II. Die „Korruptionsabende“ in Bismarcks „Hausparlament“

Das Eis war gebrochen. Der Kaiser und der Kanzler, der Kanzler . . . . [par excellence] sollten den Friedenstrunk miteinander leeren. Nach fast vierjähriger Trennung durften sie sich wiedersehen . . .

Es war am 4. Februar 1890, als Kaiser Wilhelm II. bei einem parlamentarischen Essen Gast seines Kanzlers war. Der Abgeordnete v. Dietze zog aus seiner Tasche ein neues Messer, das auf dem bronzenen Hefte auf der einen Seite den Kaiser und auf der anderen den Kanzler in Relief zeigte. Da sagte jener scherzend, indem er es betrachtete: „Nun, Bismarck, so Rücken gegen Rücken haben wir uns doch noch nie entgegengestanden, seitdem wir uns kennen.“ Bei dem nun folgenden parlamentarischen Essen, bei dem gleichfalls der Kaiser erschien, äußerte dann der Kanzler scherzend zu einigen Abgeordneten: „Der Kaiser hat mich recht lieb, aber imponieren kann ich ihm doch nicht.“ Er wollte darum, fügte der Kanzler hinzu, in Anbetracht seines Alters und der Abnahme seiner Arbeitstüchtigkeit jüngeren Kräften die Führung der preußischen Geschäfte überlassen, um sich ausschließlich dem Reiche zu widmen.


Nur wenige Wochen, und Fürst Bismarck war nicht mehr Kanzler, sondern nur noch Herzog von Lauenburg. Rücken gegen Rücken standen sich nun wie auf jenem Messer der Kaiser und der Herzog entgegen. Das hat fast vier Jahre gedauert . . .

Der Kaiser und der Kanzler sollten nun endlich wieder miteinander tafeln.

Die Welt, die während der Jahre der tragischen Trennung den Kanzler nicht mehr offiziell sprechen hörte, hatte sich doch auch an den Tischgesprächen des Gutsherrn von Friedrichsruh als an den Ausstrahlungen eines Souveräns der Staatskunst gewärmt. Nimmermehr aber durfte man von der Reichshauptstadt her seine Offenbarungen hören.

Bismarck, der am Rande der Achtzig stand, kam nicht mehr in die Lage, parlamentarischen Soireen und Gastereien zu präsidieren. Man mußte sich fürderhin begnügen, in jenen parlamentarischen Tischgesprächen zu blättern, die verklungen waren. Das Bismarcksche „Hausparlament“ gehörte als Dependance des deutschen Reichstages schon bei Bismarcks Lebzeiten der Geschichte an. Es war ein Idyll und historisches Theater zugleich.

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Draußen umtobten die Wogen des alten Völkerhasses das junge Reich; auch der Reichstag erdröhnte von dem Kriege der Parteien - doch drinnen in dem Kanzlerpalast wohnte die traute Heiligkeit eines innigen Familienlebens. In diesem ruhen die Wurzeln der Kraft des großen Staatsmannes, dessen stürmende Kämpferseele sich am häuslichen Herde beruhigte. Der treue Gatte, der zärtliche Vater erklären die glückliche Größe, die verheißungsvolle Sicherheit des Staatsmannes. In dieser Wärme häuslicher Liebe taut die grollende Ungeduld, die dem Kanzler eigentümlich war wie allen jenen, die über die Massen ragen. Auch der Kanzler war ein Stifter, der sich von seiner Gemeinde, dem Reichstage, nicht immer verstanden glaubte. Dann schmiegte er sich an den engsten und innersten Ring innerhalb des Kreises seiner Familiären. Die Frauen verstanden ihn, verziehen auch sein bisweilen grausames Streben, wenn es nur groß gemeint war. Die Liebe verzichtet auf gewundene politische Argumente. Der Mensch bestach sie, und der Staatsmann gewann bei ihnen. In der politischen Sphäre des Hauses weitete sich auch die Fürstin zur staatsmännischen Matrone. Schon bei der ersten parlamentarischen Soiree gab Bismarcks Gemahlin, indem sie die Gäste, die Mitglieder des Bundesrates, des Reichstages und des Bundeskanzler-Amts, an der Tür zwischen der Familien- und der Staatswohnung empfing, in bedeutungsvoller Unbewusstheit zu erkennen, dass sie berufen wäre, das Nest warm zu halten, um dem Staate zu nützen, dessen stählerner Lenker ihr von einem gütigen Schicksal zur Obhut anvertraut war. In dieser gotischen Kapelle deutscher Häuslichkeit war nichts von jener raffinierten Geselligkeit zu finden, die dort waltet, wo die Zerstörung lauert. Hier war kein schwächliches, parfümiertes Weiberregiment. Hier war kein Raum für öde Höflinge, für diplomatischtuende Gecken, für Modehelden und Lions of society. Hier ward mit einer bis zur Rauheit gesteigerten, aber immer von Humor gebändigten Energie gesprochen.

Wer in das Haus des Kanzlers aufgenommen ward, hatte nicht so sehr seinen Platz in Berlin, wo alles im Werden war, sondern unter den stämmigen Männern seiner Heimat, die er dort anführte und in der Reichshauptstadt vertrat.

Als noch alle Glocken Deutschlands mit Grabesklänge läuteten „Bund — Hund“, ruhten schon in diesem „Hausparlament“ des Kanzlers wie in einer Bundeslade häuslichen Glückes die Gesetzestafeln des zu einigenden Reiches. In diesem Hause gab es politische Ostern, politische Weihnachten. Bei einer parlamentarischen Soiree vom 15. Februar 1879 zu Ehren der preußischen Abgeordneten äußerte der Fürst sein Bedauern darüber, dass seine letzte „Weihnachtstafel“ mit den Zollvorlagen nicht viel Beifall gefunden hatte. Einer der Abgeordneten nun antwortete mit Anspielung auf die Zölle, die auf allerhand Rohstoffe und Produktionsmittel gelegt worden waren: „Ja, Durchlaucht, es waren zuviel Waldteufel auf der Weihnachtstafel.“

Mancher Gast brachte mehr Durst als politische Überzeugung mit und war erst überzeugt, nachdem er den Durst gelöscht hatte. Doch das lässt sich nicht von dem Abgeordneten Völk sagen. Er war ein vielseitiger Mann, hatte seine entschiedene Überzeugung und seinen entschiedenen Durst. Wie dieser vortreffliche Doktor der beiden Rechte aus dem bayrischen Schwabenlande über die Reichsverfassung und die Reichsjustiz gedacht hat, die er in liberalem Sinne ausgebaut wissen wollte, berichten zu seinem Ruhm die Protokolle der bayrischen Abgeordneten-Kammer, des Frankfurter Abgeordnetentages, des Zollparlaments und am beredtesten die des deutschen Reichstags. Doch über die Größe seines nationalen Durstes sind die Gelehrten weniger einig geworden. Bei einer parlamentarischen Soiree vom 29. März 1879 erzählte man, der frühere Präsident des Reichstags hätte geäußert, er könnte nicht einschlafen, ehe er elf Seiten Goethe gelesen, worauf Völk bemerkt hätte: Und er könnte nicht einschlafen, ehe er fünfzehn Seidel Bier getrunken. Volk nun protestierte in Gegenwart des Reichskanzlers gegen solche Aufbauschung seiner Tugenden, und der Abend hatte zur Verlegenheit des Reiches einen Protestler mehr. Einer der Anwesenden suchte zu schlichten, indem er sagte, „dass die Frage, betreffend die Anzahl der von dem Abgeordneten Völk vor dem Schlafengehen zu vertilgenden Seidel eine Kontroverse sei, die nicht leicht zur Entscheidung gelangen könne“. Wir wollen angesichts des Umstandes, dass die menschliche Gesellschaft in missverständlichen Auffassungen und Übertreibungen gern lebt und webt, vielleicht dahin zu entscheiden versuchen, dass Völk nur soviel Seidel des Münchners getrunken habe, wie sein Partner Seiten des Weimarers gelesen. So sensibel sich auch der Kanzler im Reichstage zeigte, wo er leicht als persönliche Beleidigung auffasste, was oft genug nur herbe Kritik an dem Staatsmanne war, so war er in seinem „Hausparlament“ allen Scherzen leicht zugänglich. Gern lachte er, wenn er in der historischen Ecke auf dem „delphischen Sofa“ saß, aus voller Brust, und es lachten mit ihm die Glücklichen, die aus der Fülle seines unversieglichen Geistes und bezaubernden Witzes schöpften. Manche Gäste des Hauses hatten ihre Spitznamen. So der Industrielle und Abgeordnete Stumm. Im Jahre 1881 gehörte er der „Unfallversicherungs-Kommission“ an — dieses unheimlich lange Wort war wohl ein Unfall an sich. Im Gegensatze zu Bismarck, der, damit die Industriellen nicht allein von der Prämie betroffen würden, einen Staatszuschuss vorschlug, wollte Stumm in selbstloser Weise die Last ausschließlich auf die Industriellen gewälzt wissen. Darum sprach dann Bismarck bei einer Mai-Soiree von dem „König Stumm“. Den Abgeordneten Justizrat Valentin, der es jahrelang als seinen Beruf ansah, Anträge auf Schluss der Diskussion zu stellen, nannte der Kanzler „Parze des Reichstags“, und er lobte es an der parlamentarischen Parze, dass sie unfruchtbare Diskussionen abzuschneiden pflegte. „Gibt es denn in aller Welt,“ hatte Bismarck vortrefflich bemerkt, „kein Mittel, dem zu steuern, was ich eine überreiche Duldsamkeit gegen den Eigennutz der Beredsamkeit nennen möchte?“

Gern erging sich der Fürst in Gespräche über deutschen Geist und deutsche Art im allgemeinen. Bei dem parlamentarischen Diner vom 7. Mai 1881 sagte er, der liebe Gott habe es weise eingerichtet, den Deutschen die Vorliebe für Meinungsverschiedenheiten zu verleihen, denn „sonst würden bei Einigkeit in allen Dingen solche Kerle wie die deutsche Nation die ganze Welt aus den Angeln heben“. Zu dem Senator Schläger in Hannover bemerkte er: „Wissen Sie denn nicht, dass, wenn drei Deutsche zusammenkommen, immer vier Parteien vertreten sind?“

Er war Meister in vergleichenden und bilderreichen Redensarten. Anknüpfend an eine im Abgeordnetenhause getane Äußerung Jörgs, der Deutschland zumutete, es solle sich nach Österreich hin ausdehnen, sagte Bismarck, indem er auf den Beruf Deutschlands, Frieden, nicht Krieg zu stiften, hinwies, „Deutschland werde seine volle Uneigennützigkeit zeigen und sei die Bleigarnierung in einem Stehaufmännchen, welche die Figur immer zum Stehen bringe“. England und Russland verglich der Kanzler mit dem „Fische und dem Wolfe, welche in Streit geraten, ohne sich an den Leib kommen zu können“. Als er Handelsminister war, sagte er bei der parlamentarischen Soiree vom 1. Februar 1881, er sei in das Handelsministerium getreten, wie Odysseus unter die Freier. „Meine Aufgabe ist hier lediglich, für das Reich zu erobern.“

Bismarck hat Politiker aller Farben zu Verbündeten gehabt, die er dort holte, wo er sie finden zu können glaubte. Als realpolitischer Staatsmann sagte er sich, dass es keinen Stand in der Gesellschaft gebe, der nicht eine Kraft im Getriebe des Staates repräsentiere. Es haben freilich oft genug Stimmungen für den einen Stand gegen den andern in ihm jene Begabung für Objektivität, zu der er manchmal prädestiniert erschien, in einem Grade überwuchert, dass er in den Neigungen von heute die Neigungen von gestern erstickte. Er hat wohl nie auch nur in einer einzelnen Phafe seines Daseins das Juste miiieu in sich dargestellt. Allein wenn man heute die Resultierende aus allen den Komponenten seiner staatsmännischen Leistungen und Leidenschaften zieht, so wird man aus dieser Riesensumme von einander aufhebenden und fordernden Kräften gleichsam einen theoretischen Durchschnitt herausdestillieren, der weit ab von jedem Extrem, von jedem politischen und religiösen Zelotismus, auch weit ab von zünstlerischer und bureaukratischer Exklufivität liegt. Am 25. Januar 1873 sagte er zu dem Abgeordneten Unruh, „ursprünglich sei er der ausgeprägteste Parteimann gewesen, aber als Minister, ja schon als Gesandter habe er sich sehr bald überzeugt, dass sich mit einer Partei nicht regieren lasse, dass man sich vielmehr auf alle brauchbaren Elemente stützen müsse“.

Er hat Menschen aller Schichten und Stände bei sich zu Gaste gesehen. In dem Augenblick, in welchem er im deutschen Reichstag die Fahne des Arbeiterschutzes und des Staatssozialismus entfaltet hatte, hieß er auch die Männer mit den schwieligen Händen an seiner Tafel willkommen. Das Diner für die Mitglieder des Volkswirtschaftsrates vom 11. Februar 1881 war geradezu ein Diner der Blusen. Handwerksmeister und Arbeiter tafelten mit dem Staatsmanne, der in jenen Tagen in der Öffentlichkeit eine Stimmung zur Schau trug, die dem vierten Stande gewogener schien als dem dritten. Bei diesem Diner ward dem Webermeister Hessel ein Ehrensitz zur Linken des Fürsten angewiesen. Der Meister, ein bescheidenes Komma im praktischen Leben, nahm mit Befangenheit den Platz an der Seite des eisernen Ausrufungszeichens der Weltgeschichte. Der Kanzler drückte seinem Nachbar, der es längst zum angesehenen Fabrikanten gebracht hatte, die Freude darüber aus, dass er den Stand, aus dem er hervorgegangen, nicht verleugne und sich noch immer mit Stolz Webermeister nenne.

An dem Diner der Blusen nahm auch Tyras, der Reichshund, teil. Er gab durch seine Haltung zweierlei zu erkennen: zunächst, dass er zuweilen oppofitionelle Velleitäten habe, dann, dass er ein durchaus aristokratifch und arbeiterfeindlich veranlagter Geist sei. Als nämlich einer der anwesenden Arbeiter gleichsam zum Danke dafür, dass das Reich den Arbeitern das Fell streichelte, auch dem Reichshunde vertraulich auf das Fell klopfte, biss ihm dieser in den Rockärmel. Ein Geheimrat stand daneben, und der Arbeiter mit dem angebissenen Rocke sagte mit Rücksicht auf den von reichshundswegen ausgegangenen Angriff auf das Reich und die neue Zeit: „Es scheint fast, dass der Hund auf die Opposition abgerichtet ist.“ Der Fürst lachte und zeigte damit, dass er durchaus nicht, wie man ihm das allgemein imputierte, blinden Gehorsam von seiner Umgebung, nicht einmal unbedingte Gefolgschaft für seine Auffassung von der Reichspolitik von dem Hunde des Reiches verlange. Der Geheimrat jedoch, der offenbar nicht sich allein, sondern jeden Untergebenen auf die unbedingteste Subordination gestimmt glaubte, sagte beschönigenden Ernstes: „Ach nein — Tyras ist nicht oppositionell, er ist nur kein Freund von allzu großen Vertraulichkeiten“ . . .

Von Kaiser Wilhelm I. sprach der Kanzler immer in den Ausdrücken innigster Sympathie für seine Pflichttreue und die bescheidene Hingabe an seinen hohen Beruf. Am 24. November 1881 erklärte Bismarck bei einem parlamentarischen Diner, er habe sich, als er den Monarchen nach dem Nobilingschen Attentat verwundet daliegen sah, gelobt, Minister des Kaisers zu bleiben, so lange dieser es verlange. Dem Freiherrn v. Hertling gegenüber beklagte sich der Kanzler allerdings am 7. April 1883, in einem Augenblicke also, als er zu neuen Konzessionen an den Papst und das Zentrum hinneigte, dass er dem Kaiser gegenüber einen genug schweren Stand hätte. „Der Kaiser ist in seiner Stimmung wechselnd je nach den Einflüssen, ich weiß nicht, sind es maurerische oder von den Hofpredigern ausgehende? Dann ist er sehr protestantisch, sehr anti-römisch; ein andermal sagt er auch wieder, dass er den Frieden will.“ So leicht also, wie man dies gemeiniglich annimmt, hat es Bismarck auch bei dem alten Kaiser Wilhelm nicht immer gehabt. Wäre der Kanzler, wie er zu Hertling sagte, nicht in früheren Jahren, auf Reisen und Manövern stets zu Pferde an der Seite des greisen Herrschers gewesen, so wäre dieser wohl manchmal auf seine Politik gar nicht eingegangen. Dabei gedachte der Fürst auch jener großen, schönen Zeit, in der er so glücklich war, fünfzehn Stunden täglich arbeiten zu können.

Aber was waren die Schwierigkeiten, die ihm der Kaiser bereitete, im Vergleiche zu denjenigen, die ihm nach seiner Auffassung der Reichstag in den Weg legte? Bei einem parlamentarischen Diner vom 22. Februar 1889 bezeidmete der Fürst den verstorbenen Kaiser Wilhelm als einen Souverän, der sich zum Segen des Vaterlandes durch eine „nüchterne, kernige, hausbackene Natur“ nachdrucksvoll und glücklich betätigt habe. Die geschichtliche Erfahrung lehre immer und habe zulegt anlässlich der Karolinen-Frage, in der sich die Phantasie des spanischen Volkes bis zum Siedegrade erhitzte, gelehrt, „dass eine von volkstümlichen Strömungen abhängige Politik viel mehr engagiert werde als eine von einem Monarchen geleitete. Die letztere könne sich ungefährdet zurückziehen und sogar, wenn sie es für notwendig halte, einige Schritte rückwärts gehen, während ein Gleiches für die erstere vollst?ndig ausgeschlossen sei. Selbst eine verlorene Sddacht brauche nicht die Stellung des Monarchen zu erschüttern“.

Anders als Kaiser Wilhelm war der junge Bayernherrscher geartet, der als erster von allen Bundesfürsten dem Hohenzollern als Nachfolger der Hohenstaufen huldigte. Ludwig aber war in seiner romantischen Ziellosigkeit ein Regent mehr des Zaubermärchens von Hohenschwangau als des Lebens.

Den Souveränen gegenüber, auch wenn sie ihm nicht gefielen, wußte sich Bismarck bei seiner zeitweilig geradezu religiösen Ehrfurcht vor der Majestät der Monarchie alle Zurückhaltung aufzuerlegen. Doch rücksichtslos gebärdete sich seine Leidenschaft angesichts der Staatsmänner und Parlamentarier, die ihm seinen Zielen hinderlich schienen. Der entlassene Fürst mochte manchmal in der Einsamkeit zu Friedrichsruh in seinen Erinnerungen reuevoll stöbern und dabei registrieren, wie vielen er im Leben durch die Lava seines Temperaments und die eiserne Ausdauer, mit der er zu hassen verstand, wehe getan. Arnim, Geffcken, Sir Robert Morier — das sind nur wenige von den Proskribierten, deren Namen aus dem mit vielen Kreuzen gezeichneten Totenbuche hervorleuchten, das der Kanzler über diejenigen führte, die seine titanischen Gelüste störten und die darum das erbarmungslose Fallbeil seiner Diktatur traf. Doch lief er, wie er bei dem parlamentarischen Frühstück am 20. Mai 1889 den Gästen erzählte, manchmal Gefahr, noch leidenschaftlichere Streiche zu spielen, als er in Wirklichkeit getan hat. In der Reichstagssitzung vom 18. Mai ward, als Bismarck den Freisinnigen ihre Abstimmung bei der letzten Wehrvorlage zum Vorwurfe machte, in den Reihen dieser Partei ein emphatisches „Pfui“ laut. Der Kanzler hatte, als er so „vor versammeltem Kriegsvolke“ an den Pranger gestellt wrard, das Gefühl, als ob er angespuckt würde. Wie gern hätte er nun auf die Freisinnigen geschossen, nicht mit Worten, sondern mit einer veritablen Waffe. Er hatte aber keine bei sich. Einmal jedoch habe er, erzählte er, einen geladenen Revolver mit sich geführt und unwillkürlich nach demselben gegriffen, um auf den Grafen Ballestrem, Mitglied des Zentrums, zu schießen, als dieser ihm im Reichstage mit solch einem „Pfui!“ aufwartete. Der Kanzler hat sich „noch schnell genug gefasst und das gefährliche Ding in der Tasche stecken lassen“. Bei einer parlamentarischen Soiree im Dezember 1874 war jedoch in Wirklichkeit, wenn auch nicht aus der Hand des Kanzlers, ein Schuss gefallen. Der Abgeordnete v. Unruh-Bomst untersuchte den auf dem Arbeitstische Bismarcks liegenden Revolver, mit dem der fanatische Blind auf den Kanzler geschossen hatte. Die Waffe entlud sich und ein Schuss streifte den gigantischen Bauch des Abgeordneten Jordan . . .

Von manchem Menü der Reichskanzler-Diners hätte man ein Stück Geschichte und Gesinnungen des Gastgebers ablesen können. Es gab Menüs voll politischer Symbolik. Die „Potage Moscovite“ stand nicht nur an der Spitze eines Gastmals, sondern auch der auswärtigen Politik des Reichskanzlers, der zu der moskowitischen Suppe auch dann noch halten wollte, als er nicht mehr zu Russland hielt. Was war es anders als der „Saumon du Rhin“, der große Rheinlachs, um den man bei Straßburg gerade in der Laichzeit des deutschen Lachses und der deutschen Einheit gestritten hatte? Bei den Kanzler-Diners schwamm der Rheinlachs in „Sauce Colbert“. Der Reichskanzler mag gedacht haben, dass die Errungenschaft von Straßburg, wenn sie dauerhaft bleiben solle, sich nur in der Sauce einer monumentalen Finanzpolitik konservieren könne. Manchmal gab es „Wildschweinskopf in Cumberland-Sauce“, und jener schwamm in dieser mit einer Behaglichkeit, als ob es der leibhaftige Reptilienfonds, der Welfenfonds wäre, und das war noch bei dem oben erwähnten parlamentarischen Diner vom 4. Februar 1890, an dem der Kaiser teilnahm. Dem Wildschweinskopf mit der Cumberland-Sauce folgten unmittelbar die französischen Masthühner, ganz so wie das Jahr 1870 auf das Jahr 1868, die Mast von Sedan auf die Sequestrierung der welfischen Millionen folgte.

Als Kaiser Wilhelm II. an dem Mahle teilnahm, war es ein „Essen“ und kein „Diner“ mehr. Auch das „Menü“ hatte sich in eine „Speisekarte“ verwandelt. Nach den vielen, vielen Gängen, nach den Käsestangen gab es dem Kaiser zu Ehren noch einen Hauptgang von der neuesten Mode — selbstverständlich die Arbeiterfrage, wobei der Kaiser Propheten rechts, Herrn v. Stumm, Propheten links, Herrn v. Huene, hatte . . .

Erst nach mehrjähriger Unterbrechung sollten also Kaiser und Kanzler wieder zusammen tafeln.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow