Nach Helsingör

Wie Iphigenie einst am Strand von Tauris saß, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“, so saß auch ich am Strande, aber nicht von Tauris, sondern von Seeland, und zwar suchte ich nicht Griechenland, sondern bloß Finnland, woher ich die „Mira“ erwartete, die mich an Bord nehmen sollte. Die Zeit wird einem bekanntlich lang, wenn man wartet, und doppelt lang, wenn man so aufs Ungewisse wartet. Unter den Hunderten von Schiffen, die täglich den Sund passieren, das richtige herausfinden, war keine Kleinigkeit. Ich glaube, ich konnte dem alten Knaben aus Salas y Gomez seine Qualen wenigstens en miniature nachfühlen. Der mir seit Jahren befreundete Kapitän des Schiffes hatte ein Zeichen mit mir verabredet, an dem ich die „Mira“ erkennen sollte; er wollte mit der Dampfpfeife einen langen Ton und zwei kurze geben. Daß ich eine unruhige Nacht hatte, läßt sich denken. Schon um drei weckte mich ein Pfiff. Ich sprang ans Fenster und sah ein Dampfschiff vorbeigleiten -“doch das eine war es nicht“. Kapitän Brink hatte mir die Stunde seiner Abfahrt von Lappvik in Finnland nach Flensburg telegraphiert, und ich konnte danach ziemlich genau berechnen, wann er Helsingör passieren müßte: 60 Stunden brauchte er bei normalem Wetter zu der Fahrt; das wäre Sonntag früh um 6 Uhr gewesen. Um 5 Uhr stand ich auf und trank Kaffee. Im Hotel regte sich außer dem Portier und dem Hausmädchen noch nichts. Von den breiten Fenstern des Restaurants im Erdgeschoß konnte ich den belebten Sund, an dessen schmalster Stelle Helsingör liegt, übersehen, auch Helsingborg auf der schwedischen Seite. Als der Regen aufhörte, spazierte ich am Ufer hin und her; herrlich von der Sonne beschienen lag die seeländische Küste da; zur Linken drohte die finstere Kronburg, auf deren Terrasse einst der Geist von Hamlets Vater die Wache in Schrecken setzte.

Allmählich wurde es lebendig im Restaurant, Fremde gingen ab und zu, dänische Offiziere tranken ihr Bier, lasen die „Fliegenden Blätter“ und plauderten. Ich las alles, dessen ich irgend habhaft werden konnte, vor allem das Kopenhagener Adreßbuch. In Verzweiflung fing ich an, die Spalten mit den am häufigsten vorkommenden Namen zu zählen, will aber den Leser mit dem eingehenden Ergebnisse dieser wichtigen Statistik nicht behelligen, sondern nur mitteilen, daß Hansen 38 Spalten à 84 Zeilen füllt (also 3.192 Träger dieses Namens giebt es, wobei die Zahl der etwaigen Familienmitglieder nicht berücksichtigt ist); demnächst kommt Petersen (34 Spalten), Jensen (33 Spalten), Nielsen (31 Spalten), Andersen (18 Spalten) &c. Da muß sich das Flensburger Adreßbuch mit seinen 12 Spalten Hansen und 12 Spalten Petersen verkriechen! Erwähnen will ich doch, daß der berühmte Ibsen 1-1/2 Spalten Namensvettern hat, von denen sich allerdings einige mit dem „harten“ p schreiben.


Da ich überall, wo ich bin, gerne die Nationalgerichte probiere, so ließ ich mir eine Portion Jodbaer med Flöde geben (Erdbeeren mit Rahm), die bei mir von einem früheren, längeren Aufenthalt in Kopenhagen noch in gutem Andenken standen. Als ich diese möglichst langsam verzehrt hatte, schlug ich eine Stunde tot mit dem schwedischen Kursbuch. Ich erfuhr genau, wie viele Stunden man von Malmö nach Stockholm braucht und daß Dampfschiff auf schwedisch Ångbåt heißt. Als Zwischengericht trank ich ein Glas Helsingörer Bier, unbekümmert darum, was die Erdbeeren und der Rahm zu dem neuen Ankömmling sagen möchten. So wurde inzwischen aus der sechsten die zwölfte Stunde. Meine Nervosität wuchs, aber es blieb mir nichts übrig, als mich allmälich nach der Zeit des Mittagessens im Hotel zu erkundigen. Zugleich ließ ich mir ein Fernrohr vom Kellner geben, und siehe da, jetzt erschien ein Schiff vom Süden, das große Aehnlichkeit mit der heißersehnten „Mira“ aufwies. Die äußere Form, lang und schlank, die Holzladung, der in mächtigen Buchstaben an der Breitseite prangende Name, der zwar noch nicht lesbar war, aber etwa vier Buchstaben zeigte; endlich - und dies Zeichen konnte nicht trügen - der siebenzackige weiße Stern auf dem blauen Bande des schwarzen Schornsteins, und jetzt - ertönte ein Pfiff, ein langer, endlos langer - ich rufe nach meinem Koffer, der sich noch auf meinem Zimmer drei Treppen hoch befindet - ein zweiter kurzer Pfiff, dem gleich darauf ein dritter folgt - inzwischen ist der Koffer gekommen - ich suche nach dem Portier, um ihm drei Postkarten zu bezahlen und ein Trinkgeld zu geben für die Teilnahme, die er für mein Schicksal gezeigt - er ist nicht zu finden, da soeben ein Zug auf dem Bahnhof ankommt - gleichviel, ich muß fort und dem Braven schuldig bleiben - ich schicke ihm später den Betrag durch Postanweisung; mag er mich eine Woche lang für einen Verräter halten!

Ich stürze mit meinen Siebensachen nach der Mole, finde nach einigem Suchen ein Boot und bin in einer kleinen Viertelstunde an Bord der „Mira“, die inzwischen beigedreht hat; auf der Kommandobrücke schwenkt der Kapitän seinen Hut; ich drücke meinem Bootsführer eine Krone in die Hand, muß aber noch zwei nachzahlen, denn das ist die Taxe (bei schlechtem d.h. stürmischem Wetter und in der Nacht sind es sogar fünf), und - me voilà, ich klettere die Fallreep hinauf, ich bin geborgen. Das Schiff setzt sich wieder in Bewegung, sein Aufenthalt hat höchstens eine halbe Stunde gedauert, ich habe also das beruhigende Bewußtsein, seinen Reedern keinen erheblichen Schaden zugefügt zu haben.

Während ich es mir in meiner Kabine bequem mache, meine Sachen auspacke und ordne, möge der wißbegierige Leser sich kurz erzählen lassen, wie ich von Flensburg nach Helsingör gelangt bin.

Als Kuriosum verdient zunächst erwähnt zu werden, daß man zu der etwa zehnstündigen Reise acht verschiedene Fahrgelegenheiten (zwei Dampfschiffe, sechs Eisenbahnen) benutzen muß. Von Flensburg gings 12 Uhr mittags mit dem Zuge nach Norden, durch endlose Heiden, die nur dem erträglich werden, der sie mit der Phantasie eines Andersen betrachtet. Dazu muß man besonders aufgelegt sein, und das war ich nicht; der fortwährend herabrieselnde Regen trug auch nicht zur Verbesserung der Laune bei. Wie eine Wohlthat empfand ich es, als jenseit der dänischen Grenze das Terrain wellig wurde und die kleinen Thäler mit frischen Wiesen, die niedrigen Berge mit prächtigen Buchenwäldern sich schmückten. Der andauernde Regen der letzten Wochen, der jetzt plötzlich aufhörte, hatte bewirkt, daß die Wälder wie im Maigrün prangten.

Kleine Nationen (ganz Dänemark zählt etwas mehr Einwohner als Berlin) lieben es bisweilen, besonders deutlich Farbe zu bekennen. Alle Lokomotiven, die ich sah (und ich sah wohl beinah alle!), und alle Dampffähren (auch von diesen dürften mir nicht viele entgangen sein), tragen weiß-rote Bänder an den Schornsteinen; auch dänische Seedampfer sah ich häufig mit den Nationalfarben am Schornstein.

Erquicklich angemutet fühlte ich mich durch das Abschiedswort, das man überall hört: Farvel! Wir haben uns unsern deutschen Gruß leider durch Adieu! rauben lassen, und wo man auf dänischen Bahnen und in dänischen Wartesälen den französischen Gruß hört, da kann man sicher auf - Deutsche schließen. Nicht beistimmen kann man den Dänen, daß sie sich, seit den letzten 30 Jahren, so entschieden von allem Deutschen ab- und dem Französischen zuwenden, zu welch ersterem sie doch nur einen Appendix bilden. Man muß das Lachen verbeißen, wenn man im Rauchzimmer der Dampffähren unter Photographieen, die als Reklame zur Bereisung Dänemarks anfordern sollen, liest: Lac de Sorö, Ruines du Chàteau de Kolding, Une ruelle de Ribe. Für wen sind denn diese Unterschriften? Etwa für Franzosen? Wieviel Franzosen bereisen Dänemark? Es ist nicht übertrieben, wenn man auf hundert Deutsche einen Franzosen rechnet. Man berechne doch billigerweise die Reklame nach demjenigen Volke, das wirklich kommt und Geld ins Land bringt und nicht nach demjenigen, dessen geographische Begriffe über Dänemark sicher ebenso verworren sind, als über manche anderen großen und kleinen Länder.

In Friedericia müssen wir den Zug verlassen, der weiter nach Norden dampft, und nach kurzer Kaffeepause besteigen wir den Zug, der uns in zwei Minuten hinunter an den kleinen Belt bringt, wo die Dampffähre auf uns wartet. Sie nimmt nicht nur die Passagiere, sondern auch einige Eisenbahnwagen auf. In 1/4 Stunde sind wir drüben auf der Insel Fünen, deren fruchtbare Fluren wir in 1-1/2 Stunden durchqueren. Andersens Geburtsort Odense verrät mit seinem prosaischen Bahnhof, der ebenso wie alle übrigen dänischen Bahnhöfe in geschmackloser Weise durch Plakate verunziert, nichts von dem Zauber der Poesie, der in dem großen Märchenerzähler wohnte.

Auf der Ostseite Fünens besteigen wir die weit größere Dampffähre, die uns über den Großen Belt trägt. Das ist schon eine Art Seefahrt; sie dauert reichlich eine Stunde. Zwölf Eisenbahnwagen zählte ich, die auf der mächtigen Fähre Platz fanden. Möven umflatterten zu Dutzenden das Fahrzeug und erschnappten im Fluge gierig die Bissen, die ihnen von Reisenden zugeworfen wurden. Ein stolzes deutsches Kriegsschiff, das unseren Kurs kreuzte und bald im Kattegat verschwand, erregte die Aufmerksamkeit der Passagiere weit weniger, als ein Zauberkünstler, der mit wenig Witz und viel Behagen seine Sprüchlein hersagte und bald ein dankbares schaulustiges Publikum um sich versammelte. Nach jedem Stück erntete er Gelächter, von Zeit zu Zeit verlangte ihn aber nach greifbarerem Lohne, den er in seinem schäbigen Zylinder einheimste.

In Korsör vertauschte ich wieder das Dampfschiff mit dem Zuge, der mich in reichlich einer Stunde nach Kopenhagen brachte. Seeland bietet landschaftlich weit mehr als Fünen. Bald braust der Zug durch prächtige Buchenwälder; bald sieht man rechts und links reichen Wechsel von Hügeln und Thälern, Wiesen mit weidendem Vieh, Kornfelder, hie und da auch einen See. Hier und bei Roskilde werden dem litteraturkundigen Deutschen Erinnerungen wach. In Sorö lehrte einst Basedow; Roskilde ist durch Klopstocks Ode „Rothschilds Gräber“ berühmt geworden.

In Kopenhagen hatte ich nur eben Zeit umzusteigen, und durch die Dämmerung ging's gen Norden, nach Helsingör, wo ich gegen 11 Uhr eintraf und im Jernbanehotel (Eisenbahnhotel) abstieg.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco