Abschnitt 3

Das Goetheviertel in Frankfurt


Noch lieber als der Knabe zum Rektor Albrecht, ging der Jüngling später in das Haus auf dem Kornmarkte Nr. 15. Hier wohnte Elisabeth Schönemann, die Tochter eines reichen, 1763 verstorbenen Bankiers mit ihrer Mutter zusammen,- Goethes Braut, dasjenige Mädchen, welches er nach seinem eigenen Geständnis Eckermann gegenüber am innigsten geliebt hat. Die erste Bekanntschaft erfolgte auf folgende Weise: [17]


„- es ersuchte mich ein Freund eines Abends, mit ihm ein kleines Konzert zu besuchen, welches in einem angesehenen reformierten [18] Handelshause gegeben wurde. Es war schon spät, doch weil ich alles aus dem Stegreife liebte, folgte ich ihm, wie gewöhnlich anständig angezogen. Wir traten in ein Zimmer gleicher Erde, in das eigentliche, geräumige Wohnzimmer. Die Gesellschaft war zahlreich; ein Flügel stand in der Mitte, an dem sich sogleich die einzige Tochter des Hauses niedersetzte und mit bedeutender Fertigkeit und Anmut spielte. Ich stand am unteren Ende des Flügels, um ihre Gestalt und Wesen nahe genug bemerken zu können; sie hatte etwas Kindartiges in ihrem Betragen; die Bewegungen, wozu das Spiel sie nötigte, waren ungezwungen und leicht.

Nach geendigter Sonate trat sie ans Ende des Pianos mir gegenüber; wir begrüßten uns ohne weitere Rede, denn ein Quartett war schon angegangen. Am Schlusse trat ich etwas näher und sagte einiges Verbindliche, wie sehr es mich freue, daß die erste Bekanntschaft mich auch zugleich mit ihrem Talent bekannt gemacht habe.- Ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft von der sanftesten Art zu empfinden glaubte. - Ich verfehlte nicht, nach schicklichen Pausen meinen Besuch zu wiederholen. -

(17. Buch.) -Ein wechselseitiges Bedürfnis, eine Gewohnheit, sich zu sehen, trat nun ein; wie hätt' ich aber manchen Tag, manchen Abend bis in die Nacht hinein entbehren müssen, wenn ich mich nicht hätte entschließen können, sie in ihren Zirkeln zu sehen! -“

Wie das Verhältnis endigte, ist bekannt; die Verlobung wurde auf Betreiben der Verwandten der Braut gelöst, die den jungen Goethe für keine sichere Partie hielten. Lili heiratete später Herrn v. Dürkheim, einen Bankier, der es bis zum badischen Finanzminister brachte. Ihr Sohn, ein Offizier, besuchte nach der Schlacht bei Jena den Minister Goethe in Weimar.

Das eigentliche Goetheviertel hätten wir somit durchschritten und das Wesentliche gesehen. Machen wir jedoch noch einen Abstecher in den Nordosten der Stadt, wohin auch ein Abglanz des Goetheschen Ruhmes gefallen ist.

In der Friedberger Gasse, wo jetzt das Hotel Drexel steht, wohnte Goethes Großvater mütterlicherseits, Textor, der hochansehnliche Schultheiß oder Bürgermeister von Frankfurt. Dort lebte der Alte, ganz der Pflege und Wartung seiner Blumen hingegeben. „Die vielfachen Bemühungen“, erzählt der Enkel von ihm, „welche nötig sind, um einen schönen Nelkenflor zu erhalten und zu vermehren, ließ er sich niemals verdrießen. Er selbst band sorgfältig die Zweige der Pfirsichbäume fächerartig an die Spaliere, um einen reichlichen und bequemen Wachstum der Früchte zu befördern. Das Sortieren der Zwiebeln von Tulpen, Hyazinthen und verwandten Gewächsen, sowie die Sorge für Aufbewahrung derselben überließ er niemandem; und noch erinnere ich mich gern, wie emsig er sich mit dem Okulieren der verschiedenen Rosenarten beschäftigte. Dabei zog er, um sich vor den Dornen zu schützen, jene altertümlichen, ledernen Handschuhe an, die ihm beim Pfeifergerichte jährlich in Triplo überreicht wurden, woran es ihm deshalb niemals mangelte. So trug er auch immer einen talarähnlichen Schlafrock und auf dem Haupte eine faltige, schwarze Sammetmütze, sodaß er eine mittlere Person zwischen Alcinous und Laertes hätte vorstellen können.

Alles, was ihn umgab, war altertümlich. In seiner getäfelten Stube habe ich niemals irgend eine Neuerung wahrgenommen. Ueberhaupt erinnere ich mich keines Zustandes, der so wie dieser das Gefühl eines unverbrüchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben hätte.

Was jedoch die Ehrfurcht, die wir für diesen würdigen Greis empfanden, bis zum höchsten steigerte, war die Ueberzeugung, daß derselbe die Gabe der Weissagung besitze, besonders in Dingen, die ihn selbst und sein Schicksal betrafen. - Aber auf keines seiner Kinder und Enkel hat sich eine solche Gabe fortgeerbt; vielmehr waren sie meistenteils rüstige Personen, lebensfroh, aufs Wirkliche gestellt“.

Die Friedbergergasse stößt auf den ehemaligen Peterskirchhof, den man in eine Art Park umgewandelt hat. Nur einige hervorragende Grabsteine hat man stehen lassen: Das eines Prinzen von Hessen-Philippsthal, des Bankiers Bethmann, dessen Haus den größten Kunstschatz Frankfurts birgt: die Danneckersche Ariadne auf dem Panther, und das der Eltern Goethes.

In einer Ecke, in der Nähe der unscheinbaren, demnächst umzuhauenden Peterskirche ruhen sie; über ihnen rauschen die Linden, pfeifen die Amseln, und segnend blickt auf sie hernieder der in der Mitte des Friedhofes sich riesengroß ausrichtende Christus am Kreuze.

Draußen auf der ehemaligen Bornheimerheide, wo beim achtundvierziger Volksaufstande die Abgeordneten beim Paulsparlament Fürst Lichnowski und Auerswald ihren Tod fanden, lagen zu Goethes Jugendzeit nur vereinzelte Gärten, darunter der seines Großvaters, des oben schon erwähnten Schneiders und Gastwirtes Friedrich Goethe. Nur wenige von den Passanten der stillen Gaußstraße mögen ahnen, was die Buchstaben F.G. bedeuten, die neben der Jahreszahl 1725 auf dem steinernen Thorbogen des Gartens Nr. 20 eingegraben sind. Von hier sah oder hörte Rat Goethe die Schlacht bei Bergen (1759) an, die von den Franzosen gewonnen wurde, und deren Ausgang im Goetheschen Hause so ergötzliche, halb komische, halb gefährliche Szenen mit dem Königsleutnant hervorrief.

Wir sind mit unserer Wanderung durch das Frankfurt des jungen Goethe fertig. Mit doppeltem Interesse lesen wir nun Goethes Selbstbiographie, wenn wir die Stätten gesehen haben, an denen sich das Erzählte großenteils abspielt Auch vieles in seinen Jugendwerken gewinnt an Lebendigkeit, wenn wir die Werkstatt kennen, in der sie entstanden sind; denn auf niemanden mehr, als auf Goethe selbst finden seine Worte Anwendung:

„Wer den Dichter will verstehn,
Muß in Dichters Lande gehn!“




[17] Dichtung und Wahrheit, Buch 16.
[18] Das Haus liegt neben der deutschreformierten Kirche und ist nach heutigen Begriffen bescheiden zu nennen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco