Gent

Am Nachmittag besichtigten wir die Stadt (180.000 Einwohner). Sie ist von vielen Kanälen durchschnitten und hat 3 verschiedene Teile. Unser Schiff liegt in der Fabrikgegend, mit vielen Estaminets (niedrigen Wirtschaften), die volkstümliche Bezeichnungen haben, z.B. In de Swaan, In der kleinen Camelia, In den groenen Appel, In de groote Maas, In de goode Drank, In Nazareth (Name eines Dorfes bei Gent) u.s.w. Der zweite Stadtteil, der alte Kern der Stadt, enthält viele öffentliche Gebäude, die entweder durch geschichtliche Erinnerungen oder durch Schönheit der Architektur hervorragen, z.B. Chateau des Comtes (de Flandre), der Dom St. Bavo, der Bergfried, ein stattlicher hoher Turm, das gothische Rathaus, sowie eine Anzahl Kirchen. Der neue Stadtteil endlich hat moderne breite Straßen mit hübschen Häusern ohne besondere Eigentümlichkeiten. Hier fanden wir im Gambrinus gutes Münchener Bier, das uns bei der Hitze und dem vielen Herumlaufen sehr wohl that. Was Gent fehlt, sind größere, öffentliche Gartenanlagen, wie sie in deutschen Großstädten existieren. Man sehnt sich recht danach, aus dem Häusergewirr, der Hitze und dem Staube in kühle, wohlgepflegte Anlagen zu flüchten; die vorhandenen sind bis jetzt nur schwache Anfänge.

Der ganze Freitag gehörte Ostende, das man mit Expreßzug in 1-1/4 Stunde erreicht. Die einzige Station ist Brügge, das mit seinen großen Kirchen einen imposanten Eindruck macht, das wir aber leider zu besuchen versäumten. Ostende loben ist überflüssig, es beschreiben ist schwer. Es vereinigt großartige Natur und menschliche Kunst in so hohem Grade, daß es unter allen Seebädern als Perle bezeichnet werden muß. Unter den Landbädern nimmt Baden-Baden einen ähnlichen Rang ein. Den Glanzpunkt des Badelebens bildet der Zeedyk, la Digue (der Damm oder Deich), geschmückt mit seiner langen Reihe der behaglichsten Villen und der herrlichsten Hotels, eins immer noch schöner als das andere. In der Mitte dieser Reihe liegt das mächtige Kurhaus, am Westende bildet den würdigen Abschluß das Palais des Königs, der einen Teil des Sommers hier verbringt. Der Strand, an dem alle diese Häuser liegen, wimmelt von Badekarren, die mit Pferden ins Meer gezogen werden. Wir nahmen sofort ein Bad und fanden uns schnell in die Sitte, mitten unter Damen zu baden. Die Eleganz der Toiletten beim Nachmittag- und Abendkonzert im Kursaal war auffallend, alle Damen mit Chic gekleidet, viele Schönheiten darunter. Nach dem Abendkonzert war Soirée dansante, der wir eine Weile zusahen, und Hazardspiel, an dem sich auch Damen beteiligten. Das Mindeste, was man setzen durfte, waren 2 Franks. In die eigentlichen Spielsäle a la Monaco gelangten wir natürlich nicht. Als wir um 10 Uhr aus all diesem Gewirr hinaustraten, empfanden wir die Großartigkeit des Meeres wieder doppelt. Dumpf brausend wälzten sich die schwarzen Wogen an den Strand, hell leuchteten die breiten, weißen Kämme. Wir gingen stracks nach dem Bahnhof, fuhren nach Gent und schliefen an Bord, da es kühl geworden war, die ganze Nacht durch.-


So lange wie wir diesmal in einem Hafen blieben, hat es noch nie gedauert; es kommt von der Kirmes, die in großartiger Weise tagelang gefeiert wird. Während dieser Zeit zu arbeiten, dazu ist kein Arbeiter für vieles Geld zu bewegen. Alt und jung, arm und reich beteiligt sich an diesem Volksfest. Auf den öffentlichen Plätzen finden Konzerte statt, abends Illumination und zweimal von 10 an bis in den Morgen hinein bal populaire; an 4 Tagen Pferderennen!--Gestern, Sonntag, fing die Geschichte an. Wir sahen nur einiges, aber dieses Wenige genügte, uns zu zeigen, daß das ganze Volk sich beteiligt. Wir fuhren gleich nach Tisch per Droschke nach dem weit außerhalb der Stadt gelegenen Rennplatz (Plaine St. Denis), wohin mit uns zahllose Fußgänger und viele Wagen strömten. In Staubwolken gehüllt trat nach Beendigung der Rennen die 1.000köpfige Menge den Rückweg an. Wir nahmen wieder Droschke, in der Nähe der Stadt begegneten uns viele Wagen, die sich an der Seite des Weges aufstellten, um das Schauspiel der vorüberziehenden Menge und der unzähligen Wagen, worunter viele elegante Equipagen, zu genießen. Wir fuhren durch den hübschen, noch etwas jungen Stadtpark und kehrten durstig im Gambrinus ein. Von dort bahnten wir uns durch die die Straßen erfüllende Menschenmenge langsam unsern Weg nach dem Kornmarkt, dem Mittelpunkt der Stadt. Auf den Plätzen, die wir passierten, hatten sich die größten Ansammlungen von Menschen gebildet, die der Musik lauschten. Der Kornmarkt war mit Tischen und Bänken, an denen trinkende Menschen saßen, so bedeckt, daß eben nur eine Gasse für Pferdebahn und andere Wagen blieb. Wir waren froh, als wir zum Abend wieder zu Hause d.h. an Bord waren und ordentlich ausschlafen konnten.

Die Geschichte mit dem schon erwähnten Trimmer hatte folgende Fortsetzung. Der Kapitän hatte ihm gesagt, er werde ihn in Gent ärztlich untersuchen lassen und ihn, falls er als gesund befunden würde, bei Gericht anzeigen, was ihm jedenfalls Gefängnisstrafe eintragen würde. Als wir gleich am ersten Tage zum Arzt gehen wollten, kam die Meldung, daß der Trimmer vom Schiff verschwunden sei. Er war vor Angst entflohen, obgleich er keinen Heller Geld hatte und weder vlämisch noch französisch, eigentlich auch kaum deutsch konnte. In den nächsten Tagen sah man ihn bei den großen Holzhaufen in der Nähe des Schiffes herumstreichen, sich immer in angemessener Entfernung haltend. Endlich berichtete der Koch, er habe jämmerlich geweint, wolle gerne tüchtig arbeiten, auch den Kapitän um Verzeihung bitten, wenn ihn dieser nur wieder an Bord nehmen wollte. Es war ihm nicht geglückt, irgend eine Stellung zu finden, auch nicht als Meierist, was er von Hause aus ist, und er hatte 3 Tage und Nächte gehungert und kein Obdach gehabt. Ich redete dem Kapitän zu, ihn wieder an Bord zu nehmen, da sonst sicher ein Verbrecher aus ihm würde. Als er dann erschien, nahm ihn der Kapitän nach längeren Verhandlungen wieder auf, sagte ihm, daß sein fälliger Lohn (25 Mark) an seine Kameraden, die für ihn gearbeitet, verteilt würde und daß er bis Flensburg für die Kost arbeiten könne, ohne Lohn zu erhalten. Falls er sich nicht gut führe, werde der Kapitän ihn in Flensburg noch vor Gericht stellen. Er versprach natürlich unter Thränen alles, gab zu, ein großer Esel gewesen zu sein und wurde, nachdem er auch die Maschinisten um Verzeihung gebeten hatte, wieder aufgenommen. Wie sehr ihn seine Kameraden gehänselt und ausgelacht haben mögen, sahen wir nicht, da wir das Schiff gleich darauf verließen.

Seit ich an Bord bin, haben wir noch keinen Tropfen Regen erhalten. Das Wetter ist fortgesetzt warm und schön, sodaß man lieber die Seefahrt fortsetzte, als in der heißen und staubigen Stadt sich aufzuhalten. Leider giebt es gar keine Biergärten, dafür ist entweder kein Platz oder die Leute haben keinen Sinn dafür.

Die Pferdebahnwagen haben hier, was ich noch nirgends gesehen, 2 verschiedene Klassen, von denen die I. 15, die II. 10 Centimes kostet, und zwar für jede beliebige Entfernung. Die Stadt wimmelt von Sozialdemokraten. Von den Stadtverordneten sind 14 Sozialisten, 12 Klerikale, 9 Liberale. Die Straßennamen sind vlämisch und französisch angeschlagen, wie überhaupt beide Sprachen fast auf allen öffentlichen Inschriften, Verordnungen, Anpreisungen u.s.w. auftreten. Fast jedermann versteht beide Sprachen. Deutsche giebt es nur wenig hier.

Montag Vormittag besichtigten wir die Abtei St. Bavo, von der nur die Ruinen übrig sind. Man sieht noch das Refektorium der Mönche, einen Teil eines Kreuzganges, viele Gräber und überall, im Garten verstreut, die zerschlagenen Säulen und Standbilder, die im Laufe der Jahrhunderte und besonders in der Revolutionszeit zerstört wurden. Nachher folgten wir einer Einladung des Maklers Herrn Z. zu einigen Flaschen Champagner in seinem Hause. Er hatte mit Kapitän Brink gewettet, die „Mira“ sei schon früher in Gent gewesen, und da sich nachher herausstellte, daß das nicht der Fall war, so war er der verlierende Teil.

Da auf Montag Abend die Hauptfestlichkeiten der Kirmes fielen, so arbeiteten die Leute nur bis Mittag am Schiff. Nach dem Abendbrot pilgerten wir, Kapitän Brink und ich, nach dem Kasinogarten, der vom Lichte von Tausenden bunter Lämpchen strahlte und in dem Tausende von Leuten der Kapelle lauschten. Zum Schluß wurde die Nationalhymne gespielt. Ich fragte unsern Aachener Freund, Herrn Z., nach dem Text; er wußte nichts davon. Seine Gattin, eine geborene Genterin, kannte ebenfalls kein Wort davon! Wir waren natürlich starr ob dieser Unwissenheit.

Es war nur das bessere Publikum anwesend, denn der Eintritt kostete für die, welche nicht der Kasinogesellschaft angehören, 3 Francs. Das war zwar viel Geld, aber sowohl die Illumination als auch das herrliche, wohl 3/4 Stunde dauernde Feuerwerk um 10 Uhr waren es wert. Um 11 Uhr begann der Tanz sowohl im Saal als im Garten, der bis tief in den Morgendauerte.

Von hier begaben wir uns, wieder mit der Familie Z. und einem jungen Leipziger, der im Geschäft als Volontär arbeitete, nach der Place d'Armes, dem Hauptanziehungspunkte des Abends, wo prächtige Illumination und Tanz, aber die verschiedensten Volksklassen umfassend, stattfand. Es war ein gewaltiges Gedränge und Gewoge auf dem mit Linden bepflanzten Platze; rings umher waren Eßwaren zum Verkauf ausgestellt, deren die Leute im Laufe der Nacht wohl bedurften, und vor und in Restaurants und Cafés ringsum saß man beim Bier oder anderen Getränken. Es wurde immer nur auf beschränkten Stellen des großen Platzes getanzt, da die promenierende Menschenmenge den größeren Teil einnahm. Ab und zu zogen Scharen von 10, 20 oder 30 Männern und Frauen vorbei und sangen Lieder, einige Male hörte ich die Marseillaise. Solchen Scharen begegneten wir auch, als wir gegen 2 Uhr uns fortbegaben nach dem Kornmarkt, um von da die Pferdebahn zu benutzen, die zur Kirmeszeit die Nächte durchfährt. Aber die Leute waren und blieben alle friedlich; wenn auch eine Anzahl bedenklich taumelten, so kam es doch nirgends zu unangenehmen Auftritten oder gar Schlägereien. Einzelne kleine Kinder sah man mit den Eltern noch um 2 Uhr nach Hause streben. Als wir gingen, war alles im besten Gange, und von einer Abnahme der Menschenmenge war nichts zu verspüren.

Infolge dieser Hauptnacht der Kirmes wurde am Dienstag kein Schlag gethan, und unsere Ladung blieb unangerührt im Schiff.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco