Die Entlassung Bismarcks

Wiederholt ward in unseren Gesprächen die Entlassung des Fürsten berührt. Man hatte unmittelbar nach dem Sturze Bismarcks allerhand darüber verbreitet. Es wurde viel von Intrigen fabuliert, durch die er gestürzt worden wäre. Rottenburg äußerte sich: „Auch in der Geschichte hat das Gesetz der Kausalität eine absolute Geltung. Eine große Wirkung kann nur auf eine große Ursache zurückgeführt werden. Diejenigen, die den Sturz Bismarcks durch Intrigen seiner Umgebung motivieren, beweisen damit nur, dass sie von Geschichtsphilosophie keine Ahnung haben und ihre Unwissenheit sie dazu verleitet, den Kanzler zu verkleinern.

Solche Intrigen reichen höchstens als Begründung geschichtlicher Ereignisse in einem Lustspiel à la Scribe aus. Bismarck aber war ein solcher Heros, dass er keinem der Politiker hätte zum Opfer fallen können. Freilich, intrigiert wurde immer gegen ihn, auch als er auf der Höhe des Wirkens stand. Die Intrigen haben ihm oft böse Stunden bereitet, aber ihn nie zum Wanken gebracht und konnten ihn nicht erschüttern. Die Annahme, dass Bötticher ihn gestürzt hätte, ist geradezu lächerlich. Ich kenne den ehemaligen Staatssekretär des Reichsamts des Innern genau und kann aus seinem Charakter mit mathematischer Sicherheit deduzieren, dass ihm eine Intrige gegen den Fürsten eine Unmöglichkeit war. Bötticher hatte eine durch und durch vornehme, edle Natur. Ferner weiß ich, dass Bötticher alles, was in seinen Kräften stand, getan hat, um ein Verbleiben des Fürsten im Amt zu ermöglichen. Ist denn von Gegnern Böttichers auch nur eine einzige positive Tatsache erwiesen worden, die auf das Vorhandensein einer Schuld schließen ließe? Vor allem aber kann ich nur wiederholen: Man setzt den Fürsten Bismarck herab, wenn man seinen Sturz in einen kausalen Zusammenhang mit den Intrigen eines derjenigen Männer bringt, die im Jahre 1890 eine politische Rolle spielten. Alle zusammen genommen waren sie viel zu klein, um den Riesen bewältigen zu können. Die ganze Fabel ist nur ein Zeichen des Mangels an philosophischer Bildung, der unserer Zeit anhaftet ... Ich erinnere mich, gelesen zu haben, der Krimkrieg wäre dadurch herbeigeführt worden, dass Fürst Mentschikow, der 1853 als außerordentlicher Gesandter nach Konstantinopel reiste, um dem Sultan die bekannten Forderungen des Kaisers Nikolaus betreffend das Protektorat Rußlands über die griechischen Christen im Orient zu überbringen, im Paletot und mit bestaubten Stiefeln in den Chwan eingetreten wäre. Das ist ein charakteristisches Beispiel dafür, wie sich die Vorstellung von geschichtlicher Notwendigkeit in manchen Köpfen gestaltet . . . Nein! Weder Bötticher noch irgendein anderer Politiker hat den Fürsten Bismarck gestürzt. Ich glaube, die wahre Ursache seiner Entlassung bestimmen zu können; aber es würde einer langen, sehr langen Auseinandersetzung bedürfen, um meine Auffassung gegen den Vorwurf der Subjektivität sicherzustellen, und daher lassen Sie mich darüber schweigen. Wenigstens für heute!“


Nach Bismarcks Sturze wurde viel zu seinem Lob geschrieben, und durch manche dieser Kundgebungen in Prosa und Poesie schnaubte Feuer und Leidenschaft. Einen tiefen Eindruck habe auf den Fürsten selbst und seine Umgebung eine schlichte Zeichnung des „Punch“ gemacht. „Droping the pilot“ stand geschrieben unter dieser Zeichnung, die darstellt, wie der Fürst, als Lotse gekleidet, mit tief sorgenvoller Miene die Schifftreppe an der Schiffswand hinabsteigt. Das Original der Zeichnung soll Lord Rosebery seinerzeit angekauft und dem Fürsten Bismarck übersandt haben.

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Bismarck, meinte Rottenburg einmal, hätte sich stets für England interessiert. Auch Lothar Bucher fiele ein gewisses Verdienst daran zu, dass der Fürst für englische Dinge solche Teilnahme an den Tag legte — sei ja Bucher ein vorzüglicher Kenner Englands gewesen.

Ihm bewahrte Dr. v. Rottenburg als dem bedeutendsten Mitarbeiter des Fürsten ein treues Andenken. Bucher ist in Territet begraben, und Rottenburg ist in pietätvollem Gedenken an seinem Grabhügel gestanden. Rottenburg erzählte, in wie trauriger Enge Bucher einstens in London gelebt. Fürst Bismarck sei auf ihn durch seine Londoner Korrespondenzen für die „Nationalzeitung“ aufmerksam geworden. „Bucher besaß,“ so äußerte Rottenburg, „fast auf allen Gebieten ein umfassendes Wissen, dank seinem vortrefflichen Gedächtnis. Überdies hatte er einen außerordentlich klaren mathematischen Verstand. Die sorgenvollen Zeiten, die er in England verlebt hatte, waren gewiss nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er hatte etwas Zurückhaltendes, man könnte fast sagen Pessimistisches an sich. Lernte man ihn aber näher kennen, so gewann man den Eindruck einer tief fühlenden treuen Seele.

Unbegrenzt war seine Verehrung für den Fürsten. Über einzelne seiner Kollegen urteilte er bisweilen abfällig, aber im Grunde hatte er recht. Sein Urteil deckte sich fast immer mit dem des Fürsten.“ Auch an dem allerletzten Abend, den der entlassene Reichskanzler in Berlin verbrachte, war neben Lothar Bucher nur noch Rottenburg beim Fürstenpaare zu Tische. Das Gespräch wendete sich dem Nachfolger Bismarcks zu, dem General v. Caprivi. Rottenburg fragte Bucher, ob er ihn kenne, worauf dieser erwiderte: „Der Name Caprivi ist mir sehr geläufig. Der Vater des neuen Kanzlers war einer der Richter, die mich seinerzeit verurteilt haben.“

Rottenburg gab einmal seinem Bedauern darüber Ausdruck, dass die Politik zwei so hervor ragende Zeitgenossen wie Bismarck und Mommsen einander entfremden musste.

Rottenburg hat gern die Gesellschaft Mommsens genossen, in dem er einen von aller Eitelkeit freien Mann sah. Darin hätte er nur in Helmholtz seinesgleichen gehabt. Es befremdete ihn jedoch, dass Mommsen als eine besonders tadelnswerte Eigenschaft Bismarcks es bezeichnete, dass er eitel wäre; eben um deswillen hätte er sich mit dem Reichskanzler nicht befreunden können. Da meinte Rottenburg: „Aber, verehrter Professor, wie ist es damit vereinbar, dass Sie in Ihrer römischen Geschichte Cäsar so hochstellen, obgleich er nach Ihren eigenen Ausführungen ein Mann war, der den Verlust seiner Locken bitter empfand, und manchen seiner Siege hergegeben hätte, wenn er dadurch seine Glatze losgeworden wäre? Ferner heißt es den Fürsten Bismarck völlig verkennen, wenn man ihn als eitel bezeichnet. Er war selbstbewusst — anders hätte er niemals seine großartige Politik durchführen können; aber von Eitelkeit war nicht die Spur bei ihm. Ich habe oft aus seinem Munde gehört: Die größte Hypothek, die auf einem Menschen lasten kann, ist die Eitelkeit.“ Mommsen antwortete mir auf meinen Einwand nur: „Ja, wenn ich zur Zeit Cäsars gelebt und im politischen Leben ihm als Gegner gegenübergestanden hätte, würde mein Urteil vielleicht weniger günstig ausgefallen sein.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow