, die in manchen Betrieben geradezu einem Massenmord am keimenden Leben gleichkommt? Leidet der Knabe weniger, wenn die Mutter den Misshandlungen eines verkommenen Ehegatten ausgesetzt, die Kinder nicht vor dem Vater zu schützen vermag, wenn Alkoholismus und Rohheit in der Familie herrschen? Ist es für den Knaben weniger traurig, wenn seine Mutter unwissend ist, unfähig die Kinder zu pflegen, geistig zu wenig entwickelt, um ihnen Rückhalt und Führerin zu sein?

Wir glauben heute nicht mehr an das Wort "Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand"; darum verlangt gerade unsre Zeit der fortschreitenden Frauenbewegung viel mehr von der "Mütterlichkeit". Es waren Zeiten "echter Weiblichkeit", in denen ein Ideal von Frauen, hysterisch, blass und zart, herrschte, Zeiten, in denen diese Frauen nur verlangten auf Händen getragen zu werden, dabei keinen Beruf und kein Stimmrecht forderten, und in diesen Zeiten wurde es Unsitte, dass die Mütter vermögender Kreise ihre erste Mutterpflicht vernachlässigten, indem sie dem Kinde die Mutterbrust verweigerten! Und es ist unsre Zeit der Frauenbewegung, wo die Frauen an die Türe der Parlamente pochen, allenthalben ihre Rednerinnen auf Tribünen stellen, in alle Berufe eindringen, wo gerade aus diesen Kreisen heraus die laute Forderung einer vollen Erfüllung von Mutterpflichten geltend gemacht wird. Gerade aus diesen Kreisen heraus wird jeder Mutter zugerufen, dass sie ihr Kind an die Brust legen müsse, sofern sie es irgend vermöge, wird dafür gekämpft, dass eine reichsgesetzliche Mutterschafts-Versicherung auch der ärmsten arbeitenden Frau dieses Recht und diese Pflicht wieder ermögliche! Unsre sozialen Zustände rufen überall nach der Mitarbeit der Frau, insbesondre die Lage des Kindes verlangt, dass den Frauen ein viel weitgehenderer Einfluss auf Gesetz und Erziehungswesen eingeräumt werde, genau so gut im Interesse der heranwachsenden männlichen wie der weiblichen Jugend. Nicht minder gilt das von unsern Sittlichkeitszuständen. Sie haben sich in Staaten entwickelt, in denen vor allem Männer ausschlaggebend für Einrichtungen und Gebräuche waren, und dennoch — sind sie etwa im Interesse der Männer? Man könnte es meinen, aber jede nähere Beobachtung zeigt, dass der Mann oft genug nur betrogener Betrüger beim Lebensfeste ist, dass die heutigen Einrichtungen zugunsten des geschlechtlichen Genusslebens der Männer auch die Männer unbefriedigt lassen, wie denn auch alle bisherigen Systeme der Prostituiertenkontrolle, so viel Härten sie auch für diese bejammernswerte Klasse von Frauen mit sich bringen, das Heer der Geschlechtskrankheiten nicht einzudämmen vermochte. Zerstörtes Leben, traurige Selbstmorde, und, selbst wenn keine tragischen Konsequenzen eintreten, Stumpfheit des Empfindens, ein verzweifeltes Gefühl, sich die Ursprünglichkeit und Tiefe des Fühlens nie zurückerobern zu können, gehen mit der heute üblichen Form des geschlechtlichen Genusslebens einher. Die besten Elemente der männlichen Jugend sind es, die alle vorhandenen von Staat und Gesellschaft gebilligten Vorkehrungen zur Befriedigung der männlichen Geschlechtsbedürfnisse als widerwärtig und unzulänglich erkennen. In diesen feinfühligen Männern, deren Zahl unter der Jugend zunimmt, ist eine höhere Sehnsucht rege, eine Sehnsucht die, wie die herrschenden Zustände und Anschauungen auf sexuellem Gebiete heute noch sind, auch für den Mann außerordentlich schwer ihr Zielerreicht. Freilich es ist besser geworden seit den Zeiten, da die Schicklichkeitsvorschriften tonangebender Bücher das Alleinsein zwischen jungen Mädchen und Männern als durchaus unpassend verwarfen, und Gespräche über Dinge des Gefühls als völlig unschicklich brandmarkten. Dennoch hört man noch immer berechtigte Klagen junger Männer darüber, wie schwer ihnen der zwanglose Verkehr mit den Mädchen und Frauen gleicher Bildungsstufe gemacht wird, und doch liegt gerade im möglichst zwanglosen Verkehr der Jugend beiderlei Geschlechts der beste Schutzwall gegen ein "Fallen". Man spricht so viel, so gedankenlos und ungerecht von "gefallenen Mädchen", man spricht nicht von "gefallenen Männern", und dennoch hat das Wort seine tiefe Berechtigung, wenn auch in ganz anderem Sinne, als der heutige Moralkodex es anwendet. Ein Mädchen "fällt" nicht durch eine wirkliche Liebesbeziehung, gleichviel ob diese gesetzlich sanktioniert war oder nicht. Sie fällt auch nicht durch die Tatsache, dass sie einem Kinde das Leben schenkt. Ebensowenig fällt ein Mann durch ein außereheliches Liebesbündnis. Wohl aber fällt ein Mann, wenn er seine ursprünglichen Ideale beschneidet, wenn er an die Stelle der großen und reinen Empfindungen, die er suchte, ein Begnügen mit rohen und käuflichen Formen des Geschlechtsgenusses setzt, wenn er beginnt, sich in gemeiner schlechter Gesellschaft wohlzufühlen, wenn sein ästhetisches verfeinertes Gefühl sich abstumpft, sein Gemüt verroht, wenn er seinen Ansprüchen an wirkliche Liebe entsagt, um wohlfeile Formen der Befriedigung aufzusuchen. Damit steigt er um viele Stufen des Menschentums herab, es ist ein Herabgleiten, wenn man es so nennen will, ein Fallen. Gegen diesen Weg, den so viel junge Leute halb freiwillig, halb unfreiwillig einschlagen, ist der Verkehr mit der gleichgestellten und gleichgebildeten Frau der einzige wirksame Schutz. Eine gute Basis würde schon die Koedukation in den Schulen mit sich bringen, die Erziehung von Knaben und Mädchen zur Interessengemeinschaft, zur gegenseitigen Achtung, die Aufhebung der übermäßigen geschlechtlichen Differenzierung schon in der Kinderstube, eine vernünftige Stellungnahme zum sexuellen Problem schon in der Kindheit, die Erziehung beider Geschlechter zu Sport und Spiel, zur Nacktkultur, die um vieles sittlicher ist als die Lüsternheit unsrer halbentblößten Gesellschaftssitten. Der Einwand, das die Koedukation die gegenseitige Anziehungskraft der Geschlechter zu stark mindere, erscheint mir hinfällig, das sehen wir nicht nur in den Verhältnissen mancher ländlicher Gegenden, wo ein großer Teil der Neigungen auf Schulfreundschaften sich aufbaut, das sehen wir heute auch schon vielfach in komplizierteren, geistig verfeinerten Kreisen, wo gerade bei gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem Studium sich in wachsendem Maße eine Erotik höchster und feinster Art entwickelt. Nicht selten finden wir auf solch geistig - seelischer Basis Beziehungen jüngerer Männer zu etwas älteren Mädchen und Frauen, und glückliche Ehen, die daraus hervor gehen. Mag dies auch vom rein physiologischen Standpunkt mitunter weniger wünschenswert sein, so dürfen wir darin doch ein gutes Zeichen des Fortschritts erblicken, den Beweis, dass der moderne Mann bei seinem Ideal der Frau beginnt, den seelischen und geistigen Reiz höher zu werten als die bloße Jugendfrische, den Inhalt der Frau über die bloße Form zu stellen. Die berühmte Mathematikerin Sonja Kowalewska hatte eines Tages ein Gespräch mit dem Bildhauer Runeberg, der sich darüber beklagte, dass ältere Frauen ein so wenig anziehender künstlerischer Vorwurf seien, während ältere Männer dem Künstler soviel bieten. Und Sonja erwiderte mit Recht: "Wenn erst die Persönlichkeit der Frau entwickelt sein wird, dann wird sie im Alter ebenso interessant für den Künstler sein wie der ältere Mann."

Promenade Kostüm – Marg. Trautwein – Berlin

Promenade Kostüm – Marg. Trautwein – Berlin

Straßen-Kleid – Marg. von Brauchitsch – München

Straßen-Kleid – Marg. von Brauchitsch – München

Straßen-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Straßen-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Gesellschafts-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Gesellschafts-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Tea gown. Vorder-Ansicht – Prof. H. van de Velde

Tea gown. Vorder-Ansicht – Prof. H. van de Velde

Rückseite, Tea gown Abb. 07

Rückseite, Tea gown Abb. 07

Besuchs-Toiletten – Frau Dr. E. B. und H. van de Velde

Besuchs-Toiletten – Frau Dr. E. B. und H. van de Velde

Frau Prof. van de Velde in einem von Herrn Henry van de Velde entworfenem Straßen-Kleide – Weimar

Frau Prof. van de Velde in einem von Herrn Henry van de Velde entworfenem Straßen-Kleide – Weimar

Besuchs- und Straßen-Kleid – Prof. H. van de Velde

Besuchs- und Straßen-Kleid – Prof. H. van de Velde

Straßen-Kleid Vorderansicht - Prof. H. van de Velde

Straßen-Kleid Vorderansicht - Prof. H. van de Velde

Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 13

Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 13

Zwei Empfangs-Toiletten - Prof. H. van de Velde

Zwei Empfangs-Toiletten - Prof. H. van de Velde

Rückseite der einen Empfangstoilette Abb. 15

Rückseite der einen Empfangstoilette Abb. 15