Bordesholm

Zwischen Hamburg und Kiel, etwa 20 Kilometer von letzterer Stadt, liegt das Kirchdorf Bordesholm, ein gar liebliches Idyll. Von der Bahn ist nichts davon zu sehen; ein halbstündiger Spaziergang führt uns hin. Der glänzende Spiegel eines waldumkränzten Sees taucht auf vor unserem Blick; auf der Nordseite desselben ziehen sich schmucke Häuser herum, auf dem höchsten Punkte der hügeligen Gegend erhebt sich die Kirche. Gärten treten an den See heran, in den einige Badezellen hineingebaut sind. Eigenartige Gebäude neben Bauernhäusern stehen zu beiden Seiten der Dorfstraße, die einen recht behaglichen, wohlhabenden Eindruck macht. In der That wohnen hier Beamte, die man in einem Orte von 500 Einwohnern nicht sucht; Bordesholm ist Sitz eines Landratsamtes, einer Oberförsterei, eines Amtsgerichts; auch eine Gräfin Reventlow aus dem altberühmten schleswig-holsteinischen Geschlechte lebt hier.

Das, was uns eigentlich hergeführt hat - die Klosterkirche - haben wir unter Führung des freundlichen Lehrers und Organisten bald erreicht. Unterwegs auf einem freien Platze zieht eine Linde unsere Aufmerksamkeit auf sich, von einer Größe und einer Regelmäßigkeit, wie sie selten zum zweiten Mal in Deutschland zu finden sein dürfte. Die Aeste sind mit eisernen Stäben und Ketten verbunden, da sie sonst die ungeheuere Last nicht zu tragen vermöchten, sondern zusammenbrechen würden. Das Alter des Riesenbaumes schätzt man auf 800 Jahre. Ab und zu findet wohl eine Festlichkeit der Kieler Studenten unter seinem schattigen Dache statt; allein die ganze Studentenschaft würde doch nicht hinreichen, den Platz unter demselben auszufüllen. An dem Stamme ist eine Tafel mit folgender Inschrift angebracht, die von Professor Jansen in Kiel herrührt:


„Manches sah dein gewaltiger Dom, hochrauschende Linde,

Freude hast du und Leid manches Geschlechtes getheilt.

Größeres schautest du nie als der Holsten Erhebung, als Deutschlands

Wiedergeburt zum Reich. Künde den Enkeln das Wort!“

März 24. 1873.

Wenige Schritte davon ragt die altehrwürdige Klosterkirche der Augustiner empor. Außen ist es der alte Bau aus dem Mittelalter, epheuumrankt, mit hohen, gothischen Fenstern; ein Backsteinbau, wie hier im Norden üblich. Statt eines Turmes überragt nur ein Dachreiter das Gebäude.

Ursprünglich war das Augustinerkloster zu Neumünster - Niegenmünster, wie eine lateinische Inschrift besagt - gegründet. Allein dort an der Heerstraße, die den jütischen Norden mit Hamburg und Lübeck verbindet, den Angriffen wandernder Heere ausgesetzt, ward es um 1300 in die abgelegene Stille einer Insel im See verlegt, worauf heute noch der Name hindeutet. Denn Bordesholm lag früher im See und wurde allmählich durch starke Dämme auf drei Seiten trocken gelegt. Mit dem Kloster, das übrigens die mönchischen Regeln nicht so genau gehandhabt hat, sondern vorzugsweise Adligen als behaglicher Ruheplatz diente, war eine Gelehrtenschule verbunden. In den Stürmen des 30jährigen Krieges löste sie sich auf und erstand später wieder als Universität in Kiel; wenigstens wurden die Einkünfte des Gymnasiums zur Gründung derselben verwandt. Als daher der Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen in den 80er Jahren zu einer Feierlichkeit der schleswig-holsteinischen „Alma mater“ reiste, hielt er zuvor in Bordesholm an und nahm auf dem Bahnhof (ohne den Ort selbst zu berühren) eine jene alte Verbindung berührende Ansprache entgegen.

Wir treten in das Innere des Gotteshauses, das, 1861 wieder hergestellt, einen höchst erfreulichen Eindruck macht. Die Schnitzereien der Stühle und der Kanzel sind freilich nur teilweise alt und die gute Orgel trägt keinerlei Schmuck; auch fehlt das Brüggemann'sche Altarbild, eine Holzschnitzerei ersten Ranges; es befindet sich jetzt im Dom zu Schleswig. Aber doch mancherlei bietet die Kirche oder vielmehr einige daranstoßende Kapellen; Gräber von Angehörigen des weitverzweigten Hauses Oldenburg, das seinen Ursprung von Wittekind herleitet und das auch die jetzige Kaiserin, die Augustenburgerin, zu den Seinen zählt.

Ein weißer Marmorsarkophag, den vier Löwen bewachen, birgt die Gebeine Karl Friedrichs, Herzogs von Schleswig-Holstein, des Stammvaters des russischen Kaiserhauses. Um diese Verwandtschaft darzulegen, bedarf es einer kurzen geschichtlichen Erörterung für diejenigen Leser, denen die schleswig-holsteinische Spezialgeschichte nicht geläufig ist.

Seit 1460 regierten in Schleswig-Holstein Könige von Dänemark (aus dem Hause Oldenburg), jedoch nicht in ihrer Eigenschaft als Könige, sondern von den Landständen freiwillig zu Herzögen erwählt. In der dritten Generation teilten zwei Brüder (Christian und Adolf) die Herrschaft in den Herzogtümern, von denen der erstere zugleich König und Herzog, der letztere nur Herzog war. Die herzogliche Linie führte den Namen 'gottorfische‘ nach dem Schlosse Gottorf bei Schleswig, der Residenz der Herzöge. Die beiden Urenkel Adolfs gründeten jeder ein besonderes Haus: Friedrich das ältere (russische), Christian August, Bischof von Lübeck, das jüngere. Friedrich folgte seinem Schwager Karl XII. von Schweden in den nordischen Krieg, fiel aber schon in der Schlacht bei Klissow (1702). Sein Sohn Karl Friedrich [9] heiratete Anna, die Tochter Peters des Großen von Rußland; ihr Sohn Karl Peter Ulrich wurde zum Großfürsten und dereinstigen Nachfolger der Kaiserin Elisabeth ernannt. 1762 bestieg er als Kaiser Peter III. den russischen Thron. Allein wenige Monate darauf wurde er infolge einer Verschwörung, an deren Spitze seine eigene Gemahlin Katharina stand, ermordet. Auch sein Sohn, der Kaiser Paul I., fiel durch Mörderhand (1801). Dessen Ururenkel ist der jetzige Kaiser Nikolaus II.

In einer andern Kapelle ruht in einem mächtigen, grauen Marmorsarkophage Georg Ludwig, der Stifter der großherzoglich-oldenburgischen Linie. Er ist ein Sohn jenes oben erwähnten Gründers der jüngeren gottorfischen Linie und der Stammvater der herzoglich, seit 1829 großherzoglich-oldenburgischen Linie. Ein Bruder Georg Ludwigs, Adolf Friedrich, wurde zum König von Schweden erwählt, seine Nachkommen saßen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem schwedischen Thron, Gustav VI. Adolf wurde 1809 entthront und später der französische General Bernadotte zum Könige gewählt. Außer diesen beiden wichtigsten Denkmälern erwähnen wir noch das des Königs Friedrich I. ([Symbol: gestorben] 1533) und seiner Gemahlin Anna. Die Messingsärge mit den lebensgroßen Figuren des Paares sollen ein Nürnberger Werk sein, vielleicht von Peter Bischer. Zu den Füßen der Dame schmiegt sich ein Hündchen. - Wer suchte wohl in diesem abgeschiedenen, weltfremden Dörfchen Holsteins den Ahnen des Herrschers des ungeheuren Zarenreiches! Schon diese eine Sehenswürdigkeit lohnte einen Besuch Bordesholms reichlich, und doch wird es, von weither wenigstens, so gut wie nicht aufgesucht, ja, ist den meisten nicht einmal dem Namen nach bekannt.

Treten wir aus der hohen, dämmrigen Halle ins Freie, so befinden wir uns gegenüber den eigentlichen Klostergebäuden, die jetzt als Wohnungen und Amtsstuben des Landrats und des Oberförsters dienen. Ueber der Thür befindet sich eine Inschrift folgenden Inhalts:

„In dem Augustiner Kloster zu Bordesholm unterzeichneten Herzog Friedrich I. und König Christian II. [10] 1523 den Bordesholmer Vergleich und in demselben Hause gab 29. Januar 1864 Feldmarschall Wrangel den Befehl zum Einmarsch in Schleswig.“

Steigen wir zum Schluß auf den kleinen Glockenturm, so übersehen wir noch einmal das liebliche Idyll, das zugleich so welthistorische Personen in sich gesehen hat und Zeuge so großer Ereignisse gewesen ist.

Ein reiches Mönchskloster des Mittelalters, die Grabstätte mächtiger Fürstengeschlechter, der erste Schritt zur Erlösung des meerumschlungenen Landes, die rauschende Linde, unter der in grauer Vorzeit Gericht gehalten wurde - alles das vereinigt das kleine Bordesholm in sich. Alles ist dahin, nur die Natur ist ihm geblieben, die es herrlich umgiebt, und die uns an den Ausspruch des Dichters gemahnt:

„States fall, arts fade, but Nature does not die.“




[9] geb. 1700, gest. 1739, begraben in Bordesholm.
10) König von Dänemark, Schwager Kaiser Karls V., Urheber des berüchtigten Stockholmer Blutbades.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco