Von Magdeburg bis Königsberg

Autor: Rosenkranz, Johann Karl Friedrich Dr. (1805 Magdeburg – 1879 Königsberg i. Pr.) deutscher Philosoph, Professor und Rektor an der Albertus-Universität Königsberg., Erscheinungsjahr: 1873

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Mein Leben zerfällt in zwei Hälften. Die erste reicht von Magdeburg bis Königsberg, die zweite verläuft seit vierzig Jahren in Königsberg. — Diese Stadt ist so sehr meine zweite Heimat geworden, dass ich mich nach ihr, wenn ich einmal längere Zeit von ihr entfernt war, immer wieder zurücksehnte. Die Freude an meinem Lehramt, die Anhänglichkeit meiner Zuhörer, die Liebe meiner Kollegen und die Freundschaft so vieler ausgezeichneter Menschen haben mich die bekannten Unbilden der hiesigen Lokalität längst vergessen lassen. — Als ich nun vor mehreren Jahren durch eine Reihe sehr schmerzlicher Ereignisse ganz in mich hineingescheucht wurde, reagierte ich, nach meiner Weise, durch wissenschaftliche Arbeiten. Mein Gemüt suchte aber nach einer noch anderen Genugtuung. In dieser Stimmung fiel ich darauf, das vorliegende Buch zu schreiben. Als ich es im vorigen Sommer vollendet hatte, schien es mir nicht unwert, auch veröffentlicht zu werden, weil es sittengeschichtlich, pädagogisch und literarisch einen Beitrag zu derjenigen Entwicklung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gibt, welche wir jetzt mit dem Namen der Romantik zu bezeichnen Pflegen. Man sieht, wie ich allmählich ganz in sie versinke und wie ich mich dann allmählich durch die Philosophie aus ihr herauszukämpfen anfange. Ich sage: anfange, denn auch hier in Königsberg dauerte der Kampf fort. Waren der Romantik doch von hier durch Hamann, Hippel und Werner starke Elemente zugeführt worden, die auf einem Dualismus zwischen nüchterner Verständigkeit und phantastischer Überschwänglichkeit beruhen.

Die Personen, die ich erwähnen musste, sind großenteils dahingeschieden; doch lebt noch eine kleine Anzahl meiner alten Freunde, fast von jeder Station noch der eine oder andere, Repräsentant. Auch meine gute Schwester Henriette, die Gefährtin und Vertraute meiner Jugend, habe ich das Glück, noch am Leben zu besitzen. Meine Frau erlebte noch die Niederschrift dieses Buchs. An dem Tage aber, an welchem der erste Korrekturbogen desselben von Berlin anlangte, legten wir sie, nach langen und schweren Leiden, in den Sarg.

Die ehrwürdige Anstalt, welcher ich die Grundlagen meiner gelehrten Bildung verdanke, das Pädagogium Kloster Lieben Frauen in Magdeburg, habe ich 1866 wiedergesehen. Von der Straßenseite her fand ich die zu ihm gehörigen Häuser unverändert, im Innern dagegen große Umbauten, Erweiterungen und Verschönerungen. Mein ehemaliger Kollege, Herr Professor Dr. Schulze, hatte die Güte, mich umherzuführen. Mit Wehmut betrat ich die Stufen der großen Treppe, beschritt ich den Klassensaal mit seinen nach dem Kreuzgang gerichteten Fenstern und das Zimmer, worin jetzt noch, wie zu meiner Zeit, die Abiturientenarbeiten gefertigt werden. Die Menge der Klassen, die Ausdehnung des Alumnats, der überall herrschende Komfort der Einrichtung, gaben mir eine Anschauung von der Blüte, deren sich das Kloster gegenwärtig erfreut.

Die Überschriften, welche ich den einzelnen Kapiteln gegeben habe, sollen den Inhalt derselben nicht, wie es jetzt üblich ist, erschöpfen. Sie sollen dem Leser nur einen chronologischen und topographischen Leitfaden mit einer ungefähren Andeutung der Hauptsache darbieten. Wenn ich in der Überschrift zum dreizehnten Kapitel sage: ich reiße mich von der Theologie los, so hätte ich mich vielleicht anders ausdrücken sollen, nämlich: ich reiße mich von dem Beruf für den geistlichen Stand los. Denn das Nachdenken über die Frage, ob ein Wesen existiert, wie die Menschen es sich unter dem Worte Gott vorzustellen pflegen, ist im Grunde das Problem, welches mich unaufhörlich beschäftigt und auf welches ich von jeder besonderen Wissenschaft aus zurückkomme. Alle sogenannte positive Theologie macht die Existenz Gottes schon zur Voraussetzung, die Philosophie aber hat diese Hypothese selber kritisch zu analysieren. Der Glaube beruhigt sich bei dem Zeugnis der Auctorität; die Wissenschaft, um zur absoluten Gewissheit vorzudringen, kann des Zweifels an der Wahrheit des Glaubens nicht entbehren.

Ich habe einfach, ohne allen künstlichen Aufputz, die Geschichte meiner Jugend erzählt. Die Zusammenhäufung der romantischen Elemente in ihr ist von mir rein tatsächlich, ohne Tendenzmacherei, geschildert. Ich habe der Versuchung widerstanden, diese Elemente über das Maaß meiner Wechselwirkung mit ihnen in eine Breite auszudehnen, zu welcher die biographische Form so leicht verlockt. Ich habe daher z. B. von dem Bergbau in Eisleben nur gesagt, dass ich durch einen öfteren Aufenthalt in dieser Stadt eine genauere Kenntnis des Berg- und Hüttenwesens erlangt habe. Der Bergmann galt nach Novalis' Ofterdingen auch als eine poetische Figur der Romantik. Als ich aber in Eisleben mich auf eine gründlichere Anschauung seiner Arbeiten einließ, stand, ich schon nicht mehr auf dem Standpunkt, in ihm mit der Romantik nur die geheimnisvolle Seite seines unterirdischen Reiches zu bewundern. Es überwog bereits die rationelle Auffassung. Nichts desto weniger gehört es zu der Vollständigkeit meiner romantischen Erfahrung, dass ich auf ganz natürliche, ungesuchte Weise auch den Betrieb des Bergbaus kennen lernte.

Unter den Druckfehlern dieser Schrift sind manche sehr lächerliche, z. B. ein Operprimaner statt eines Oberprimaners; oder boshafte, wie eine Phrase statt Phase der Begeisterung. Einen Fehler aber muss ich hier ausdrücklich denunzieren, weil er eine historische Unrichtigkeit enthält. Seite 277 steht: Reinhards Garten; es muss aber heißen: Reichhards Garten.

Eine gerechte Kritik darf ich wohl nicht daran erinnern, dass in diesem Buche nicht mein ganzes Leben, sondern nur dessen erste kürzere Hälfte vorliegt, welche zeigt, wie ich aus dem labyrinthischen Irrgarten der Romantik mich bis zur Freiheit der Philosophie fortgearbeitet habe, deren Kultus in Lehre und Schrift das höchste Glück meiner Existenz ausmacht.
Königsberg, im Mai 1873.
Karl Rosenkranz.

Inhaltsverzeichnis.


I. Kapitel
Neustadt Magdeburg. Die Kolonie der Reformierten. Das Paradies der Kindheit. Die Wunderfamilie Favreau

II. Kapitel
Altstadt Magdeburg, Belagerung. Meine Verwilderung durch den
Krieg und seine Folgen.
III. Kapitel
Errettung des höheren Sinnes in mir durch die Eindrücke der bildenden Kunst.

IV. Kapitel
Schule der Altstadt Magdeburg. Das Pädagogium Kloster der lieben
Frauen. Harzreise und die Universität Göttingen.

V. Kapitel
Melancholie des Jünglings. Karl Immermann.

VI. Kapitel
Berlin. Ich stürze mich in die heterogensten Studien und Verhältnisse.
Der Mathematiker Grüson. Professor Zeune. Der Jurist Müller.
Die Hoffmann'sche Romantik und mein Roman: „Graf Gundolf"

VII. Kapitel
Meine erste Bekanntschaft mit der Hegel'schen Philosophie durch Leopold
von Henning

VIII. Kapitel
Magdeburg. Kritik der Berliner Hof- und Dom-Agende. Berlin.
Wie Schleiermacher und Steffens mich bezauberten. Die Renaissance

IX. Kapitel
Seltsame Geschichten mit den Juden Beifuß und Auerbach. Verzückung in Jean Pauls Titan

X. Kapitel
Die Ironie der romantischen Schule. Otto von Ravensberg. Ich versinke in einen spekulativen Mystizismus. Meine erste und letzte Predigt

XI. Klasse
Halle. Pfingstreise nach Schloss Mansfeld. Kampf zwischen Rationalismus und Supranaturalismus. Schlauchs Wanderungen Gottes und des Teufels zur Entdeckung der besten Dogmatik. Hinrichs gewinnt mich für die Hegel'sche Philosophie

XII. Kapitel
Heidelberg. Daubs Einwirkung auf mich. Mein Verkehr mit Wippermann, Wunderlich, Franz Kugler und Theodor Parow. Geistlich Nachspiel zur Tragödie Faust. Rheinreise

XIII. Kapitel
Magdeburg. Abhandlung über den Titurel. Ich reiße mich von der Theologie los

XIV. Kapitel
Halle. Promotion. Durchgang durch den Spinozismus. Therese von
Jacob, genannt Talvj

XV. Kapitel
Mußmann und Bohtz. Philosophisches Satyrspiel. Habilitation

XVI. Kapitel
Reise nach Berlin. Halle. Calderons wundertätiger Magus. Neue Bekanntschaften. Lafontaine. Vorlesungen des Teufels über sich selbst

XVII. Kapitel
Hotho, Varnhagen. Friedrich Lorentz. Moritz Besser und Heinrich Leo.
Das Problem der persönlichen Unsterblichkeit. Friedrich Richter von
Magdeburg. Kritik der Schriften ds tribus impostoribus. Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter. Pfingstreise nach Dresden. Besuch bei Tieck. Die Naturreligion. Kritik der Schleiermacher'schen Glaubenslehre. Enzyklopädie der theologischen
Wissenschaften. Tholuck

XVIII. Kapitel
Märchenhafte Zustände. Die Bergstadt Eisleben. Der Beuchlitzer Weinberg. Die Pfarre in Giebichenstein. Sekretariat des thüringisch-sächsischen Altertumsvereins. Neue Zeitschrift für die Geschichte der Germanischen Völker. Hofrat Dorow. Die Gesellschaft vom ungelegten Ei. Studentenkultur

XIX. Kapitel
Die Cholera. Berlin. Hegels letzter Geburtstag. Choleraquarantäne im Gasthof Mailand vor Wittenberg. Halle. Hegels Tod. Winterreise nach dem Harz. Halle. Die Cholera bringt mich dem Tode nahe

XX. Kapitel
Heinrich Stieglitz. Die Geschichte der Poesie

XXI. Kapitel
Übergang in die Prosa. Entscheidung für Königsberg. Abreise von Halle

Magdeburg, Dom Westseite

Magdeburg, Dom Westseite

Magdeburg, Breiteweg mit Katherinenkirche

Magdeburg, Breiteweg mit Katherinenkirche

Magdeburg, Ansicht des Neuen Marktes z. Zt. des alten Dessauers

Magdeburg, Ansicht des Neuen Marktes z. Zt. des alten Dessauers

Magdeburg, Alter Markt

Magdeburg, Alter Markt

Magdeburg, Alexius-Kapelle, jetzt im Hof des Klosters Unserer Lieben Frauen

Magdeburg, Alexius-Kapelle, jetzt im Hof des Klosters Unserer Lieben Frauen