Abschnitt 1

Der Philosoph von Gravenstein


Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder.


Leonore im Tasso, I, 1.

Ich kenne ein Herzogsschloß, das liegt gar einsam und abseits von den breit getretenen Touristenpfaden. Hohe Buchen umrauschen es, und in einem klaren See spiegeln sich seine weißen Mauern. Schilf flüstert am Ufer, und glänzende Schwäne ziehen lautlos ihre stolzen Kreise.

Gegenüber, auf der anderen Seite des Sees, ziehen sich in einem Halbkreise die freundlichen Häuser eines Fleckens, der denselben Namen trägt wie das Schloß: Gravenstein, dänisch Graasteen. Wir befinden uns nämlich an der Grenzscheide zweier Sprachgebiete,

„- wo der dänische Pflüger den Deutschen,
Dieser den Dänen versteht -“

wie Johann Heinrich Voß in seiner dem Grafen Stolberg gewidmeten Vorrede zur Iliasübersetzung sagt. Die Ueberschriften über den Läden des Ortes lauten denn auch teils dänisch, teils deutsch, und man findet „bogbinder“, „ikraedder“ (Schneider), „Kobbersmed“ (Kupferschmied) u.a.

Vom Flecken aus gewährt das Schloß in seiner Waldumrahmung, besonders wenn heller Sonnenschein darauf liegt oder wenn der Vollmond es in magische Dämmerung taucht, einen überraschend malerischen Anblick, obgleich die Bauart höchst einfach ist. Ein Mittelbau mit Glockenturm und zwei gewaltige Seitenflügel, in deren einem eine nach dem Muster der Antwerpener Jesuitenkirche gebaute Kapelle sich befindet, deuten in ihrer architektonischen Nüchternheit und Kahlheit auf das erste Viertel des 18. Jahrhunderts als Entstehungszeit.

Der Schloßpark zeichnet sich durch prächtige alte Buchen aus und birgt wunderhübsche lauschige Plätzchen und schattige Gänge, auf denen hie und da Gras wächst, so daß man manchmal nicht weiß, ob man in einem Park oder einem Walde wandelt. Allmählich geht ersterer ganz in freien Wald und Feld über, und wenn man hinausgeht auf jene sanft ansteigende Wiese, so kommt man unmerklich auf einen Hügel, auf dessen Kuppe ein von einzelnen hohen Bäumen geschützter Pavillon zur Rast und zur Umschau einladet. Herzogshügel heißt er offiziell, aber jedermann nennt ihn Herzenshügel. Ein Bild des Friedens entrollt sich zu Füßen des Beschauers. Der Park, der Wald, der See mit dem Schloß links, dem Flecken rechts, und dahinter wieder Wald und Wasser und abermals Wasser! Das ist die Flensburger Föhrde (dänisch Fjord), ein etwa 30 km langer und durchschnittlich 4 km breiter Meerbusen, der von Ost nach West tief einschneidet in die Provinz Schleswig-Holstein und an deren Südwestwinkel die freundliche Seestadt Flensburg sich hufeisenförmig auf Hügeln und im Thale erhebt. Einer der vielen Vergnügungsdampfer, die die Föhrde namentlich im Sommer beleben, würde uns in anderthalb Stunden in höchst anmutiger Fahrt an manchem lieblichen Badeort und manchem idyllischen Fischerdorf vorbei nach Flensburg führen. Allein wir ziehen es vor, in Gravenstein zu bleiben und noch mehr von seinen Reizen zu genießen, sowie von dem Manne uns berichten zu lassen, der durch seinen langen Aufenthalt der landschaftlich ausgezeichneten Stätte auch geschichtliche Weihe verliehen hat.

In alten Zeiten soll hier, mitten in Wald und Wasser, ein Seeräubernest bestanden haben, nach dessen endlicher Eroberung eine Burg auf den Trümmern erstand (auf dem „Grauen Steine“). Nach mancherlei Schicksalen ging dieselbe auf die Schleswig-Holsteinische Seitenlinie der Augustenburger über, deren Gründer Ernst Günther hieß (1609-1689).

Nachdem vier Generationen ins Grab gestiegen waren, wurde am 28. September 1765 Friedrich Christian (der Jüngere) geboren, als Sohn Friedrich Christians (des Aelteren) und der Charlotte Amalie Wilhelmine, einer geborenen Herzogin von Schleswig-Holstein-Plön. In seinem fünften Lebensjahre verlor der Prinz seine Mutter. Die Erziehung leiteten der Hofprediger Jessen, ein Mann von umfassender Bildung und humaner Anschauung, und Legationsrat Schiffmann. Früh wurde der Sinn des Knaben auf Schönes, Hohes, Ideales hingelenkt. Als er 13 Jahre alt war, dachte man schon daran, ihm eine Braut zu suchen. Die Wahl fiel aus politischen Gründen auf Luise Auguste, Tochter Christians VII. von Dänemark, die damals sieben Jahre zählte. Man wollte dadurch Verwickelungen vorbeugen, die bei einem etwaigen Aussterben des dänischen Mannesstamms leicht eintreten konnten, und Staatsmänner wie Bernstorff und der ältere Schimmelmann beförderten die Verbindung, von der die Beteiligten vorerst nichts wußten. Die Möglichkeit, an welche jene dachten, trat jedoch nicht ein.-

Das Hauptinteresse des Prinzen, der abwechselnd auf Gravenstein und Augustenburg in ländlicher Stille und anmutiger Natur lebte, ging auf die Wissenschaften. Alle Gymnasialfächer betrieb er eifrigst, und mit vorzüglicher Vorbildung konnte er 1783, erst 18 Jahre alt, die Universität Leipzig beziehen. Mit ihm ging sein Lehrer Schiffmann und seine beiden jüngeren Brüder. Damals herrschte in Leipzig wie fast überall noch die Leibniz-Wolf'sche Philosophie, von Professor Ernst Platner in anregender, gefälliger Darstellung vorgetragen. Dieser zog denn auch unseren Friedrich in erster Linie an; dazu trat noch der Pädagoge Weisse, dem er seine späteren Neigungen für das Erziehungswesen verdankt. Aber auch Naturwissenschaften, Jurisprudenz und Staatswissenschaften wurden in den Kreis seiner Studien gezogen.

Nach anderthalbjährigem Aufenthalte in Leipzig, der nur durch kurze Besuche an den Höfen zu Dresden und Berlin unterbrochen wurde, kehrte der Prinz im Herbst 1784 nach seinem Schloß am Meer zurück und setzte den Winter durch seine Beschäftigung mit den Wissenschaften fort. Im nächsten Jahre reiste er nach der dänischen Hauptstadt, um die Braut, die noch immer nichts von der beabsichtigten Verbindung wußte, kennen zu lernen und ihr Herz zu gewinnen zu suchen. Freilich gingen die Anschauungen des hochgebildeten, trotz seiner Jugend schon ziemlich gereisten und welterfahrenen Mannes und die Neigungen des lebenslustigen, heiteren, schönen Mädchens bedeutend auseinander. Dem fortgesetzten Einflusse des geistig überlegenen Mannes, zu dem sie anfangs mehr wie zu einem Lehrer mit Scheu emporblickte, gelang es, ihr seinen Gesichtskreis zu erschließen, sie für seine Ideen zu bilden. Und als sie ein Jahr später (im Wonnemonat 1786) ihm die Hand zum Bundereichte, da gab sie ihm auch ihr Herz mit.

Das neuvermählte Paar schlug seinen Wohnsitz in Kopenhagen auf, wo dem jugendlichen Prinzen ein Ministerposten sowie Sitz und Stimme im Staatsrate übertragen wurde. Als 1790 eine Kommission berufen wurde, um das höhere Schul- und Universitätswesen umzugestalten, erhielt er den Vorsitz in derselben; er widmete sich nicht nur mit Eifer und Pflichttreue, sondern auch mit einer bei Fürsten seltenen Sachkennntnis der wichtigen Sache. Die berühmtesten Gelehrten Dänemarks lernte er bei dieser Gelegenheit kennen. Er bildete selbst den Mittelpunkt der wissenschaftlichen und geistigen Bestrebungen des Ländchens. Seine Ansichten über die Schulreform legte er in einem Aufsatz nieder, der in der dänischen Minerva von 1795 veröffentlicht wurde, der mir aber leider nicht zugänglich geworden ist. Nach Einführung des Lehrplans an einer Kopenhagener Schule wohnte Friedrich Christian den Lehrstunden häufig bei. Als im Jahre 1805 eine vollständige Regierungs-Abteilung für das höhere Schulwesen eingerichtet wurde, trat er an die Spitze derselben und blieb, wie auch bisher, Unterrichtsminister, obwohl er diesen Titel nicht führte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco