Aus der livländischen Schweiz

Im Laufe der Jahre macht man wohl oder übel die Bekanntschaft mit einer Anzahl „Schweizen“. So hatte auch ich allmählich außer der eigentlichen Schweiz noch die sächsische, die märkische, die altmärkische, die holsteinische über mich ergehen lassen. Nun sollte ich auch noch die – livländische zu sehen bekommen! Ich bekenne, daß meine geographischen Kenntnisse mir bisher nicht erlaubten, mir irgend welche Vorstellungen über diese Gegend zu machen; ja, ihr Dasein war mir völlig verborgen geblieben. Ich fürchte, manchem der verehrten Leser und Leserinnen wird es nicht anders gehen. Nachdem ich sie aber besucht habe, kann ich nicht umhin, meine Befriedigung über das Geschaute auszudrücken und dem Leser, wenn er in jene Gegend kommen sollte, zu empfehlen, den Besuch nicht zu versäumen. Freilich, wen führt sein Weg nach Riga? Sind doch, abgesehen von der Entfernung, die politischen Verhältnisse in den Ostseeprovinzen nicht gerade verlockend für Reichsdeutsche.

Unser Geschäftsfreund, Herr Frisk, ein Norweger, stellte uns eine Reiseroute zusammen, und am Morgen des nächsten Tages – es war ein schöner, sonniger Sonntag – begaben wir uns nach dem Dünaburger Bahnhof. Vor dem Gebäude erhebt sich eine prächtige Kapelle, errichtet aus Anlaß der glücklichen Errettung des Zaren beim Eisenbahnunglück von Gurski.


Die Fahrt ging langsam; sie dauerte fast zwei Stunden bis nach Segewold, der Eintrittsstation in die Schweiz. Ein mit uns reisender Deutschrusse versicherte uns, daß nicht alle Züge in Rußland so gemütlich führen. Die Fahrt ging meist durch Kieferwälder, die abscheuliche Spuren von Brand an sich trugen; alles war versengt; ein kläglicher Anblick. Der Deutschrusse belehrte uns, daß dies von den Lokomotiven herrühre, die mit Holz heizten und bisher keine Funkenfänger gehabt hatten; das Uebel sei jetzt aber abgestellt.

In Segewold angekommen, sahen wir uns nach den Droschken um, von denen wir, nach dem Rat unseres Freundes, eine für den Tag mieten sollten. Es waren jedoch keine zu sehen; nur eine ganze Reihe einspänniger Wagen, die aus einem Gestell mit einem Brett darauf bestanden, waren in Reih und Glied vor dem Bahnhof aufgepflanzt. Während wir zögernd dann vorbeischritten, traten mehrere der Kutscher auf uns zu und luden uns ein zum Aufsitzen; jetzt dämmerte uns ein Licht auf; das waren die Segewolder Droschken! Reit- oder Liniendroschken nennt man diese Art Beförderungsmittel, die auf dem Lande allgemein üblich sind. Man sitzt entweder wie zu Pferde oder auch seitwärts, wobei man sich an eine primitive Lehne, ein Brett, anlegen kann, während die Füße auf einem zweiten Brett ruhen. Man hat anfangs genug zu thun, sich recht festzuhalten; denn der Wagen fährt hart. Er bietet übrigens Platz für 3-4 Personen.

Nachdem wir einen Kutscher gewählt hatten, der gut deutsch sprach, wurden wir handelseinig, daß er uns für 2-1/2 Rubel überall hinfahren sollte, und wir ließen uns nicht von einem andern abspenstig machen, der uns dieselbe Leistung für zwei Rubel anbot.

Die livländische Schweiz ist eine hügelige, reich bewaldete Gegend, durchflossen von der livländischen Aa, die in den Rigaischen Meerbusen mündet. Der Wald besteht nicht aus einer Baumart vorwiegend, sondern aus vielen, wodurch reiche Abwechselung und im Herbst die bunteste Färbung hervorgerufen wird. Drei Schloßruinen, auf hohem Ufer gelegen, zeugen von der Macht der deutschen Ordensritter; es sind die Burgen Kremon, Treiden und Segewold. Von den Schloßgärten genießt man Ausblicke in das liebliche Aathal mit seinen grünen Wiesen und dem sich hinschlängelnden Flusse. Stellenweise tritt Sandstein zu Tage, der so weich ist, daß man mit dem Fingernagel darin schreiben kann. Die Gutmannshöhle, die aus solchem Sandstein besteht, ist mit Tausenden von Inschriften bedeckt, darunter folgende:

Den Namen schreibt in das Gestein,

Die Heimatslieb ins Herz hinein!

Eine andere, weniger ideale Inschrift lautet:

Ach alles ist veränderlich,
Das Mäuschen wird zur Ratz,
Was früher hübsch Gesichtchen war,
Wird doch zuletzt zur Fratz.

Auf dem Wege nach Schloß Treiden liegt ein winziges Kirchlein. Die Thür stand offen und die Klänge der Orgel und des Gesanges drangen hinaus in die warme Sommerluft. Es war eine protestantische, lettische Kirche, in der einmal jährlich deutsch gepredigt wird.

Eine ausführlichere Beschreibung dieses schönen Fleckchens Erde würde den mir zugemessenen Raum überschreiten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco