Vom gastfreien Pastor.

Menschen, welche niemals Referendar gewesen sind, flößen mir eigentlich stets ein unbegrenztes Misstrauen ein. Ich kann mir nämlich gar nicht vorstellen, wie in solchen Menschen jenes wünschenswerte, gesunde Gefühl für die persönliche Würde heranreifen kann, das ich den Vater aller Tugenden nennen möchte.

Hab ich es doch an mir selber erfahren. Ich hatte es als Student, selbst in den höchsten Semestern, niemals zu einem Zustande des Bewusstseins gebracht, der auch nur annähernd den Namen Würde verdient hätte. Zu den Gaben, welche mir die gütige Natur versagt hat, zählte ich das Talent zur Feierlichkeit. Mit bitterem Neide sah ich auf die Menschen, welche, mit diesem Talente geschmückt, keines weiteren zu bedürfen schienen. — Und doch! Kaum war ich Referendar — so fing ich auch bereits an, mir selber von Tag zu Tag mehr Achtung abzunötigen, und es dauerte gar nicht lange, da war ich, wenigstens wenn ich mir Mühe gab, und zumal wenn die weite Robe des Gerichtsschreibers meine jungen Glieder umrauschte, sehr wohl im Stande, mich selber für den Königlich Preußischen Beamten zu halten, den zu markieren mir das Schicksal vorschrieb. Es ist nicht zu sagen, wie eminent erzieherisch solch ein innerer Vorgang wirkt! Ich war noch keine sechs Monate Referendar, als ich bereits mit ungeheucheltem sittlichen Abscheu auf die Opfer der Alimentenprozesse herabzublicken gelernt hatte. —


Der Ort, an dem sich diese ethische Wandlung in mir vollzog, war Stolberg am Harz. Die stolzeste Erinnerung, die ich aus jenem lieblichen Waldthal ins Leben mitgenommen habe, will ich hier gleich vorwegnehmen — gewissermaßen in Sicherheit bringen. Man denke: Albert Träger, der deutsche Dichter Albert Träger, damals noch Rechtsanwalt in Nordhausen, kam eines Tages, um jemanden vor unserm Schöffengericht zu verteidigen, und bei dieser Gelegenheit hat er mich damals wiederholt „Herr College“ genannt. Auf Ehre! Man muss so etwas gefühlt haben, um es zu begreifen.

Stolberg liegt an einer Postchaussee, die aus der nahen Ebene aufsteigt und weiter ins Gebirge führt. Gleich hinter den alten und schiefen, so wunderlich malerischen Häusern und Hütten, die da rechts und links an dieser Postchaussee liegen, steigen sofort die Berge hinauf, die fast von unten an bewaldet sind.

Eng und begrenzt wie diese örtliche Lage Stolbergs ist auch der Sinn und das Gehirn der armen Stolberger. Sie kommen nicht heraus. Draußen, in der ebenen Großstadt, befällt sie Platzfurcht, und wenn es wirklich einmal einer fertig bringt, draußen im Strome mit zu schwimmen — lange hält er's nicht aus, und führen ihn schließlich Heimweh, Sehnsucht oder andere profanere Mächte in die Vaterstadt zurück, so kann man sicher sein, dass er es inzwischen zum Ortsarmen gebracht hat, den die heimische Gemeinde zu unterhalten verpflichtet ist.

Dem Fremden, der in Stolberg einzieht, fällt es sofort unangenehm auf, wie zahlreich kleine, verkümmerte Kretins, kröpfige Untiere aller Art aus dem Kot der Strasse hervorzukriechen scheinen. So erhält er gleich ein richtiges Bild von dem Menschenschlage, der in diesem schönen Erdenwinkel gedeiht.

Hoch oben über der Stadt, diese weithin beherrschend, ragt aus schwarzen Tannen das Schloss auf. Ein weitläufiger Komplex verschieden alter weißgetünchter Häuser mit hohen Schieferdächern, zahllosen Mansardenfenstern und niedrigen, klotzigen, achteckigen Türmen — so steht es da oben und scheint eine Stadt, eine Welt für sich zu sein.

In diesem Schlosse haust seit Menschengedenken das Geschlecht der „regierenden Grafen von Stolberg-Stolberg, ein Geschlecht, so alt und vornehm, wie der liebe Gott kaum selber. Eine schier unendliche Reihe edler und großer Herren hat hier gesessen und — geherrscht.

Jeden Nachmittag, punkt zwei Uhr, fährt, solange es eine Geschichte gibt und eine Überlieferung unter den Menschen, der jeweilig Regierende mit seiner Gemahlin im offenen Wagen oder Schlitten, von zwei feurigen, schwarzen Rossen gezogen, den Berg herab durch die Stadt. Es geschieht dies einerseits der Gesundheit wegen, hauptsächlich aber, um die ehrfürchtigen Begrüßungen der oben geschilderten „Unterthanen“ erwidern zu können und das freundliche Verhältnis zu diesen dadurch aufrecht zu erhalten. Ganz erstaunlich ist es und nahezu unglaublich, wie vornehm die Grafen von Stolberg-Stolberg sind! Und wie vornehm sie zu allen Zeiten gedacht und gefühlt haben. Man erzählt sich davon viele und herrliche Beispiele. Waren sie doch beispielsweise die einzigen unter dem hohen Adel Deutschlands, die damals, als der streberhafte „regierende Graf von Habsburg“, der nachmalige König Rudolph, sich so weit vergessen hatte, einen ganz gewöhnlichen Priester auf sein Pferd zu setzen — eine Begebenheit, die durch Friedrich von Schiller dann in weitere demokratische Kreise getragen wurde — den Mut besaßen, mit jenem wegen dieser unerhörten Taktlosigkeit jeden offiziellen Verkehr abzubrechen.

Ein Stolberg-Stolberg soll auch zur Zeit der Bauernkriege, als sich eines Tages, kurz vor zwei Uhr Nachmittags, ein wütender, blutdürstiger Haufe hungernder Bauern zum Schlosse gewälzt hatte, ruhig das Fenster geöffnet, seinen Schnurrbart gedreht und ihnen erklärt haben, dass es ein für allemal nicht zu seinen Gewohnheiten gehöre, mit Leuten ihres Standes persönlich zu verhandeln; außerdem müsse er gleich spazieren fahren — worauf dann die Bauern natürlich tief beschämt und begossen wieder abzogen.

Der zur Zeit „regierende“ Graf heißt, wenn ich mich recht entsinne, Adolph XXIV. Denn — so unwahrscheinlich es klingt — auch in dieser erlauchten Familie gehen immer zwölf auf ein Dutzend, also vierundzwanzig auf zwei Dutzend.

Adolph XXIV. ist ein seelensguter alter Herr, wohltätig und sparsam, edel und milde. Er reiht
sich würdig den hehren Gestalten seiner Vorfahren an und ist in keiner Beziehung ein Neuerer. Seine Grundstimmung ist eine tiefe, aber harmonisch abgetönte Melancholie; er hat auch wahrlich Grund genug, sich über die Zeit, in der zu leben er gezwungen ist, zu beklagen. Zwar hat er selber ja das Schreckliche nicht mehr erlebt, nämlich dass die durch Gottes Gnade seinem Stamme verliehene Souveränität diesem im Verlaufe schnöder, profaner Zeitereignisse plötzlich abhanden kam; er hat es selber nicht erlebt, aber er hat den ganzen ungeheuren Schmerz über dieses unerforschlichfurchtbartiefgeheimnisvolle Geschehnis gleichsam vererbt bekommen. Wie versteinert liegt auf seinen offenen, sanften Zügen die erstaunte Frage: wie ist es möglich, dass Stolberg-Stolberg nicht mehr mitgezählt wird unter den deutschen Staaten — Wie ist es möglich, dass ich, Adolph XXIV., nicht mehr mitgelernt werde von den deutschen Schulbuben — wie ist es möglich? Sein hochseliger Vater, dessen Namen und Nummer ich vergessen habe, war wenigstens im Anfang seiner Regierung noch mitgelernt worden: später, als er mediatisiert war, pflegte er sich dann mit dem Gedanken zu trösten, dass ihn wenigstens die gute, die alte Generation noch — auf der Schule „gehabt“ habe.

Auch Adolph XXIV. sucht sich in seiner Weise zu trösten. Er macht das so. Wo er auch immer in der Umgebung seines Schlosses einen Pfahl oder aufrecht stehenden Balken findet, der zu irgend welchen Verkehrszwecken dient — zum Beispiel eine Tafel zu tragen, auf der geschrieben steht: „Verbotener, herrschaftlicher Weg.“ — da lässt er ihn flugs mit den „Landesfarben“ — gelb und schwarz — bemalen!

Das ist doch immer etwas, und der Preussische Staat in seiner bekannten liebenswürdigen Jovialität lässt sich das ruhig lächelnd gefallen und gönnt dem guten Adolph dies „landesherrliche“ Vergnügen.

Die Salamander sind in der Grafschaft Stolberg-Stolberg ebenfalls gelb und schwarz, doch ist es eine böswillige Verleumdung, wenn erzählt wird, der Graf ließe auch sie anstreichen. Vielmehr tut man gut, diesen Umstand einfach auf eine besonders devote Gesinnung der fraglichen Bestien zurückzuführen. - -

Mit mir ist Adolph böse. Und im Grunde kann ich es ihm nicht verdenken. Ich war nämlich, solange die Welt steht, der erste Referendar, der nach Stolberg kam und ihm keinen Besuch machte. Das heißt, Pardon: Besuch . . es handelte sich eben nicht um einen Besuch, sondern um eine Audienz, um die man schriftlich einkommen musste. Man wurde dann auf eine bestimmte Stunde befohlen, und nachdem man diese bestimmte Stunde lang im Frack gewartet hatte, wurde einem durch eine gelbschwarze Hofschranze mitgeteilt, dass Illustrissimus von den heutigen Audienzen schon zu ermüdet sei und . . nun ja: man möchte ein andermal wiederkommen.

Solche Vergnügungen haben für mich nun immer verflucht wenig Reiz gehabt, und ich verzichtete daher leichten Herzens darauf. Die Folge war, dass man alsbald bei Hofe von mir als von einem revolutionären Verbrecher sprach und die Frage in ernstliche Erwägung zog, ob man nicht durch eine diplomatische Intervention beim Königlichen Hofe zu Berlin die gestörte Ordnung wieder herstellen, beziehungsweise Genugtuung fordern solle. Man kam jedoch von diesem Gedanken wieder ab, weil man sich überlegte, dass die Hohenzollern doch noch ein zu junges Geschlecht seien, als dass man sich mit ihnen in einen standesgemäßen Connex setzen könnte.

Statt dessen wusste man es durchzusetzen, dass die „guten“ Stolberger Familien mich nach und nach boykottierten, das heißt, auf meinen Besuch hin nicht mehr einluden. Wer mich kennt, wird nun denken, hierauf hätte ich es eigentlich abgesehen gehabt, aber ich kann auf Ehrenwort versichern, dass ich auf eine solche Wirkung ursprünglich nicht zu hoffen gewagt hatte, sondern sie später als reine, unverdiente Gnade empfand.

Aber was red' ich denn so viel von Stolberg-Stolberg; ich will ja eine Geschichte erzählen, die Geschichte vom gastfreien Pastor.




Der einzige Freund, den ich in Stolberg zurückgelassen habe und mit dem ich jetzt noch hin und wieder fröhliche Karten wechsele, ist merkwürdigerweise der Hotelbesitzer und Weinhändler Eberhard. Bei ihm, in dem alten Gastzimmer, fand ich bald die Gemütlichkeit, um die mich die „Gesellschaft“ Stolbergs durch Verschließung ihrer „Häuslichkeit“ zu bringen den Versuch am untauglichen Objekte gemacht hatte.

Es war etwas Besonderes, dieses alte Gastzimmer. Es hatte seine verborgenen Tiefen und gefährlichen Heimlichkeiten wie ein Buch von Friedrich Nietzsche. Da ging es plötzlich ein paar Stufen in die Höhe, dann wieder unvermutet um die Ecke, und auf einmal stand man staunend vor einem niedrigen, breiten Block oder Kasten, der in seiner geheimnisvollen Einfachheit alles begriffsmäßige Denken zu suspendieren drohte. Man atmete erleichtert auf, wenn einem Eberhard nach Aufheben eines ungeheuren Deckels den Einblick in ein friedliches Lager von Rotspohn und Zigarren gewährte.

Den Mittelpunkt dieses alten romantischen Raumes bildete natürlich der Stammtisch der Honoratioren von Stolberg. Dieser Stammtisch, an dem sich die Hausväter der „guten“ Familien kaum sehen ließen, bildete gewissermaßen den Hort der geistigen Opposition gegen das regierende Grafenhaus. Da residierte und räsonnierte der alte Oberstabsarzt mit dem riesigen Rittmeister-Schnauzbart und gab mit seinem blutigen Witze, dem außer dem Weberschen Demokritos nichts heilig war, den Ton an. Dann war da der Amtsanwalt, der sich seine Weltanschauung aus Johannes Scherr gebildet hatte, dabei aber äußerlich ein korrekter, förmlicher Beamter geblieben war, der immer recht hatte. Er besaß eine große natürliche Beredsamkeit, und da er außerdem ein guter und gescheiter Mensch war, so verkehrte ich mit ihm trotz mancher wunderlichen Schrulle, die ihm eigen war, am allerliebsten. Er war nicht in dem Thal geboren, sondern viel herumgekommen, und besaß eine Freude an Paradoxen, die durchaus nicht kleinstädtisch war, durch die er sich vielmehr in den Ruf einer dämonischen Natur gebracht hatte.

Der Oberstabsarzt, der Amtsanwalt und ich hatten uns bald gefunden und bildeten demnächst stillschweigend einen engeren Ring und den eigentlichen Stamm des Stammtisches. Wir verstanden einander alsbald schon durch Blicke und rächten uns für unseren Zwangsaufenthalt in diesem Wust von Rittertum und Pfäfferei, wie wir das fromme Stolberg ein für allemal getauft hatten, durch manches feinere oder gröbere Possenspiel, in dem wir die Rollen mit eingeborenen Stolbergern besetzten.

Unserer ganz besonderen Beachtung erfreute sich der junge Pastor Viemeyer, der dritte Geistliche am Ort. Er war der Sohn des Stolberger Materialwarenhändlers Viemeyer und vereinigte in sich so ziemlich alle glänzenden Eigenschaften des Stolberger Nationalcharakters. Seit einigen Jahren war er verheiratet und bewohnte den zweiten Stock seines geräumigen Elternhauses; parterre war der Laden, und eine Treppe hoch wohnten die Alten.

Eines Abends im Hochsommer war das Eberhardsche Gastzimmer überfüllt. Es waren viele Fremde in Stolberg, und so herrschte ein ungewohntes Leben. Der Oberstabsarzt und der Amtsanwalt spielten mit dem Pastor Viemeyer Skat um die Zehntelpfennige. (Höher spielt kein Stolberger.) Ich saß bei einer Flasche Moselwein in dem großen Ledersessel und sah zu. Der Pastor war schlechter Laune, er hatte schon gegen dreißig Pfennige verloren.

Da schlug es Neun, und alsobald fuhr regelmäßig wie jeden Abend die Post vor. Alle Stolberger stürzten nach uralter Sitte an die Fenster. Pastor Viemeyer gab mir schnell seine Karten, und es gelang mir, in der Eile einen Null-ouvert für ihn zu verlieren.

Der Post entstiegen zwei Damen, die jetzt unter Eberhards Führung in das dichtbesetzte Gastzimmer traten, eine ältere und eine junge — wie es schien, Mutter und Tochter. Eberhard wusste einen Platz für sie ausfindig zu machen, und sie bestellten sich das Abendessen.

Die jüngere Dame war eine pikante Erscheinung: sehr schlank, fast mager mit vollem, üppigem, blassrotem Haar, ein paar dunklen, wie versteckten Augen und frischen, starken Lippen. Ein eigentümlicher Reiz ging von ihr aus . .

Die ältere Dame war sehr dick und behäbig. Ihre lebendigen Augen blickten freundlich und liebenswürdig allen Menschen ins Gesicht. Beide waren mit großstädtischer Eleganz gekleidet.

Während ich mir sie in aller Ruhe besah und mich zugleich an der Neugier aller andern erfreute, verlor der Pastor ein Spiel nach dem andern. Denn das war zu viel für ihn: diese beiden Damen, die so plötzlich da hereingekommen waren, und über die man doch nun nachdenken musste, und dabei Skat spielen — nein! Das war zu viel für ihn.

— Vergeben Sie so viel Sünden, wie Sie Lust haben, Herr Pastor, aber hier die Karten nicht! — schnauzte der Oberstabsarzt und warf die Karten auf den Tisch.

Jetzt fragten die Damen Eberhard nach einem Zimmer. Der aber zuckte in größter Höflichkeit die Achseln, bedauerte unendlich und versicherte, dass er für diese Nacht schon alles, alles vergeben habe, sogar das Billard, auf dem zwei Touristen aus Sondershausen schlafen würden.

— Aber was machen wir denn da?

— O, Sie werden schon noch unterkommen, gnädige Frau. Ich werde Ihnen nachher Friedrich mitgeben; der wird Sie in eins der andern Gasthäuser bringen; irgendwo wird wohl noch Platz sein. —

Als die beiden Damen mit Essen fertig waren, gingen sie mit Friedrich.

Kaum waren sie draußen, sagte ich:

— Herr Pastor, ich begreife Sie nicht, —

— Wieso? —

Ich hatte einen Blick mit dem Amtsanwalt gewechselt. Er hatte mich verstanden, und indem er seine Karten musterte, sagte er:

— Ja, ich muss auch sagen, Herr Pastor, manchmal sind Sie mir ganz unverständlich.

— Aber was denn?

Der Oberstabsarzt hatte die Situation überschaut. Er drehte seinen Riesenschnauzbart und meinte:

— Ja, unser Pastor ist eine Sphinx.

— Aber meine Herren, was wollen Sie denn? —

Nun kam ich wieder dran:

— Ja, mein lieber Herr Pastor, wenn Sie das nicht fühlen . . .

Dann der Amtsanwalt, der den Faust gern zitierte:

— Wenn Ihr's nicht fühlt: Ihr werdet's nie erjagen!

Und schließlich wieder der Oberstabsarzt :

— Schad't nichts, Herr Pastor: wenn's Herz nur gut ist, Hauptsache ist, dass 's Kind Luft hat. —

— Nämlich — sagte ich — Sie haben sich da eine der herrlichsten Gelegenheiten entgehen lassen, der Außenwelt zu erweisen, was die Stolberger für weltmännische und liebenswürdige Menschen sind. In Ihres Vaters Hause sind viele Wohnungen: wie Sie hörten, dass Eberhard für die Damen kein Zimmer mehr hatte, mussten Sie als Stolberger Patriziersohn aufstehen, sich den Damen vorstellen und sie bitten, gütigst bei Ihnen absteigen zu wollen; sehen Sie, das mussten Sie thun. Gastfrei, Herr Pastor! Immer hübsch gastfrei!

— Ja, ja, — fügte der Amtsanwalt hinzu, — schon die Alten schätzten die Gastfreundschaft für eine Tugend. Aber freilich: das waren Heiden.

— Jawohl, — knurrte der Oberstabsarzt, — liebe deinen Nächsten, aber halte ihn dir vom Leibe. —

— Also, Sie meinen wirklich, meine Herren . . .

— Reden wir nicht mehr davon, die Sache ist erledigt. Jetzt werden die Damen schon in irgend 'ner Winkelherberge untergekrochen sein — sagte der Amtsanwalt und fügte in gleichgültigem Tone hinzu: — Es tut mir nur leid um die schöne Notiz, die ich an den „Hannoverschen Courier“ hätte senden können: Unser Städtchen erfreut sich in diesem Sommer einer ganz besonderen Beliebtheit beim verehrlichen Reisepublikum. Der Zudrang ist augenblicklich ein so großer, dass er nur durch die selbstlose Opferwilligkeit unserer privaten Mitbürger, an ihrer Spitze der Herr Pastor Viemeyer . . . Schade, wirklich schade . . . Übrigens: Tourne. —

Man spielte weiter. Der Pastor war tief niedergeschlagen.

Nach Verlauf einer halben Stunde kamen die Damen jammernd zurück. Friedrich berichtete, dass alles besetzt sei — auch alle Billards, fügte er gewissenhaft hinzu. Eberhard war ratlos, die jüngere Dame dem Weinen nah.

Aber nun kam unser Pastor, Wie die Damen wieder erschienen, hatten wir ihn nur stumm und mahnend angesehen. Er stand auf.

— Gestatten Sie . . mein Name ist Viemeyer. —

Erstaunt blickten die beiden Damen auf und — lächelten. Die Viemeyerschen Verbeugungen waren berühmt.

Er erklärte ihnen nun, dass er Seelsorger sei. — Auch bin ich verheiratet und wohne im Hause meiner Eltern, gleich hier links an der Ecke. — Schließlich lud er sie dann höflichst ein, vorlieb nehmen zu wollen u. s. w., mit einem ganzen Schwall kleinbürgerlicher Redensarten.

Es entstand eine atemlose Stille. Das ganze Gastzimmer hatte schweigend die Scene verfolgt, die guten Stolberger sahen mit Stolz auf ihren jungen Pastor und bewunderten seine weltmännische Kühnheit.

Als er geendet, sahen die beiden Damen sich an, lächelten noch einmal flüchtig, und dann nahm die Ältere von ihnen die Einladung mit würdevollen Worten an.

Ganz glücklich, triumphierenden Blickes, zog der Pastor mit ihnen ab. —

Wir drei aber knobelten — nachdem sich der Schwärm verlaufen hatte — zur Feier eines solchen Tages noch drei Flaschen Sekt aus. Ich fing sie alle drei.

Den Damen schien es im Hause des gastfreien Pastors ganz gut zu gefallen, sie blieben ziemlich acht Tage da. —

Am Tage vor ihrer Abreise traf ich sie zufällig auf einem Spaziergange; er mit der alten Dame voran, seine Frau und das junge Mädchen vergnügt hinterher. Ich grüßte achtungsvoll, ging aber schnell vorüber, denn ich verspürte einen plötzlichen, unmotivierten Drang, zu lachen. —

Solange die Fremden bei ihm wohnten, ließ sich der Pastor am Stammtisch nicht sehen. An dem Abend, wo sie abgereist waren, kam er.

Er war ganz voll von ihnen und erzählte eifrig drauf los. Die alte Dame — übrigens war sie noch gar nicht so alt, höchstens 50 — war die Witwe eines Oberförsters, die nach dem Tode ihres Mannes nach Magdeburg gezogen war und dort ein Mädchenpensionat eröffnet hatte, das nun schon zwanzig Jahre bestand und sehr gut ging. Das junge Mädchen, eine Gutsbesitzerstochter aus der Umgegend von Magdeburg, war bei ihr in Pension. Ach, und beides wären so reizend liebenswürdige Damen, wirklich, sie hätten eine entzückende Woche verlebt. Er war ganz begeistert.




— Sehen Sie, meine Herren — rief er aus — ich bin ja gewiss ein guter Stolberger und liebe mein schönes Vaterland wie einer, aber ich muss doch sagen: hin und wieder ist so ein Hauch von außen riesig erfrischend. Sie können sich zum Beispiel gar nicht vorstellen, wie bildend der Umgang mit den Damen speziell auf meine liebe Frau gewirkt hat, die ja noch nie aus Stolberg herausgekommen ist.

— Und außerdem hat die Sache für mich noch einen sehr praktischen Erfolg gehabt. Nämlich beim Abschied hat uns die Frau Oberförster eingeladen, falls wir jemals nach Magdeburg kämen, doch ja bei ihnen abzusteigen; sie bewohnten ein ganzes Haus für sich, 3 Etagen . . und wären immer auf Besuch eingerichtet. Wie sie das sagte, hielt ich es bloß für eine liebenswürdige Höflichkeit, denn wie sollten wir jemals aus unserm schönen Stolberg herauskommen? Nachher ist mir erst eingefallen, dass ja im nächsten Monat die Provinzialversammlung des Vereins für innere Mission in Magdeburg tagt. Ich hatte zwar eigentlich nicht die Absicht, hinzufahren, denn so was kostet immer schrecklich viel Geld — aber unter diesen Umständen — selbstverständlich fahr' ich hin! Nicht wahr, meine Herren, das würden Sie doch auch thun? —

Wir drei hatten uns längst angesehen und verständigt.

— Aber sicher! — sagte der Oberstabsarzt.

— Ich führe sofort! — behauptete der Amtsanwalt,

— Und Sie, Herr Referendar? —

— Ich? — Wenn ich nicht preußischer Beamter wäre, würd' ich mich überhaupt in der Pension fest anstellen lassen. Als Syndicus oder so.

Pastor Viemeyer lachte:

— Ach, Sie Schäker — nicht wahr? Die Kleine war nett? Wissen Sie, wie sie in der Pension genannt wird ? — Lilith! —

— Na also. —

— Wir lachten alle, und der Abend schloss wiederum in Fröhlichkeit




Wenn ein Stolberger Pastor nach Magdeburg fährt, so ist das ungefähr eine Begebenheit, als wenn unsereins Venezuela besucht. Schon vierzehn Tage vor dem Beginn der Provinzialversammlung des Vereins für innere Mission unterhielt uns Pastor Viemeyer von nichts anderem als von seinen Vorbereitungen zur Reise. Das erste, was er sagte, wenn er abends an den Stammtisch trat, war etwa: — Wissen Sie, ich hab' es mir überlegt: ich werde doch keinen Koffer nehmen, sondern meine große gestickte Reisetasche von meiner Mutter; wissen Sie, es ist so'n Adler drauf, d. h. eigentlich ist es kein Adler . . es sieht mehr so aus wie eine Wildsau ... —

Wir kannten die Tasche.

Mit ihr bestieg er denn auch schließlich eines schönen Tages die Postkutsche und fuhr nach Nordhausen. Jetzt kann man schon von Rottleberode an mit der Bahn fahren.

Schon nach drei Tagen war er wieder da. Bleich und verstört trat er an den Stammtisch. Er setzte sich still in eine Ecke und gab auf alle Fragen nur kurze, ausweichende Antworten. Dabei trank er ziemlich schnell einen Schoppen nach dem andern und zwischendurch, was sonst gar nicht seine Art war, mehrere Schnäpse. Doornkat.

Schließlich, ziemlich spät in der Nacht, als alle andern gegangen und wir drei Säulen des Stammtisches mit ihm allein waren, fasste er sich ein Herz und erzählte:

— Ach, meine Herren! Wir Stolberger sollten wirklich unsre schöne Vaterstadt nicht verlassen. Ich bin nun kaum hinausgekommen, und schon ist ein fürchterliches Unglück über mich hereingebrochen. Und was das Schlimmste ist, ich verstehe es gar nicht . . ich kann es mir nicht erklären . . ich weiß gar nicht, was mir eigentlich passiert ist. Also bitte hören Sie mich an: ich werde ganz ruhig erzählen. Bevor ich fortfuhr, hatte ich zwei Tage früher einen Brief an die Frau Oberförster geschrieben, dass ich dann und dann ankäme. So fand ich denn alles zu meinem Empfange bereit. Es war nachmittags so gegen fünf Uhr, als ich ankam. In einem Salon, eine Treppe hoch, fand ich das ganze Pensionat beim Kaffee versammelt. Ich wurde wie ein alter Freund begrüßt, mit einer ungenierten Herzlichkeit . . wirklich sehr nett. Überhaupt herrschte in der Pension, wie ich gleich von Anfang an bemerkte, ein viel freierer und ungenierterer Ton, als wir ihn hier gewohnt sind. Hier bei meinem Amtsbruder Pfitzner zum Beispiel geht alles unendlich viel steifer zu. Da merkt man eben die Großstadt. — Also ich musste nun mit ihnen Kaffee trinken. Die jungen Mädchen, es waren so gegen zehn, alle sehr hübsch und riesig geschmackvoll angezogen . . allerdings: unsere Damen würden da nun wieder als Prüderie manches auszusetzen gehabt haben . . na, Sie wissen ja, wie das ist. — Wir amüsierten uns sehr gut; ich plauderte, erzählte ihnen von Stolberg, und die Mädchen lachten darüber in einem fort, ich habe noch nie so viel lachen gehört.

Schließlich kam Besuch. Sie meinten alle, das wäre nichts für mich, und ich war auch wirklich zu abgespannt von der Sache. Lilith führte mich eine Treppe höher in ein kleineres Zimmer, wo ich dann zu Abend ass. Die Zimmer waren übrigens alle riesig gemütlich und anheimelnd. Nur standen überall Betten. Daran merkte man, dass man in einer Pension war.

Die Frau Oberförster sah ich den Abend nicht mehr, sie blieb unten bei ihrem Besuch . . ebenso die andern Mädchen. Nur Lilith leistete mir noch Gesellschaft, und da ich, wie gesagt, müde von der Reise war, brachte sie mich schon früh zu Bett — noch eine Treppe höher. Sie sagte mir, dass sie in dem Zimmer nebenan schliefe, und wenn ich noch was brauchte, sollt' ich nur klopfen. —

Ich schlief wie ein Stein bis zum andern Morgen, wo ich wie gewöhnlich punkt sieben Uhr aufwachte. Da noch alles ganz still im Hause war, mocht ich nicht stören, sondern nahm aus meiner Reisetasche meine Patentpfeife, schraubte sie mir zusammen und rauchte. Und zwar — wie das hier jeder Mensch tut — indem ich mich ans offene Fenster setzte und die Pfeife zum Fenster hinaushängen ließ.

Es war ein wunderschöner Morgen. Ich träumte so recht behaglich und blies den Rauch in den Wind. —

Da auf einmal: wer biegt um die Ecke? Mein alter Freund und Studiengenosse Friedrich Spüleboom aus Halberstadt, mit dem ich vier Semester lang in Göttingen jeden Tag zusammen gegessen hatte. Ich wusste: er war inzwischen Pastor in der Nähe von Halberstadt geworden, aber wir hatten uns seit der Zeit nicht mehr gesehn.

Ich rufe also in der Freude meines Herzens herunter: „Spüleboom, Bruder, bist Du's denn wirklich?“

Was glauben Sie, meine Herren, was tut Spüleboom? Wie er mich sieht, starrt er mich erst einen Augenblick wie entsetzt, wie entgeistert an und dann — läuft er davon. Was sagen Sie?! Läuft wie ein Dieb, so schnell ihn seine Beine tragen! —

Wissen Sie: er war ja immer schon ein bisschen verrückt, schon auf der Universität — machte Gedichte und alles Mögliche, aber — dies könnt ich mir denn doch nicht erklären. Ich schimpfte laut vor mich hin.

Da fühle ich plötzlich eine weiche Hand auf meiner Schulter. Ich drehe mich um — war's Lilith.

Ich muss sagen, dass ich mich ordentlich genierte. Sie war noch nicht angezogen, ihr schönes rotes Haar war noch nicht gemacht, und sie lächelte mich so freundlich an . . .

Ich war verlegen und wusste nicht recht, was ich sagen sollte . .

Sie schloss zunächst die Fensterläden. Die Morgenluft war auch wirklich recht frisch. Dann fragte sie leise:

— Darf ich Ihnen den Kaffee hier in Ihr Zimmer bringen?

— Ja gewiss, sagt' ich, gern, wenn Sie so freundlich sein wollen . . .

— Und darf ich auch mit Ihnen trinken, Herr Pastor? —

Das gute Kind war so zutraulich . . wirklich reizend!

Na also: sie kam dann mit dem Kaffee wieder, und wir setzten uns zusammen aufs Sofa und tranken ihn. Auch sehr schöner Kuchen war da, von dem ich ziemlich viel aß — wie meinen die Herren? —

— Nichts, nichts, Herr Pastor. Also — : Sie aßen ziemlich viel Kuchen? —

— Ja, na und dann war die Stunde herangekommen, wo ich in die Versammlung musste. Und nun kommt das Unglaubliche: der erste, den ich erkenne, ist wiederum mein alter Freund Fritz Spüleboom. Wie ich aber auf ihn zugehen will, zieht er sich schleunigst zurück in das Gedränge der andern. Und nun dauert es gar nicht lange, da bemerk' ich, wie mich bald der eine, bald der andere so scheu und finster von der Seite ansieht . . Und wenn ich einen anrede, antwortet er nicht, sondern tut, als wenn er nichts gehört hätte, und wendet mir in auffälliger Weise den Rücken . . . Ganz scheußliche Situation! Ich besehe mich von oben bis unten, ob ich was an mir habe . . ich prüfe meine Stiefelsohlen . . spüre nichts, absolut nichts.

Die Verhandlungen nehmen ihren Verlauf. Obgleich ich mich für den Verein für innere Mission stets lebhaft interessiert habe, höre ich nur mit halbem Ohr zu, denn ich bin viel zu sehr mit mir selber beschäftigt. Als dann endlich die Sache zu Ende ist, und ich gehen will, werde ich zum Präsidenten des Landeskonsistoriums gerufen.

Ich komme hin: „Herr Pastor Viemeyerl Es scheint mir doch, dass Ihnen eine würdige Auffassung der ernsten Aufgaben des Vereins für innere Mission abgeht. Ich will keine langen Worte machen. Die Sache widert mich an. Was zuviel ist, ist zuviel. Einstweilen werden Sie sich unverzüglich nach Stolberg zurückbegeben. Dort werden Sie das Weitere von mir hören.“ Damit dreht' er sich um und ging . . . ließ mich stehen.

Und nun frag' Ich Sie, meine Herren! Beschwöre Sie: sagen Sie mir, ich bitte Sie: was kann das sein? Was kann dem zu Grunde liegen? Dass man sich am frühen Morgen mit der langen Pfeife zum Fenster hinauslegt, du lieber Gott, das mag ja kleinstädtisch sein, meinetwegen auch ungehörig, wenigstens für einen Geistlichen. Aber unmöglich kann das doch ein solches Verbrechen sein . . . Wie? —

Wir verharrten nach Schluss dieser Rede eine Zeit lang in tiefem Schweigen. Die Situation war doch precär geworden . . .

Schließlich ergriff der Oberstabsarzt das Wort:

— Sagen Sie, Herr Pastor, haben Sie die Sache mit der . . der Frau Oberförster besprochen? —

— O doch, gewiss! Die gute Frau war ganz unglücklich, ganz unglücklich, — sie hat sogar geweint. —

— So.

— Ja, und hat immer versucht, mich zu trösten. Und ganz zum Abschied sagte sie: Ich möchte mich nur beruhigen: sie würde die Sache schon ins Reine bringen. —

— Sie. — —

— Ja. — Sie war ganz erregt. Sie versprach mir, sie würde persönlich zu dem Herrn Präsidenten gehen. Sie würde ihm bezeugen, dass wir das hier alle so machen. Ich meine mit der Pfeife morgens. So zum Fenster hinaus. — Sie hätte Beziehungen zu dem Herrn Präsidenten. Sein Sohn, der Landrat, wäre öfter bei ihr gewesen, und ein Bruder von ihm, dem Präsidenten, hätte sogar mal ein Mädchen bei ihr gehabt. — Auch kenne sie eine ganze Anzahl von meinen Amtsbrüdern persönlich. Sie würd' es schon machen! — —

Wir atmeten erleichtert auf.

Nachdenklich sprach der Amtsanwalt:

— Wissen Sie, Herr Pastor, wie ich hiernach die Verhältnisse beurteile — Sie wissen: ich war früher Lazarettinspektor in Magdeburg und weiß also dort Bescheid — nach meiner Überzeugung können Sie hiernach — voll und ganz beruhigt sein. Wenn sich die Frau Oberförster bei ihren sicherlich sehr weitgehenden Verbindungen in dieser energischen Weise Ihrer annimmt — dann kann Ihnen nie und nimmer was geschehen. —

Ich pflichtete dem Amtsanwalt eifrig bei und fügte hinzu:

— Aber da sehen Sie's nun mal wieder, Herr Pastor: die eigentlichen Kleinstädter leben doch nur in der Großstadt. Denn sagen Sie selbst: gibt es etwas Kleinlicheres, als sich an eine solche Äußerlichkeit, wie dieses zum Fenster Hinausrauchen, zu stoßen?

— Nein, das muss ich auch sagen: das haben wir doch als Studenten in Göttingen ganz ruhig getan. —

— Ja Göttingen — rief der Oberstabsarzt — Göttingen ist eine Weltstadt im Vergleich mit Magdeburg!

Nun wurde es sehr fidel.

Wir tranken auf das Wohl des Vereins für innere Mission.

Der Pastor, von seinen Sorgen befreit, geriet schnell außer Rand und Band — wir mussten ihn von Friedrich in seines Vaters Haus geleiten lassen. —

Wir drei aber knobelten wiederum zur Feier des Tages drei Flaschen Sekt aus, und ich fing sie wiederum alle drei.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom gastfreien Pastor