Abschnitt 1

Auf Seeland


Zu König Gylfe in Schweden kam einst eine wandernde Sängerin, die ihn durch ihre Lieder entzückte. Der König - so meldet die Sage von der Entstehung der Insel Seeland - verlieh ihr zum Lohne für ihren Gesang so viel Land, als sie mit vier Ochsen auf einmal umpflügen könnte. Wie erschrak er aber, als die Fremde, die niemand anders war, als das Riesenweib Gefion, ein gewaltiges Stück Land aus dem Boden herauspflügte und es von ihren Ochsen ins Meer ziehen ließ, wo es als „Seeland“ stehen blieb. Die Pflugfurche bildete den jetzigen Oeresund, der Schweden von Seeland trennt, während an der Stelle, wo das Land weggepflügt war, ein großer See entstand: der jetzige Wener-See. Noch heutigen Tages lassen seine Uferlinien deutlich die Umrisse der seeländischen Küste erkennen.


Wer möglichst schnell einen großen Teil der Hauptschönheiten der Gefions-Insel kennen lernen will, besteigt einen der bequem eingerichteten Raddampfer, der in dreistündiger Fahrt von Kopenhagen gen Nord bis Helsingör und nach dem gegenüberliegenden schwedischen Helsingborg fährt. Er bleibt der seeländischen Küste immer so nahe, daß man sie deutlich und in aller Muße sehen kann, während die schwedische Küste rechts in blauer Ferne herüberschimmert.

Durch den belebten Hafen hindurch schäumte unser Dampfer „Gylfe“, vorbei an den Anlegeplätzen der Schiffe der verschiedenen Nationen. Rechts blieben der Kriegshafen, das Arsenal und die Werften liegen; an den Mauern der Festung „Tre kroner“ brachen sich die Wellen und spritzten weit hinauf. An der grünen Pracht der Langen Linie ging's hinaus in den breiten Sund, wo hie und da noch vereinzelte Schiffe, namentlich Segler, vor Anker lagen. Von der Stadt sahen wir bald nur noch die Kuppel der Marmorkirche und das große goldene Kreuz der Frauenkirche, das über dem Mastenwald des Hafens noch lange in der Morgensonne leuchtete.

An der seeländischen Küste drängt sich Landhaus an Landhaus, Villa an Villa, bis nach dem berühmten Badeort Klampenborg, dessen Häuser in dem Waldesgrün in langer Reihe sich hinziehen. Noch einladender fast ist das entferntere Skodsborg, welches jetzt mehr in Aufnahme kommt und den Vorteil hat, dem Treiben und Lärmen der Großstadt noch mehr entrückt zu sein. Ein Münchener, der mit uns fuhr, verglich die Ufer mit denen des Starnberger Sees; und in der That haben die waldbekränzten, villenbesetzten Gestade bei Leoni oder Tutzing Aehnlichkeit mit denen Seelands, nur daß hier der Hintergrund, das Hochgebirge, fehlt.

Die Reisegesellschaft bestand meist aus Deutschen, vor denen man in Dänemark ebenso wenig sicher ist, wie in der Schweiz vor Engländern. Hauptsächlich ist Norddeutschland bis Thüringen hinauf vertreten; von den Mundarten hört man am meisten die Berliner. Doch floh ich, wie gewöhnlich in der Fremde, die Landsleute, und suchte mich an Einheimische zu halten. Sie sind meist höflich und geben gern Auskunft, natürlich in deutscher Sprache, welche die einigermaßen Gebildeten verstehen und manchmal sogar fließend sprechen. Die Frauen freilich weniger als die Männer; sie neigen mehr zum Französischen, das vor dem Deutschen und Englischen in den höheren Mädchenschulen betrieben wird.

Eine Kopenhagenerin gesellte sich zu uns und erklärte uns, was wir wußten und nicht wußten. Wir passierten gerade die schwedische Insel Hven, die, kahl und nackt, mit wenigen Einwohnern, mitten im Sunde emporragt. Von unsrer Begleiterin erfuhren wir, daß da einst Tycho de Brahe ein schloßartiges Observatorium gehabt, Uranienborg, von wo er die Sterne beobachtet; jetzt sind nur noch ein paar Mauern vorhanden. Die Frau war eine Kapitänsgattin und hatte als solche freie Fahrt auf allen Schiffen zwischen Kopenhagen und Helsingör, zwischen Malmö und Helsingborg. Das Sommerabonnement auf dieser Strecke kostet sonst 160 Kronen (etwa 180 Mk.); das Abonnement allein zwischen Kopenhagen und Klampenborg kostet 30 Kronen. Auf die Frage, welches Schiff denn ihr Mann führe, erwiderte sie: „Er fährt auf dem größten ‘Creaturschiff' zwischen Kopenhagen und England.“ Creatur heißt Vieh; an Viehwagen auf der Eisenbahn sah ich nachher auch das Wort.

Nachdem Klampenborg und Skodsborg vorüber sind, wird die Küste einsamer; anstatt eleganter und bevölkerter Badeorte mit Hotels und Landhäusern sieht man einsame Fischerdörfer, von der Cultur noch wenig beleckt, wo man aber dieselbe große Natur hat, nur etwas billiger.

Die dänische und schwedische Küste nähern sich einander immer mehr; bei Vedbäk ist der Sund nur etwa 7 Kilometer breit. Je mehr wir uns Helsingör nähern, um so schmaler wird er. In der Ferne, bei Helsingör, taucht schon die finstere Kronborg auf mit ihren grauen Türmen und Zinnen, welche die Einfahrt von der Nordsee in die Ostsee drohend bewacht. Sie liegt vorgeschoben auf einer Halbinsel und eignete sich in der That vorzüglich zum Sundwächter. Friedrich II. begann den Bau, Christian IV., der Gegner Tillys im 30jährigen Kriege, vollendete ihn. Von hier aus ließ die dänische Regierung von den durchfahrenden Schiffen den Sundzoll erheben, bis im Jahre 1857 die seefahrenden Nationen zusammentraten und mit 70 Millionen Mark sich der lästigen Abgabe mit einem Male entledigten.

Nach 2-1/2stündiger Fahrt waren wir in Helsingör angekommen; wir sparten uns jedoch die Besichtigung von Kronborg und Marienlyft für später auf und fuhren zunächst nach der schwedischen Stadt Helsingborg hinüber. Viel Sehenswertes bietet sie eben nicht; allein die Ueberfahrt über die engste Stelle des Sundes ist interessant, da man sich gerade auf der Grenzscheide zwischen der ruhigen Ostsee und dem fast immer aufgeregten Kattegat befindet. Das Schiff, welches bis jetzt fast gar nicht geschaukelt hatte, fing an zu schlingern und wurde von den langen, weißen Wogen, die von Norden hereinbrachen, hin und her geworfen. Mancher, der auf der ganzen Fahrt fröhlich und harmlos dreingeschaut hatte, zahlte noch in der letzten halben Stunde den „Sundzoll“, freilich nicht in klingender Münze. Der Blick, der sich in das weite Kattegat eröffnet, prägt sich tief der Erinnerung ein. Wir hatten leider nicht das Glück, daß das Umspringen des Windes mit unsrer Anwesenheit zusammentraf. Dann soll das Treiben im Sunde doppelt großartig sein. Wohl hundert Segelschiffe, die sich nach und nach des widrigen Windes wegen an der Meerenge angesammelt und tagelang, vielleicht wochenlang auf den günstigen Moment gewartet haben, lichten dann zu gleicher Zeit die Anker und eine ganze Flotte setzt sich auf einmal in Bewegung.

Zurück nach der Küste Seelands, nach Kronborg! Was der Kyffhäuser für Deutschland, ist Kronborg für Dänemark. Dort schlief Kaiser Rotbart und trat endlich, nach jahrhundertelangem Harren, hervor, um sein Volk zur alten Herrlichkeit zurückzuführen. Tief unten im Gewölbe der Meerburg schläft der Schutzgeist des dänischen Volkes, Holger Danske, der in Zeiten der Gefahr heraustritt und sein Vaterland beschützt. Auf die Wiederherstellung der ehemaligen Größe und Macht Dänemarks warten die Dänen bis jetzt freilich vergebens.

Hat man die Zugbrücken und Wälle hinter sich, mit denen das Schloß vom Lande abgesperrt ist, so kommt man auf die Flaggenbatterie, wo der Danebrog weht: eine weiße Fahne mit rotem Kreuz. Hier drohen die Mündungen von einem Dutzend Kanonen gegen das Meer hin; hier brechen sich die blauen Meereswogen; dort die Terrasse, auf welcher der Geist von Hamlets Vater an den Wachen vorüberschreitet. Bei Mondscheinbeleuchtung wäre die Illusion vollkommen gewesen; die Wache war auch jetzt vorhanden, aber der helle Sonnenschein, der auf Meer und Schloß fiel, ließ keine Gespenster aufkommen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Haparanda bis San Francisco