Abschnitt 1

Neun mal 24 Stunden auf der Eisenbahn


Frühling kam und mit ihm erwachte meine Wanderlust. Nach Westen! Nach dem sonnigen Californien, von da weiter nach den Hawai-Inseln und durch das Südsee-Paradies nach Sidney und Melbourne, von da nach Ceylon und Vorderindien, und durchs Rote- und Mittelmeer nach Italien und Deutschland; mit einem Wort: eine Reise um die Erde zu machen, hatte ich mir den Winter hindurch als Ziel vorgesetzt. Mit dieser Absicht fuhr ich vom Mississippi nach Westen; verschiedene Gründe ließen mich meinen Entschluß ändern, von denen ich hier nur einen erwähnen will: die Beschränktheit der Zeit; Ende September 1883 mußte ich mich zum Militärdienste stellen.


Donnerstag, 26. April 1883, früh 6 Uhr fuhr ich von Fort Madison ab, und Sonnabend, 5. Mai, früh 9 Uhr kam ich in San Francisco an, nach 9 Tagen und 9 Nächten ununterbrochener Fahrt. Schnellzüge fahren diese Strecke fast in der halben Zeit; der Zug, mit dem ich fuhr, war ein Emigranten- (d.h. Bummel-) Zug, aber dafür auch um 1/3 billiger; ich gab ungefähr 250 Mark für das Billet. Wer etwas mehr von der Landschaft sehen will, thut wohl, den Emigrantenzug zu wählen, trotz mancher Unbequemlichkeiten, die er mit sich bringt. Nach 15stündiger Fahrt durch die hügeligen, angebauten Staaten Iowa und Missouri kam ich in Atchison an, einer größeren Stadt, dem Anfangspunkte der „Atchison-Topeka-Santa Fe-Eisenbahn“, mit welcher ich die nächsten Tage zu fahren hatte; zuletzt gings eine Weile dicht am Missourifluß entlang, dessen Wasser schmutzig daher schleicht und den klaren Mississippi trübt. In Atchison war umzusteigen; nach kurzem Aufenthalt ging es weiter, mit einer Geschwindigkeit, die ich unserm Bummelzuge gar nicht zugetraut hätte.Ich ging durch die Wagen und fand die prachtvollste Einrichtung, wie auf Schnellzügen; doch da ich mit Emigrantenzügen noch nicht näher bekannt war, hoffte ich, im richtigen Zuge zu sein und machte es mir in einem Lehnstuhl des Gesellschaftswagens bequem. Schrecklich war jedoch mein Erwachen, als der Kondukteur mich belehrte, daß dies der Schnellzug sei und ich denselben schleunigst zu verlassen habe. Auf meine Entschuldigung erwiderte er streng: Does this look like an emigrant-train? I tell you, you are a dandy! (dandy = frecher Mensch). Auf der nächsten Station kam ich der Weisung nach und befand mich in tiefster Dunkelheit - es mochte Mitternacht sein - vor einem Holzschuppen, aus dem Licht herausschimmerte und den ich als Bahnhof erkannte. Ein junger Mann, welcher Stationsvorsteher, Telegraphist, Postbeamter, Hausknecht und Restaurateur zugleich war (ich merkte nichts von einer Restauration, auf vielen Stationen ist keine) und den ich um Nachtlager bat, wies freundlich aber schläfrig auf die Diele, während er sich auf eine Pritsche warf und alsbald einschlief. Mir blieb nichts übrig, als seinem Beispiel zu folgen, und, müde wie ich war, schlief ich, in meinen Ueberzieher gewickelt, ganz erträglich. Am andern Tage ziemlich früh kam ein Zug angeschlichen, der, wie mir mein Wirt sagte, nicht der meinige sei: der käme erst später. Ich ging aber doch heran, fragte und hatte grade noch Zeit einzusteigen, denn er war es! Nun ging es quer durch Kansas, einen der größten, aber auch langweiligsten Staaten. Alles Prairie mit Herden; ab und zu eine Holzstadt oder einzelne Farmen. Kein Baum, kein Strauch, wenig Wasser; nur als Weiden zu brauchen. Das „sonnige Kansas“ nennen sie es, und außer der Sonne, die manchmal arg brennt, ist hier nichts zu haben.

Sonntag hatten wir diesen elenden Staat, in dem ich die tötlichste Langeweile ausgestanden, glücklich hinter uns, und fanden uns am Morgen in Trinidad, einem halb spanisch-, halb anglo-amerikanischen Orte Süd-Colorados, am Fuße der Rocky Mountains herrlich gelegen, die hier bis 4000 m aufsteigen. Ich dachte an meine Schiffsbekanntschaft, Herrn Uhlfelder, der hier wohnt, hatte aber keine Zeit ihn aufzusuchen.

Nicht eben erfreulich berührte mich ein Anschlag im Bahnhof folgenden Inhalts: „Gestern sind die Schienen bei Trinidad aufgerissen, sodaß der Zug entgleiste. 2000 Mark Belohnung für Nachweisung der Thäter.“ – Es konnten sowohl Indianer als auch Weiße gewesen sein; letztere, meist verzweifelte Burschen, die sich vor dem Arm der Gerechtigkeit aus den Oststaaten oder aus Europa nach dem einsamen Westen gerettet haben, gelten für raffinierter. Sie überfallen Züge, ermorden die Reisenden und nehmen alles Wertvolle mit; dann verschwinden sie in den Bergen. Der schnell reparierten Bahn vertrauten wir unsere Sicherheit an. Öde und rauh ist das Gebirge, das wir nun hinaufklommen; nur Cedern und Nadelholz, Geröll und Fels. Als wir gerade aus einem langen Tunnel wieder ins Freie kamen, sahen wir seitwärts in der Ferne die in Schnee getauchten Spitzen der Felsengebirge hell glänzen in der Morgensonne. Bei Raton, etwa 7000' hoch, wurde Station gemacht; in Blechkannen brachten Mädchen und Knaben Kaffee in die Wagen, der auch nicht mehr kostete als bei Felsche in Leipzig, wenn er auch nicht so gut war. Daß es an „Lagerbier“ auch hier nicht fehlte, brauche ich nicht zu sagen.

Wir haben die Grenze von Neu-Mexico überschritten und befinden uns im Lande der Azteken. Ein wunderbarer Gegensatz zu dem anglo-kelto-germanischen Nordamerika; Gegensatz in Landschaft und Architektur, in Sprache und Volk und Klima. Es geht auf der Hochebene hin; Steppen mit scharf-geschnittenen, blauen Bergen umkränzt, die Gipfel mit Schnee bedeckt; Cacteen von Manneshöhe bis zu 40' und 50' wachsen auf der unfruchtbaren Ebene. Ab und zu ein paar Prairiehunde, nach denen sich Revolver und Flinten von allen Fenstern des Wagens richten - ich sehe jetzt erst, daß ich der einzige Waffenlose bin. Es ist angenehm warm, aber erträglich, obgleich wir viel südlicher als Neapel sind; das bewirkt die Höhe von 5-6.000'. Die ersten beiden Tage strengte das Fahren an; jetzt, am 4. oder 5., bin ich es gewohnt. Die Gesellschaft besteht aus Deutschen, Anglo-Amerikanern, Polen und einem Italiener; es ist ähnlich wie auf dem Schiff, die Gesellschaft bleibt dieselbe, da fast alle nach Californien wollen, und man wird bekannt. Da ist ein armer Tischler aus Bielefeld, der es mit 10 Mark Wochenlohn nicht länger aushält; er will sein Glück in Californien suchen, und wenn er es gefunden, seine Familie aus Deutschland nachkommen lassen; ferner ein junger beklemmerter Restaurateur aus Breslau mit seiner Frau, der weniger aus Not als aus Uebermut erst nach St. Louis gereist ist, dort viel Geld durchgebracht hat, auf die Jagd gegangen und dergleichen Sport getrieben, und nun in S. José nicht weit von San Francisco eine großartige Geflügelzucht anlegen will, die in kurzer Zeit sehr viel einbringen wird. Dann ein Italiener aus Lucca (die meisten Italiener in Nord-Amerika antworten, wenn sie nach ihrer Heimat gefragt werden: Lucca), der sich nur durch meine Vermittlung verständigen kann und froh ist, daß ich ein bischen italienisch mit ihm radebreche. Er hat in den Kohlebergwerken Pennsylvaniens gearbeitet, was ihm begreiflicherweise nicht behagte. Nun will er Cafetiere in San Francisco werden, wo ca. 6.000 Italiener wohnen. Ich lehrte ihn etwas Englisch, von dem er bisher nur einige Zahlen und die Münzennamen kannte, wofür er nur bereitwilligst seinen glücklicherweise noch ziemlich neuen Kamm lieh, da mir der meinige abhanden gekommen war. Dann ein paar echte Yankees aus dem Neu-England-Staate Maine, die uns in Deming verließen, um in die Silberbergwerke Neu-Mexicos zu gehen, mit dem frohen Gefühl, nach einer 14tägigen Eisenbahnfahrt immer noch in ihrem Vaterlande zu sein, ein Gefühl, wie es außerdem wohl nur noch dem Chinesen und Russen möglich ist. Auf besonders dazu eingerichteten Herden können die Familien sich Kaffee, Eier und dergl. kochen. Nachts werden die Bänke durch eine einfache Vorrichtung in Lagerstätten (Betten kann man nicht sagen) verwandelt. Ich lege den Kopf auf einen Sack, decke mich mit dem Ueberzieher zu und schlafe Seite an Seite mit meinem Tischler, während der Zug weiterrollt. Das Trinkwasser wird zweimal gewechselt täglich; daß alle sonstigen Bequemlichkeiten auf dem Zuge sind, brauche ich kaum zu erwähnen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco