Von Maiblumen, Maiglöckchen oder Maililien.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Autor: Emil Gienapp, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Maiblumen, Maiglöckchen, Maililien, Blumen, Frühlingsboten, Garten, Frühlingsblumen, Maienzeit, Gartenbau, Landwirtschaft, Beliebtheit, Export, Schnittblumen,
Als Sendboten der knospenden Maienzeit gehörten einst und gehören auch heute noch die Maiblumen zu den und bekanntesten Frühlingsblumen. Nur Rosen, Veilchen, Primeln und Syringen können sich einer gleich großen volkstümlichen Verbreitung und Beliebtheit rühmen wie die Maiblumen. Sie sind echte und rechte Kinder unserer heimischen Flora und als solche typische Erscheinungen unserer Laubholzwaldungen, in denen sie an sonnigen, lichten und feuchten Stellen eine mehr oder weniger große, gleichmäßige, blätterdichte Bodendecke bilden, die dem Waldbesucher schon von weitem Wohlgeruch entgegenträgt. An diesen Standplätzen des natürlichen Vorkommens finden aber leider die Maiblumen heute nicht mehr die liebevolle Beachtung und hohe Wertschätzung, wie dies in früheren Jahren allgemein der Fall war. Seitdem vor etwa fünfzig Jahren Landwirtschaft und Gartenbau die Anzucht von Maiblumen als feld- und gartenwirtschaftliches Nutzprodukt aufgenommen haben und alljährlich viele Millionen Keime davon heranziehen, und seitdem mit Hilfe der Kälteindustrie das gärtnerische Treibverfahren der Maiblumen ein wesentlich schnelleres und einfacheres geworden ist, so dass man heute zu jeder Jahreszeit blühende Maiblumen kaufen kann, haben dieselben beim großen Publikum leider viel von ihrer einstigen Symbolik als liebliche Lenz und Frühlingskünder verloren.
Als Selbstfolge des Überganges von der wildwachsenden zur feld- und gartenmäßig kultivierten Pflanze ist das Blumenprodukt der Maiblumen ganz erheblich verbessert worden. Die an den wildwachsenden Pflanzen nur kurz gestielten und nicht gerade zahlreich mit Glocken besetzten Blütenstengel sind durch den Einfluss einer geregelten Kulturpflege länger und kräftiger und die Glocken zahlreicher, größer und in der Farbe viel weißer und reiner geworden. Auch zeigen die kultivierten Pflanzen eine weit größere und regelmäßigere Blütenfülle, sowie eine ausgiebigere Vermehrungsfähigkeit als die in der Natur sich selbst überlassenen Wildpflanzen.

Für die deutsche Land und Gartenwirtschaft, insbesondere auch für den ländlichen Kleinbesitz und für den ländlichen Frauenerwerb waren die Maiblumen infolge ihrer Brauchbarkeit als gärtnerische Treibpflanze für Schnittblumenzwecke zu einem wichtigen und einträglichen Kulturerzeugnisse geworden, das nicht nur in inländischen, sondern mehr fast noch in allen übrigen europäischen und vielen überseeischen, insbesondere aber in amerikanischen Treibgärtnereien ein aufnahmefähiges und kaufkräftiges Absatzgebiet fand. Die Maiblume spielte also nicht nur als Handelsobjekt, sondern auch im weltwirtschaftlichen Ausfuhrhandel eine recht bedeutende Rolle. Diese wirtschaftliche Nutzbarkeit der Maiblumenpflanzen wurde ausgangs der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zuerst von Hamburger Gärtnern und bald darauf auch von Berliner Blumenzüchtern erkannt. Seit Ende der achtziger Jahre ist sie durch die Anwendung des Kälte- und Konservierungsverfahrensmittels Eislagerung (Kühlhäuser) immer mehr gesteigert worden, bis mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Erfindung der Kältemaschinen durch Professor Linde und die Vereinfachung, Verbilligung und Verbesserung des bisherigen Gefrierverfahrens die Wirtschaftlichkeit der Maiblumenkulturen in ganz neue und noch gewinnbringendere Bahnen lenkte. Die Folge war, dass in fast allen Landesteilen, vor allem aber in Mecklenburg, Holstein, Brandenburg, Berlin, Schlesien, Hannover, Oldenburg, Pommern usw., zum Teil recht umfangreiche Maiblumenpflanzungen entstanden, die in einzelnen Betrieben all jährlich mehrere Millionen Treibkeime erzeugten, vielen arbeitsamen Händen Beschäftigung und lohnenden Verdienst gaben und wirtschaftlich nicht selten einen sichereren und größeren Nutz ertrag abwarfen als manche andere bodenwirtschaftliche Produkte. Denn im Gegensätze zu Keimen frischer Ernte, die über die Zeit ihrer natürlichen Blüte hinaus nicht mehr versenkbar waren, daher binnen weniger Monate vom Konsum ausgenommen sein mussten, und die sich außerdem auch in ihrer festen Verpackung bei längeren Reisen „warm“ lagen, in Trieb gerieten und in Fäulnis übergingen, war es nunmehr möglich, die im Erstarrungszustände befindlichen „Eiskeime“ noch nach der natürlichen Blütezeit und selbst inmitten des Sommers in die entferntesten Länder zu verschicken. Durch die Verteilung der jährlichen Ernte an Treibkeimen über einen größeren Zeitraum wurde naturgemäß Angebot und Nachfrage besser ausgeglichen und die Preisbildung gesunder gestaltet. Aber auch das Treib verfahren selbst vollzieht sich bei „Eiskeimen“ bedeutend einfacher und billiger, vor allem aber weit zuverlässiger als bei Keimen frischer Ernte.

Musste der Treibgärtner bisher bei letzteren mit einem Ausfall von fünfundzwanzig bis dreißig Prozent im Blumenertrage rechnen, auch für das sechs bis acht Wochen in Anspruch nehmende frühere Treibverfahren große Kosten und Mühen auf wenden und besondere technische Einrichtungen (Treibbeete) besitzen, um Blumen und Blätter zur gleichmäßigen Ausbildung zu bringen, so erbrachten die Eiskeime schon nach fünfundzwanzig bis dreißig Tagen bei einfachstem Treibverfahren in jedem Glashause oder Mistbeetkasten mindestens neunzig Prozent vollbelaubte und gut entwickelte Blumen. Auch in jedem Blumenfenster kamen diese „Eiskeime“ gut zur Entwicklung, so dass sich fortab auch die Zimmergärtnerei mit dem Treiben von Maiblumen beschäftigte. Und diesem für die Treibgärtnerei außerordentlich wichtigen Umstande der leichten Treibbarkeit ist es denn auch wohl zum wesentlichsten Teile zu danken, dass die Maiblumen zu den gesuchtesten und bestbezahlten deutschen Schnittblumen für die feine Blumenbindekunst geworden sind, und ihre Rohprodukte ein wertvolles Ausfuhrgut unserer Seehäfen bildeten. In seetüchtige Kisten mit tausend bis zwei tausendfünfhundert Stück Inhalt verpackt, reisten sie in für ihre Beförderung mit besonderen Kühleinrichtungen versehenen Schiffsräumen zum größten Teile nach Amerika, in geringeren Mengen nach Afrika, Asien und Australien, wo sie im Laufe der Jahre ganz einträgliche Absatzquellen gefunden hatten, weil hier einerseits der Maiblumenanbau wegen der hohen Arbeitslöhne zu teuer, anderseits aber auch mit Rücksicht auf die herrschenden klimatischen Verhältnisse kulturell unmöglich ist. Natürlich hat auch hier der Krieg zunächst alle Möglichkeiten für den deutschen Export abgeschnitten, und es bleibt abzuwarten, inwieweit sich in der Zukunft die Fäden wieder knüpfen lassen.

Anbau und Ausführung von Maiblumenpflanzungen sind außer von einem sich hierfür eignenden Kulturboden, einer mehr sandig-lehmigen, warmen und geschützten als tiefgründigen, nassen und windigen Bodenfläche, von keinerlei besonderen technischen Einrichtungen und kulturellen Maßnahmen abhängig. Von der Pflanzung bis zur Erntereife vergeht eine Zeit von drei Jahren mit Ausnahme der schweren Grab- und Rigolarbeiten können alle notwendigen Pflanz-, Hack-, Putz und Sortierarbeiten von weiblichen Arbeitskräften oder auch halbinvaliden, also nicht mehr voll erwerbsfähigen Personen beiderlei Geschlechtes erledigt werden. Auch der weitere Umstand, dass die Arbeiten des Putzens und Sortierens der Keime nach der Erntereife in den Abendstunden und an Regentagen vorgenommen und dadurch die Arbeitskräfte auch an frühdunkeln Herbst und für die Feldarbeiten hinderlichen Regentagen vollauf genutzt werden können, lässt die Maiblumenkultur für die Feld- und Gartenwirtschaft ganz besonders geeignet erscheinen. Im ländlichen Kleinbesitz kann sie gewissermaßen als eine Art Heimarbeit angesehen werden, bei welcher allen arbeitsfähigen Familienmitgliedern je nach ihrem persönlichen Können und Geschick Gelegenheit gegeben wird, sich an der Mehrung des wirtschaftlichen Einkommens und der Herbeiführung einer besseren Lebenshaltung zu betätigen.