III. Die „Korruptionsabende“ in Bismarcks „Hausparlament“

Fürst Bismarck hatte relativ gesund das achtzigste Lebensjahr erreicht. Von dem Gesetzgeber des deutschen Reiches durfte man sagen wie von dem großen Gesetzgeber der Bibel: „Seine Augen waren nicht dunkel geworden und seine Kraft war nicht verfallen.“ Noch immer sprühte der Geist des Eisernen Reichskanzlers helle Funken in die Welt, noch immer tönte seine Stimme als die sonore politische Glocke der Zeit durch Europa. Wie beneidenswert waren jene Wenigen, die aus unmittelbarer Nähe den Gehalt dessen, was er sprach, in seiner Stimme hörten, die Reflexionen, die er ausspann, in seinen bewegten Mienen spielen sahen. Wenn er in der Öffentlichkeit mehr Dinge als Worte redete und kein Rhetor sein wollte, so hat auch der Tischredner in ihm, der große Meister in der kleinen Konversation, immer dermaßen nachhaltig gewirkt, dass sich diese Seite gemütlichen Lebens bei ihm zu einer Tätigkeit eigenster Art, zu einem Berufe an sich verdichtete. Reichstagsreden und Tischgespräche! Der Abgeordnete v. Lohren hat in einem Schreiben vom 22. Juni 1884 an eine ihm nahestehende Person die Wirkung dieser beiden Seiten der Redegabe Bismarcks folgendermaßen gekennzeichnet: „In der Konversation arbeitet sein Geist leicht und frei — die Rede fließt ungezwungen — es wird in uns hell und warm wie im Maiensonnenschein. Ganz anders im Reichstag, wo sein Wort häufig die Wirkung eines Blitzes ausübt und tödlich verletzt, oder noch häufiger die des Stahls, der aus den Steinen Funken schlägt.“

Alle Mitglieder des Bismarckschen „Hausparlaments“ stimmen darin überein, dass der Kanzler in späteren Jahren seine bedeutungsvollsten Offenbarungen sozusagen in Monologen niederlegte. Er ermüdete aber damit durchaus nicht die Gäste, vielmehr legten diese, und waren sie auch noch so bedeutende Menschen, in dem Gefühle ihrer Inferiorität dem Meister nahe, zu sprechen, und sie selber beschieden sich zuweilen mit der Rolle des Chorus.


Welch ein Chorus! Die Tischgesellschaft hatte in den Jahren vor und unmittelbar nach dem großen Kriege von 1870 einen philosophischeren und humaneren Anstrich als in den späteren Jahren, in welchen der Reichskanzler die Liberalen zu der Rolle der schmollenden Reichsfeinde verdammte. Das war noch eine parlamentarische Gesellschaft in der reizvollen Vielseitigkeit von allerhand politischen Spielarten, als Bennigsen und Miquel, Simson und Löwe-Calbe, Windthorst und Lasker, Bamberg er und Junker, Forckenbeck und Kirchmann dem Kanzler gegenüber mit Bescheidenheit ihre geistvollen Bemerkungen zum Ausdrucke brachten. Blieb auch der Grundstock der Familiaren des Bismarckschen Hauses aristokratisch, so sah man doch auch viele Bürgerliche und Liberale. Von den Kleist, Stolberg, Arnim, Puttkammer, Manteuffel war nur, und keineswegs wie vom Erhabenen zum Gemeinen, ein Schritt zu den Meyer, Fischer, Braun, Werner usw.

Das märkische Junkertum war im Bismarckschen Hause von bürgerlichen Namen aus aller deutschen Herren Ländern garniert. In starker Vielfältigkeit präsentierte sich namentlich das Meiertum: Als Meier aus Bremen, als Meyer aus Zelle, Jena, Thorn und Berlin, als Mayr aus dem Bayernlande. Erweiterte sich gar der Name Mayr zu dem Namen Sedlmayr, so hatte man den Primas unter den Biermagnaten des deutschen Reiches vor sich. Das Bier bot dem alleweil durstigen und jovialen Kanzler immer und immer wieder einen Trink- und Gesprächsstoff. Wenn das bayrische Bier, meinte der Kanzler, das beste in Deutschland sei, so liege das kaum am Wasser, sondem wohl eher an der scharfen und wohltätigen Staatskontrole und den Steuerverhältnissen Bayerns. Der Kanzler äußerte sich bei einem parlamentarischen Frühschoppen, in einer Zeit, in der schon die österreichisch-deutsche Freundschaft in voller Kraft stand, in wenig schmeichelhafter Weise über das österreichische Bier, am unfreundlichsten über das Pilsner, während er Hofbräu und Pschorr herausstrich. Als nun ein Mitglied des Reichstags die österreichische Brauart und die Farbe des Biers rühmte, die, wie er sich unter dem Schutze der Immunität zu äußern erkühnte, fast der des Weines ähnle, bemerkte der Kanzler „es enthält aber zuviel Kleber“. Früher, fügte er hinzu, habe Österreich vortreffliches Bier geboten, neuerdings aber sei es weit hinter Bayern zurückgeblieben, dessen Brauer von ernsteren Kunstbestrebungen als die österreichischen beseelt seien. Wenn er also das österreichische Bier nicht nach Deutschland importiert wissen wollte, so auch nicht das österreichische Parlament. Bei einer parlamentarischen Soiree vom 10. Juli 1871 kam die Rede auf den Neubau für den deutschen Reichstag. Bismarck geißelte die Langsamkeit, mit der die bureaukratischen Techniker Berlins ihres Amtes walteten, und drohte, sie durch Wiener Techniker zu ersetzen. Da machte ein launiger Abgeordneter den Vorschlag, das alte Wiener Parlament, das Bretterhaus beim Schottentor „auf Abbruch und Aufstellung bei uns in Berlin zu kaufen, da man es an der Donau nicht mehr nötig habe“. Wir wissen nicht, ob der Abgeordnete nicht auch meinte, dass man an der Donau den Parlamentarismus überhaupt nicht mehr nötig hätte. Von solch einer Übertragung des damaligen Wiener Rumpfparlaments an die Spree wollte jedoch Bismarck nichts wissen. Aber wenn er für die „Herbstzeitlosen“ in Wien nicht schwärmte, so liebte er auch nicht die Fortschrittler in Berlin, die sich mit einem schlechten „Stoffe“ labten. Scherzend sagte er, das Berliner Weißbier verdanke seine Güte den Spree-Algen, die in dem zu seiner Bereitung dienenden Wasser zahlreich vorhanden seien. Dass der Mensch ist, was er isst und trinkt, ist eine längst anerkannte Tatsache. Auch Bismarck führte gern die Qualität einer politischen Individualität auf die Sorte des „Stoffs“ zurück, dessen sich das betreffende ???? ????????? [ . . . Politiker] befleißigt. In den Fortschrittlern sah er Gewächse, die aus dem ihm wenig genehmen Berliner Weißbier heraustreiben. „Es sind darunter“, sagte er, „von Haus aus ganz begabte Leute, aber jetzt können sie nichts mehr als räsonnieren und mich in der Mietsteuer schrauben.“ Wenn die Blume oder der Stoff besonders famos war, so löste sich manchmal darin die Härte der politischen Überzeugungen des Kanzlers. Die Begeisterung für das Münchner Franziskaner-Bier machte ihn auch in den Tagen des Kulturkampfes zum Freunde der Franziskaner. „Würde die geistlichen Herren um keinen Preis unter das Klostergesetz stellen lassen,“ sagte der Kanzler an einem gemütlichen Märzabend 1881. Die Göttingner Studentenzeit mit ihrer Bierreise durch Thüringen wirkte noch mit süßer Melancholie in dem greisen Kanzler fort, der nicht müde wurde, Hymnen in Prosa auf Göttingen zu reden, wie Scheffel sie in Poesie auf „Alt-Heidelberg du Feine“ sang. „Ja wohl,“ sagte der Fürst, „alle siebzig Sorten damals gewissenhaft durchgeprobt, steht ja schon bei meinem sogenannten Biographen Wellmer zu lesen. Aber ich habe was gelernt in meinem langen Leben, im Trinken wie in der Wirtschaftspolitik. Ich habe mich früher dem herrschenden Geschmacke anbequemt; als Fuchs machte ichs wie unser Senior, als Minister ließ ich mich von Delbrück und Camphausen ans Bändel nehmen; aber jetzt habe ich mich emanzipiert, hier wie dort. Im Getränk wie in der National-Ökonomie muss der alte Schlendrian aufhören; wir brauchen für unser erschlafftes Geschlecht energische Mittel.“

Der Kanzler tadelte die Leute, die ihren Beruf verfehlt hätten, jenem Bier gleich, das nicht getrunken würde. Freilich könne das Bier auch dumm machen. Wenn der Kanzler an seine jungen Jahre dachte, so wunderte er sich, dass er von dem vielen Trinken nicht vollständig zum Phlegma geworden und noch über einigen Spiritus verfügte. Wenn sich zum Beispiel Braun-Wiesbaden von Bennigsen getrennt habe und unter die Sezessionisten gegangen sei, so könne er das nur in der Trinkerlaune getan haben. Braun war ein gewaltiger Bummler, der von Land zu Land spazierte. So kam er auch nach Montenegro. Von dieser Fahrt des neuesten Sezessionisten wusste der Kanzler zu erzählen. „Denken Sie sich nur, bei seinem Maultierritt in die schwarzen Berge — das arme Vieh soll übrigens acht Tage darauf an Entkräftung gestorben sein — hat er ein halbes Duzend Flaschen Rüdesheimer-Berg mitgeschleppt und in einer glücklichen Stunde mit Nikitta Schmollis getrunken. Das ist die pure Wahrheit, wenn auch das montenegrinische Amtsblatt die Sache totgeschwiegen hat.“

Wenn der Kanzler schon im Reichstage mit aller Lebhaftigkeit Stimmungen ausgesetzt war, so war er vollends bei Tische Stimmungsmensch. In dem süßen Rausche eines angeregten Zusammenseins mit den edelsten staatsmännischen Sendlingen des deutschen Volkes gab er sich nicht selten als Verächter des Legitimismus und der bureaukratischen Mandatare desselben. Bismarck fühlte oft genug, dass der Adel zuweilen soviel Adel besitze, wie die Geistlichkeit Geist. Dann kränkte es ihn, dass ihm, während er in jenen Kreisen Beifall fand, wo der Beifall ein geistloses Amen ist, dort Widerstand erwuchs, wo der Widerstand durchgeistigte Überzeugung ist. Mochte er öffentlich noch soviel betonen, wie wenig ihm an der Zustimmung eines Lasker oder Mommsen gelegen sei, so korrigierte er sich dann in seinen Tisch-Gesprächen, ohne es zu wollen, dahin, dass ein Denker denn doch eigentlich mehr wiegt, als Lakaien. Anlässlich eines Mahles zu Ehren des Bundesrates am 16. November 1881 zeigte er, wie sehr ihn Mommsen gekränkt und getroffen habe, indem er ihn als einen von feudalen Gelüsten getragenen Absolutisten und Reaktionär hinsteilte. Es war auch dem eiseren Realpolitiker, welchzer der Kanzler war, nicht gleichgültig, sich manchmal durch die warme, ideale und schwungvolle Beredsamkeit Laskers gegeißelt zu sehen. Von Lasker sagte der Kanzler, dass ihm die Tätigkeit dieses Abgeordneten „seine Aufgaben in höherem Maße erschwere, als die Tätigkeit irgend eines anderen Mitgliedes im Reichstage“. Es war nach Laskers großer Rede gegen den Gründerschwindel im Januar 1873, durch die der Handelsminister Itzenplitz und der Geheimrat Wagener, Bismarcks Gehilfen, auf die Proskriptionsliste gesetzt waren, als der Fürst bei einem parlamentarischen Diner dem „Helden des Tages“ sein Missfallen über die Philippika ausdrückte, durch die er sich selbst getroffen fühlte. „Aber ich habe doch“, bemerkte Lasker, „Durchlaucht mit keinem Worte angegriffen.“ — „Das ist wahr,“ erwiderte Bismarck, „aber Sie haben so nahe bei mir vorbeigetroffen, dass Sie mich auf ein Haar getroffen hätten.“

Zu den Lieblingen des Kanzlers gehörte Simson. Schon vom Parlament in Erfurt her kannten sich der zukünftige Reichskanzler und der zukünftige Präsident des Reichstags und spätere Präsident des Reichsgerichts. Simson war, wie männiglich bekannt, gleich Friedberg, einem andern Matador des Rechtes, ein Konvertit. Anknüpfend an diese Tatsache und an die Tage von Erfurt erging sich bei einer parlamentarischen Soiree vom 29. März 1881 dem Reichskanzler gegenüber der Abgeordnete August Reichensperger in folgender Reminiszenz: Eben war der frühere Königsberger Professor Eduard Simson zum Präsidenten des Erfurter Volkshauses gewählt worden. Der Präsident verlas die Liste der gewählten Sekretäre und unter ihnen als letzten auch den Namen Herr v. Bismarck-Schönhausen. Da machte der Junker Bismarck, der am Fuße der Tribüne stand, zu seinem Nachbar Reichensperger die Bemerkung: „Mein seliger Vater würde sich dreimal im Grabe herumdrehen, wenn er hörte, dass ich der Schreiber eines jüdischen Gelehrten geworden.“ — „Diesen jüdischen Gelehrten,“ sagte nun Reichensperger nach den vielen, vielen Jahren zum Kanzler, „haben Durchlaucht zum Präsidenten des Reichstages gemacht.“ — „Ja,“ erwiderte der Kanzler, „was noch alles aus Einem werden kann.“ Dabei sprach er mit Wärme über Simson und rühmte ihn als „einen der ausgezeichnetsten, von der reinsten Vaterlandsliebe getragenen Vertreter des nationalen Gedankens, als ein edles Gefäß, in dem stets die lautersten Empfindungen zusammengeströmt seien.“

Manchmal fühlte sich der Kanzler, wie viel Kraft des Widerstandes gegen Opposition auch in ihm vorhanden war, doch von den Angriffen gegen seine Person dermaßen erschöpft, dass Zweifel an der Nützlichkeit und Notwendigkeit seines Wirkens in ihm rege wurden. „Ich bin es müde,“ soll er im Herbst 1881, nachdem die Wahlen zuungunsten der Regierung ausgefallen waren, bemerkt haben, „das Stichblatt für alle Bosheit, Niederträchtigkeit, Verleumdung und neidische Verdächtigungen zu sein, welche eine Bevölkerung von 45 Millionen ablagert“.

Während ihm die Opposition im Reichstage hart zusetzte, beklagte er sich nicht selten über die bis zum Servilismus gehende Willfährigkeit im Bundesrate. Wenn sich Fürst Bismarck in den Jahren nach seinem Abschied über den Mangel an partikularistischer Individualität und den öden Geist geradezu preußischer Uniformität in den Diskussionen des Bundesrates zu beschweren pflegte, so hatte er sich in ähnlicher Weise bereits kurz nach Begründung des Reiches geäußert. Bei einer parlamentarischen Soiree vom 20. April 1872 sagte er, dem Bundesrat fehlte jene Gewitter-Atmosphäre der Opposition, in der sich die Gesetzgebung reinigen möchte. Es sei vielleicht ein Unglück, dass Preußen im Jahre 1866 so groß geworden, dass es sich wie ein Koloss auf gewisse deutsche Kleinstaaten gelegt habe, die, wie Hannover, Hessen-Nassau, als souveräne Staaten hätten erhalten bleiben sollen. Freilich seien damals gewisse Dynastien schon dermaßen verbraucht gewesen, dass sie kein Verhältnis mehr zu der Zeit und ihren Bedürfnissen hatten, „Sie waren nicht mehr in der Lage, ihre Stellung und ihre Aufgabe zu verstehen. Die Torheit ging so weit, dass sie die Menschen einteilten in Männer, Weiber und Fürsten.“ Er hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn in den Bundesrat sogar „demokratische Krakehler“ gewählt würden, die mit Festigkeit und Schärfe die Rechte der Einzelregierungen ohne Rücksicht auf Preußen der Reichsregierung gegenüber geltend machten. Es sei für den denkenden Staatsmann langweilig, mit alten Bureaukratenzöpfen zu beraten, die es für ihre kleinen Staaten den großen und mächtigen Staaten abgucken wollen, wie diese sich räuspern und spucken. Der Bundesrat bedürfte junger, frischer, stürmischer Kräfte. Hätte der Kaiser, wie er dies einmal vorhatte, ihn, den Fürsten, zum souveränen Herzog von Lauenburg gemacht, so hätte er in seiner Eigenschaft als Souverän solch einen oppositionslustigen Streiter in den Bundesrat entsendet, der es der Reichsregierung warm hätte machen müssen . . .

Frankreich bildete naturgemäß häufig den Gegenstand der Gespräche. Bismarck hatte, weit entfernt, den französischen Gewohnheiten gram zu sein, eher eine gewisse Vorliebe für dieselben. Auch die französische Küche schmeckte ihm gut. Er hatte sich noch alle Pietät für die Leckerbissen der Tuilerien bewahrt, deren Gast er so oft während des Kaiserreiches gewesen. „Ich lasse zwar selbst Enten züchten,“ sagte er, „aber so gut im Geschmack wie die französischen wollen sie bei mir doch nicht gedeihen.“

Auch in Versailles schmeckte es ihm im Jahre 1870 nicht schlecht . . . Als Bismarck an die Berufung des Reichstags nach Versailles dachte und über dieses Projekt mit Abgeordneten aller Parteischattierungen, mit den Konservativen, Freikonservativen und den Nationalliberalen beriet, die Fortschrittler jedoch von den Beratungen fernhielt, motivierte er diese Unterlassung mit den Worten: „Die Fortschrittler sind wie die Russen, die auch im Winter Kirschen essen und im Sommer Austern haben wollen.“ In Versailles hatte er wiederholt den Abgeordneten Dr. Ludwig Bamberger zu Tische. Einmal kam die Rede auf die Verträge mit den süddeutschen Staaten. Der Kanzler hob die Schwierigkeiten hervor, die ihm der Reichstag gemacht habe. „Ihr Herren, ihr Herren,“ sagte er, „ihr verderbt mir den ganzen Vogelfang.“ Und dann fuhr er halb lächelnd fort: „Es sollten die Mitglieder des Landtages und des Reichstag es verantwortlich gemacht werden, wie die Minister, wegen Landesverrates angeklagt werden können, wenn sie wichtige Staatsverträge nicht bewilligt oder, wie es die Deputierten in Paris taten, grundlos und leichtsinnig Krieg erklärt hätten. Alle feien für den Krieg gewesen, nur Jules Favre*) nicht.“

*) Jules Claude Gabriel Favre (1809-1880) französischer Politiker. Von 1870 bis 1871 war er Außenminister in der Regierung der nationalen Verteidigung. Sein wichtigstes politisches Ziel war ein Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich, den er am 28. Januar 1871, mit Reichskanzler Otto von Bismarck, für Frankreich unterzeichnete.

Vom französischen Kriegstheater weg hätte sich der Kanzler, wenn wir ihm glauben dürfen, am liebsten auf seine paterna rura zurückgezogen. Immer und immer wieder kommt er auf die Landwirtschaft zu sprechen. Wie Cavour *), so hing auch er an dem Berufe des Landwirtes. Er sehnte sich häufig danach, sein eigener Herr zu sein, „seinen Kohl zu bauen, seinen Acker zu bestellen“. Im Januar 1883 sagte er: „Ich möchte wohl gern ein volles Jahr keinen Menschen weiter sehen, als meine Frau, meine Kinder und meine Enkel. Für die sollte man doch eigentlich leben. Aber komme ich dazu? Bisweilen fehlt dies noch, man ließe sich durch einen Rat kurz Vortrag halten über das Befinden der Allernächsten und verzichtet darauf, sie zu sehen.“ Er schwärmte durchaus nicht für das Leben in der Hauptstadt und auch nicht immer für die staatsmännische Laufbahn. Einem seiner Söhne, der damals sechzehn Jahre alt gewesen, habe er vorgeschlagen, sich der Holzindustrie zu widmen. So hätte er ihm garantieren können, dass er in kurzer Zeit Millionär würde. Auch die Pächter seiner zwei Papiermühlen in Varzin, die sein Holz verarbeiteten, die Gebrüder Behrend in Köslin, seien, da die Wasserkraft so außerordentlich billig war, bald reich geworden.

*) Camillo Benso Graf von Cavour (1810-1861) italienischer Politiker, der die Einheit des Landes vorantrieb, der Architekt der italienischen Verfassung und der erste Ministerpräsident des neuen Königreiches Italien.

Doch wenn man schon öffentlich zu wirken berufen sei, so sei es süß, in großen Augenblicken zu leben und sich von den Wogen einer stürmischen Zeit tragen zu lassen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow