Der Einhorn-Apotheker.

Die Tätigkeit eines Referendars ist schon deshalb eine der vornehmsten unter allen menschlichen Tätigkeiten, weil sie niemals durch Maschinen-Arbeit ersetzt und überflüssig gemacht werden kann. Während nämlich auf allen anderen Gebieten mit jeder neuen Erfindung eines geriebenen Mechanikers so und so viele „Hände“, welche doch nicht bloß arbeiten, sondern auch Lohn empfangen wollen, erspart werden, trotzt der Referendar mühelos allen Erfindern noch so guter und billiger Schreibmaschinen; denn wie billig eine solche auch sein mag: er ist noch billiger: er ist gratis. Darin besteht seine uneinnehmbare Stellung, darauf beruht seine Würde, das ist sein Rang,

So oft ich über den mir gewordenen Beruf nachdachte, um so sinnvoller erschien mir die Verknüpfung meines Schicksals. Was war seit meinen Kinderjahren mein Traum, meine Sehnsucht gewesen? Schreiben! Schreiben zu dürfen, womöglich ein richtiger Schriftsteller zu werden. Nun, das war mir im wesentlichen in Erfüllung gegangen. Schreiben durfte ich, schreiben konnte ich, schreiben musste ich sogar. Und wenn es einstweilen weniger meine eigenen Gedanken und Gestalten waren, die ich auf das Papier brachte, sondern meistens diktierte Protokolle, so musste Ich mich mit dem Gedanken trösten, dass nicht alles auf einmal kommen könne. Jedenfalls: das Sinnfältige, das Materielle meiner Wünsche hatte ich erreicht: Ich schrieb.


Und das in Stolberg. Länger als neun Monate habe ich in diesem süßen Erdenwinkel dem preußischen Staate meine bescheidenen, aber unbezahlbaren Dienste leisten dürfen. Ist es da ein Wunder, dass mir das Städtchen ans Herz gewachsen ist, und dass meine Gedanken oft und mit Vergnügen zu jenem Referendariats-Idyll zurückkehren?

Aber auch die lieben Menschen, die dort wohnen — es sei ferne von mir, dass ich ihnen etwas Boshaftes oder Unrechtes nachrede. Vor allem muss ich zu ihrer Ehre und um sie vor Zweideutigkeit zu schützen , rühmend hervorheben, dass sie, wenigstens soweit sie der „besseren“ Gesellschaft angehörten, sehr bald, nachdem sie mich kennen gelernt hatten, den offiziellen Verkehr mit mir abbrachen — es kann auf sie auch nicht der Schatten eines Verdachtes fallen, als ob sie jemals mit mir sympathisiert hätten.

Ich glaubte diese Erklärung dem Rufe jener ehrlichen Leute schuldig zu sein und will nun auch erzählen, was den ersten Anlass dazu gab, dass ich es mit ihnen verdarb.

Der Konsistorialrat Pfitzner, der ältere Amtsbruder des gastfreien Pastors Viemeyer, hatte auch ein Mädchenpensionat. Jedoch war dieses von anderer Art als jenes der Frau Oberförster in Magdeburg: der Unterschied war sogar dem Pastor Viemeyer aufgefallen, der sich dahin äußerte, dass ihm die Mädchen in Magdeburg ,,wesentlich geweckter“ vorgekommen wären.

Zu den erlaubten Ausschweifungen dieses Mädchenpensionats gehörte das herzerquickliche Ringestechen oder Reifefangen. Es geschah dies aber also. Man verteilte sich auf einer Wiese in zwei Gruppen, und jeder nahm ein kleines Rohrstöckchen in die Hand. Mittels dieser Rohrstöckchen suchte man dann kleine Reifen, welche ebenfalls von dünnem Rohre gefügt waren, teils einander zuzuwerfen, teils sie aufzufangen. Wenn man nämlich einen in hohem Bogen auf einen zufliegenden Reif kunstgerecht aufgefangen hatte, empfand man eine sanfte Genugtuung; wenn es misslang, hatte man das Gefühl eines leichten Ärgers, und im ganzen war es eine sehr gesunde Bewegung.

Die jüngeren Herren vom Gericht wurden zu diesen Vergnügungen mit Vorliebe kommandiert; sie standen in dem Rufe einer besonderen Begabung für jenes sinnige Spiel, was der geistreiche Assessor Rothe in das schöne Wort fasste: Ein richtiger Jurist trifft nicht bloß stets ins Schwarze, er weiß auch ins Weiße zu treffen. Mit dem Weißen meinte er aber den leeren Raum innerhalb der Rohrreifchen. Dieser Scherz wurde häufig wiederholt.

An der wundervollen Chaussee, die von Stolberg nach Rottleberode aus dem Harz hinausführt, liegt, etwa eine halbe Stunde von Stolberg entfernt, ein einsames Wirtshaus, hart an der Felsenwand, in die der Wirt seine Keller geschlagen hat. Dem Wirtshaus gegenüber, an der anderen Seite der Chaussee, breiten sich einige Waldwiesen aus, und diese waren zur Sommerzeit häufig der Schauplatz der erwähnten kindlichen Spiele.

An einem herrlichen Juni -Tage hatte dort bis zur sinkenden Sonne der Kampf getobt, und man schickte sich schließlich einträchtiglich zum Heimgange an. Hierbei geschah es, dass ich mit Fräulein Hannchen aus Bremen und dem Einhorn-Apotheker zusammengeriet und mit diesen beiden trefflichen Menschenkindern vereint die Strasse fürbass schritt.

Fräulein Hannchen war, wie gesagt, aus Bremen, und das war wohl das Charakteristischste an ihr. Im übrigen war sie jenes junge Mädchen, das schon so unzähligen Komödienschreibern den Vorwurf schablonenhafter Mache eingetragen hat, weil — ein jeder von ihnen — mit heißem Bemühen, danach gestrebt hatte, es möglichst echt und naturgetreu wiederzugeben.

Sie hatte einen blonden Mozart-Zopf, hellgraue Augen und einen gewissen schwärmerischen Zug im Schnitt ihrer Taille. Ihre Rede war Ja, Ja und Nein, Nein, was darüber war, war meistens vom Übel. Sehr häufig sagte sie jedoch auch Ach.

Wesentlich interessanter und contourenreicher war da schon der Einhorn-Apotheker. Er hatte vor allem eine „Weltanschauung“, auf deren Besitz er viel Wert legte. Worin diese bestand, kann ich jedoch nicht mit wünschenswerter Klarheit angeben, da er meist erst in vorgerückter Nachtstunde darauf zu sprechen kam. Ich erinnere mich nur, dass er durchaus auf dem Boden des kategorischen Imperativs unseres großen Kant stand: „durchaus“.

Auch sonst war er ein ernster Mensch und für ein durchschnittliches Alltagsgespräch schwer zugänglich. So kam es denn auch, dass er jetzt schweigsam neben Fräulein Hannchen aus Bremen einherging, und es mir überließ, das liebe, junge Mädchen zu unterhalten.

— Ach sagen Sie doch, Herr Referendar: was sind das eigentlich für merkwürdige Bäume, die hier überall an den Chausseen wachsen? —

Die Bäume, die sie meinte, waren ganz gewöhnliche Buchen, die jedoch der herrschaftliche Geschmack der regierenden Grafen von Stolberg-Stolberg zu allerlei stereometrischen Figuren, Pyramiden, Kegeln, Zylindern und dergleichen hatte zustutzen lassen.

Fräulein Hannchen aus Bremen hatte sich wohl dadurch irreführen lassen und sah die Bäume für fremdartige Gewächse an, nach deren Herkunft sie sich bei mir erkundigte. Da ich meine Mitmenschen nur ungern in ihren Illusionen störe, erwiderte ich nach einigem Nachsinnen und nachdem ich einige botanische Forscherblicke um mich geworfen hatte:

— Ja, wissen Sie denn das noch nicht, mein gnädiges Fräulein? Diese Bäume sind ja eine der größten Merkwürdigkeiten des Stolbergschen Vaterlandes. Sie haben doch gewiss schon davon gehört, dass einer von den erlauchten Vorfahren unseres Herren Grafen einen Kreuzzug mitgemacht hat.

— Ach! — rief Fräulein Hannchen, — welchen denn? —

Ich geriet in Verlegenheit. Um mir jedoch keine Blöße zu geben, sagte ich rasch:

— Den Kinder-Kreuzzug. —

— Ach! — rief das wissensdurstige Fräulein Hannchen, — wozu wurde der denn eigentlich unternommen? —

— Nun . . also . . hm . . zur Befreiung der Juden. Jawohl. — Adolf war damals noch recht klein. Er hieß nämlich auch Adolf — der Vorfahr. Wie Sie wissen, ging es mit dem Kinder-Kreuzzug damals ziemlich schief: auch der kleine Adolf wäre beinah umgekommen. Seine Beinchen taten ihm so weh, dass er schließlich mitten im gelobten Lande liegen blieb und gar nicht mehr weiter wollte. Wenn er aber da so allein zurückgeblieben wäre, hätten ihn ganz sicher die wilden Tiere gefressen. Da erschien ihm der heilige Georg wissen Sie, gnädiges Fräulein, so erzählt es die Legende. Tatsächlich wird es wohl irgend ein älterer, wohlwollender Herr gewesen sein. Der sprach: Komm, kleiner Adolf, hebe deine Batterbeinchen auf und lauf noch ein Endchen mit, bis wir ans Meer kommen. Aber der kleine Adolf war verzagt und weinte und sagte: Nein, hier muss ich bleiben und sterben. Da riss der heilige Georg, oder wer es nun war, ein ganz dürres Reis aus dem Boden, reichte es dem kleinen Adolf und sprach: Du wirst nicht eher sterben, als bis Du dies Reis in den Boden Deiner Heimat eingegraben und daraus einen stattlichen Baum hast erstehen sehn.

— Ach, wie nett! —

Ja: dieser heilige Georg der Legende muss zum mindesten ein guter Menschenkenner gewesen sein, denn der kleine Adolf fasste krampfhaft nach dem dürren Reis und stapfte wieder mutig weiter. Er ist denn auch glücklich wieder nach Stolberg heimgekommen. Das erste, was er tat, war natürlich, dass er das Wunderreis einpflanzte — und siehe da, es wurde ein seltsamlich geformtes Bäumchen, dergleichen man vordem niemals dahier gesehen. Und von dem ersten Bäumchen stammen alle ab, die Sie hier — und nur hier so häufig sehn. Es wundert mich wirklich, dass Ihnen der Herr Konsistorialrat diese Geschichte von den Bäumen aus Judäa noch nicht erzählt hat. —

— Ach der — was Hübsches erzählt der einem ja nie. —

Der Einhorn Apotheker hatte unser Gespräch schweigend mit angehört, und obwohl er doch in botanischen Dingen erfahrener sein musste, als ich, nahm er keine Gelegenheit, sich einzumengen, sondern sah ernsthaft vor sich hin.

Als wir uns später von den Damen und der übrigen Gesellschaft vor der Tür des Herrn Konsistorialrats verabschiedet hatten und in Eberhards gemütlichem Gastzimmer beim Weine saßen, sagte er:

— Nun sagen Sie mir mal offen, glauben Sie an die Geschichte, die Sie dem Fräulein Hannchen vorhin erzählt haben?

— Aber lieber Herr Constantin: was denken Sie von mir: sie ist mir beim Sprechen so eingefallen.

— Nun ja: das dacht' ich mir. Aber sehen Sie, das find' ich nun nicht recht von Ihnen. Das ist nämlich die ganz gemeine Buche, Fagus sylvatica.

— Aber lassen Sie mir doch meinen Spaß,

— Ja: Sie verwirren dieses junge Mädchen, das in seinen botanischen Kenntnissen offenbar noch nicht recht sicher ist . . .

Ich brach das Gespräch ab, und wir redeten bald über harmlose und neutrale Dinge . . . Monarchie, Religion, Ehe, Eigentum und dergleichen.

Zu derselben Zeit aber wollten es meine Sterne, dass die Familie des Konsistorialrats Pfitzner mit all ihren Pensionärinnen um den großen, runden Tisch beim Abendessen versammelt saß und dass Fräulein Hannchen aus Bremen ihr Mündchen auftat und fragte:

— Ist das wirklich wahr, Herr Konsistorialrat, der Herr Referendar hat mir erzählt, die beschnittenen Bäume an der Chaussee wären alle von jüdischer Abstammung? —

Das entsetzliche, qualvoll lange Schweigen, das nach dieser ungeschickten Frage eintrat, wurde erst unterbrochen, als der Herr Konsistorialrat wie allabendlich die Hände faltete und sprach:

— So lasst uns denn beten . . .




Damit war es mir geglückt, in den erfreulichen Ruf zu geraten, dass man mich nicht gut mit jungen Mädchen zusammen einladen könne, weil ich zu wenig Respekt vor ihrer Unschuld an den Tag lege. Und so kam es, dass man mich von Stund an von dem Ringelchen-Werfen dispensierte. Ein älterer Assessor, der das Grundbuchwesen bearbeitete, und von dem man bereits geglaubt hatte, absehen zu dürfen, wurde wieder hervorgesucht und musste an meiner Stelle auf der grünen Wiese hüpfen. Ich aber begann mich mehr und mehr für den seltsamen Einhorn-Apotheker zu interessieren. Seit jenem Abend musst ich ihn im Stillen stets mit jenen Bäumchen aus Judäa vergleichen, die so künstliche Contouren trugen und im Grunde doch gemeine Buchen waren.

Er war einige Jahre älter als Ich, etwa dreißig Jahre alt und von hoher stattlicher Figur. Er hatte einen dicken Kopf und ein volles Gesicht, das von einigen Schmissen verziert war. Große, runde, etwas blöde Augen, ein strammgezogener, starker Schnurrbart und ein Grübchen im Kinn machten ihn entschieden zu einer Männerschönheit. Sein dunkelblondes Haar trug er in der Mitte gescheitelt und fest anliegend. Er lachte fast nie, und seine große, breite Stirn zeigte eine starre, unbewegliche Glätte.

Er stammte aus einer wohlhabenden Familie aus Duisburg im Rheinland. Sein Vater, der auch eine Apotheke besaß und dessen Nachfolger Constantin eigentlich hatte werden sollen, hatte ihm die Einhorn-Apotheke zu Stolberg gekauft, da er sich selber noch rüstig fühlte, und da zwei Apotheken einträglicher sind denn eine.

Constantin war unverheiratet, ein spröder Junggeselle. So viel Mühe sich auch begreiflicher Weise alle Stolberger Familien, die mit ehebenötigten Töchtern behaftet waren, um ihn gaben, so uneinnehmbar und wacker hielt er aus. Selbst Müttern gegenüber, deren Wesen so lieblich war, dass man sich ordentlich danach sehnen musste, sie zu Schwiegermüttern zu besitzen, wusste er seine Standhaftigkeit zu bewahren. Als ihm eine von diesen, die Frau Obersteuereinnehmer Stielchen, die immer stark nach Naphthalin roch, weil sie eine abergläubische Angst vor den Motten hatte, als ihm diese einmal eines Abends eine etwas breite, aber anschauliche Schilderung der häuslichen Tugenden ihres Clärchen entworfen hatte, erwiderte er schließlich mit ernster Bescheidenheit:

— Ja, ja . . . aber ich glaube, ich bin noch zu jung dazu. —

Diese in höchster Not und Enge gefundene, höchst mangelhafte Entschuldigung wurde natürlich von der entrüsteten Frau Obersteuereinnehmer weiter erzählt und wurde der Ausgangspunkt für eine ganze Reihe abenteuerlicher und ungerechter dunkler Gerüchte über den Einhorn-Apotheker.

Obgleich in Stolberg nicht der geringste Boden war für die Betätigungen einer unverheirateten Mannesseele, und es ihnen daher eigentlich gleichgültig sein konnte, hielten doch die Stolberger mit Entschiedenheit darauf, dass sich ihre Jünglinge im Besitze der allgemeinsten männlichen Fähigkeiten befanden: sie dachten darüber etwa wie mein philosophischer Freund, der Papa Heilmann, über die allgemeinen bürgerlichen Ehrenrechte, von denen er sagte: Ich mache zwar keinen Gebrauch davon, möchte sie aber doch nicht missen.

Die verletzten Eltern der verschmähten Töchter zögerten also nicht lange, den rätselhaften Einhorn-Apotheker in ihren frommen Conventikeln durch allerlei versteckte Andeutungen, durch Ausbrüche christlichen Bedauerns und dergleichen nach und nach um seine, wie soll ich sagen? — animalische Ehre zu bringen.

Eines schönen Abends kam der alte Oberstabsarzt aus so einer gottgefälligen Gesellschaft zu uns nach Eberhard an den Stammtisch, und nachdem er sich einige Male wichtig den Schnauzbart gedreht hatte, sagte er mit der ihm eigenen, gewinnenden Offenheit:

— Wissen Sie denn das Neueste, meine Herren? Unser Einhorn-Apotheker soll ja ein Castrat sein!

— Ach was!

Eberhard und ich lachten laut auf. Nicht so der Amtsanwalt, dessen Halsadern anschwollen. Zornrot rief er:

— Ich begreife nicht, wie Sie darüber lachen können, meine Herren. Beim heiligen Sebastian: es ist eine Gemeinheit! Nichts ist mehr sicher vor den Pfeilen des boshaften Klatsches dieses bornierten Kleinstadt-Gesindels! An das Heiligste tasten sie! Selbst an unsere Manneswürde wagen sie zu greifen, o pfui, pfui über sie!

Während wir noch lachten, trat der Einhorn-Apotheker selbst ins Zimmer. Er pflegte um 10 Uhr abends seine Apotheke zu schließen und sich dann zwar nicht jeden Abend, aber dreimal in der Woche zu Eberhard zu begeben.

— Guten Abend, meine Herren.

— Guten Abend ! — Wir schüttelten ihm mit besonderer Herzlichkeit die Hand, und es herrschte an diesem Abende von vornherein eine vorzügliche Stimmung. Wir beschäftigten uns fast ausschließlich und ungewöhnlich liebenswürdig mit ihm, dem böse Menschen hinterrücks so übel mitspielten.

— Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester — sagte plötzlich der Oberstabsarzt mit erhobener Stimme — wie steht es denn nun eigentlich mit Ihrem werten Liebesleben?

— Womit? — fragte der Einhorn-Apotheker ganz erschrocken.

— Mit Ihrem werten Liebesleben, wiederholte der Oberstabsarzt und kaute mit ingrimmigem Behagen an seiner Zigarre.

Constantin lächelte verduzt, und ich legte mich ins Mittel. Im Ton des Vorwurfs sagte ich:

— Aber Herr Oberstabsarzt, wo denken Sie hin! Meinen Sie denn, jeder junge Mann müsste eine so stürmische Jugend durchkosten, wie die ihrige war. Nein, Gott sei Dank. Noch gibt es deutsche Jünglinge, die da hübsch warten, bis die Reihe des Ehebetts an sie kommt.

Das half.

— Oho ! rief der Einhorn-Apotheker — halten Sie mich nicht für einen solchen Duckmäuser, Auch ich bin . . . hm . . .

Er wollte wohl sagen: in Arcadien geboren, aber es fiel ihm nicht ein. Auch unterbrach ihn der Oberstabsarzt mit der schmetternden Stimme des Triumphes:

— Recht so, junger Mann! Ich sehe: ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht. Also vorwärts! Legen Sie los. Enthüllen Sie uns die Mysterien Ihrer gährenden Leidenschaft. Wir sind maßlos gespannt. — Kellner!

Der Einhorn-Apotheker zögerte noch, so dass sich nun auch der Amtsanwalt veranlasst sah, einzugreifen:

— Mein lieber Herr! Vergönnen Sie, in Ihre tiefe Brust, wie in den Busen eines Freundes zu schauen. Zwar: sie thun recht, zu zögern. Ich kenne den hämischen Geist des Klatsches, der in diesem von Frömmigkeit durchseuchten Waldthal herrscht. Aber seien Sie unbesorgt. Hier sehen Sie drei ernsthafte Männer vor sich, alle drei verschwiegen wie . . . wie mein Privatkonto bei Eberhard. Uns können Sie sich anvertrauen.

Der bedrängte Constantin holte tief Atem und begann, anfangs etwas befangen, zu erzählen:

— Ja, also, meine Herren: es Ist eigentlich eine sehr einfache Geschichte und gar nicht interessant. Sie heißt Else.

— Constantin und Else — nicht übel — sagte der Oberstabsarzt und nickte befriedigt mit dem Kopfe. — Nicht übel.

— Wenn ich auch selber kein Instrument spiele — fuhr der Einhorn-Apotheker fort — so bin ich doch sehr musikalisch und höre furchtbar gern Musik. Als ich nun das letzte Mal in Berlin war, und eines Nachmittags gar nicht wusste, was ich anfangen sollte, auch gar keine Gesellschaft hatte, bloß so durch die Strassen bummle, hör ich auf einmal aus einem Lokal, das äußerlich nach gar nichts Besonderem aussah, Orchestermusik. Na nu, denk ich, wie Ist das möglich. Und da ich, wie gesagt, absolut nichts Besseres zu thun hatte, geh ich rein. Hm.

Er räusperte sich und trank. Wir tranken alle schwelgend mit. Es war ja sehr spannend. Er fuhr fort:

— Gott, es war ganz nett. Wirklich. Bloß das Podium war ein wenig recht klein. Nämlich die Musik wurde von einer Damen-Kapelle gemacht. Es waren fünf Geigerinnen, eine Klavierspielerin, eine Cellistin und ein Mann, der immer in so'n Ding blies . . von Blech . . ich weiß nicht, wie man das nennt.

— Eine Posaune — bemerkte der Oberstabsarzt.

— Also im ganzen acht Personen und ein Klavier, die mussten alle acht ....

— Alle neune — warf der etwas pedantische Amtsanwalt dazwischen.

— Meinetwegen, also alle neun auf einem Podium sitzen oder stehen, das kaum größer war, als der Tisch, an dem wir hier sitzen. Ja, richtig: und eine Trommel oder Pauke stand ja auch noch drauf. Das hätt' ich bald vergessen. Wer die eigentlich schlug, ist mir nie recht klar geworden.

— Ich denke mir — sagte der Oberstabsarzt — das wird der Mann von der Posaune gewesen sein. Der wird ihr so gelegentlich einen heimlichen Knuff versetzt haben.

— Das ist möglich. — Also nun stellen Sie sich vor, meine Herren, dieser ganze Apparat aufs engste zusammengepfercht auf einem zwei Fuß hohen, an drei Seiten freien Podium ohne Geländer . . .

— Hören Sie auf! — rief ich dazwischen und legte die Hand vor die Augen — ich habe niemals Gletscherpartien machen können, weil mich der Gedanke an die bloße Möglichkeit des Abstürzens schon nervös macht.

Aber der Einhorn-Apotheker war im Zuge:

— Und nun denken Sie sich: in der ersten Reihe, wo die fünf Geigenspielerinnen nebeneinander gereiht, Stuhl an Stuhl an Stuhl, dasaßen, an der rechten Ecke, hart, ganz hart an der rechten Ecke, so dass das rechte Vorderbein ihres Stuhles nur noch zur Hälfte auf dem Podium stand — saß ein Mädchen. Ein Mädchen, sag' ich Ihnen . . . Also wie gesagt, Else heißt sie.

— Aha — sagte der Oberstabsarzt — also in dieser prekären Situation haben Sie sie kennen gelernt.

— Ja. Ich hatte fortwährend das Gefühl: jetzt — jetzt muss sie runterfallen. Nichts ist unangenehmer als eine solche andauernde Beängstigung. — Ich fühlte ein lebhaftes Mitleid mit dem zarten Geschöpf, das ganz in ihre Kunst vertieft war und die Gefahr gar nicht zu bemerken schien. Ich betrachtete sie voller Teilnahme. Ein ovales Gesichtchen, ein Kinn, das fast spitz zu nennen wäre, wenn es nicht von einem entzückenden Grübchen gekerbt würde. Eine feine, längliche Nase mit schmalem Rücken. Ein kleines, wie zu Kuss und Spott gespitztes, hochgeschürztes Mündchen und lebendige, hellbraune Augen, schmal und pikant, die ganz leise an den Typus der holden Japanerinnen erinnern . . . oder lag das an den seltsamen, wie von einer Launehochgezogenen Augenbrauen? Ich weiß es nicht. Ihr braunes Haar war zierlich gewellt und hochgesteckt . . Ach, meine Herren, was soll ich Ihnen viel sagen: es war das allerliebste Rokoko-Köpfchen, das Sie sich vorstellen können. Ihr ganzes Wesen sprühte einen Mutwillen, eine neckische Laune . . . es war entzückend! Und dabei führte sie den Bogen mit einer Grazie . . .

— Na, nun trinken Sie erst mal.

Der Oberstabsarzt klopfte dem Einhorn-Apotheker, der gar nicht wieder zu erkennen war, so begeistert schwärmte er, mit onkelhaftem Wohlwollen auf die Schulter:

— Wir glauben's Ihnen schon. — Constantin tat einen tiefen Zug.

Der Amtsanwalt ergriff das Wort:

— Gestatten Sie mir, Ihnen gegenüber unverhohlen meiner Freude darüber Ausdruck zu geben, dass Sie sich ein so warmes Empfinden zu erhalten verstanden haben. Es ist dies gewiss eins der köstlichsten Güter im Leben — wohl Ihnen, Sie bewohnen ein glückliches Land!

Ich unterbrach ihn, ich war neugierig geworden:

— Ach bitte, erzählen Sie weiter. —

— Nun, ich fing eben an, mich zu interessieren. Und zwar: anfangs war es wohl mehr ihr Spiel, in das ich mich verliebte. Ich erzählte Ihnen schon, dass ich sehr musikalisch bin, und . . so klein das Damen-Orchester auch war . . es wurde ausgezeichnet gespielt. Ganz ausgezeichnet. Und dann hatte es an und für sich so einen ganz eigentümlichen Zauber und Reiz, diese jungen Mädchen da so selbständig ihre Kunst üben zu sehn. Es lag darin doch etwas echt Großstädtisches. Die Großstadt zeigt einem die Frauen in den merkwürdigsten Berufen . . . ich kann nie den Eindruck vergessen, den es auf mich machte, als ich zum ersten Male eine Dame hinterm Schalter sah. Ich bin deshalb immer mit Vorliebe Stadtbahn gefahren ... in der ersten Zeit. So ähnlich wirkten jetzt auch wieder die Geigenspielerinnen auf meine Phantasie. Sie kamen mir vor wie Geschöpfe aus einer neuen Welt — mit ungeahnten, unerhörten Fähigkeiten.

— Ja, ja — brummte der Oberstabsarzt — es steckt doch mehr in den Weibern, als man früher gedacht hat. Man soll sie jetzt sogar schon zum Telephondienste verwenden können.

Es schien jetzt, als ob den Einhorn-Apotheker seine plötzliche Offenheit gereut hätte. Er hörte auf zu erzählen, und wir kriegten nur mit Mühe und Not noch soviel aus ihm heraus, dass er infolge seiner Bekanntschaft mit der talentvollen, jungen Geigenspielerin seinen Aufenthalt in Berlin um beinah vierzehn Tage verlängert hatte.

Seitdem korrespondierten sie miteinander . . .




Ich wohnte in Stolberg in einem alten, hohen Hause, das in halber Höhe am Berge lag: unter mir die Kirche, über mir das Schloss. Das Haus lehnte mit dem Rücken gegen den Berg, und das dritte Stockwerk, in dem meine Zimmer lagen, schien nach hinten hinaus zu ebener Erde zu liegen.

Zu den zahlreichen lasterhaften Gewohnheiten, die mich in den Augen der guten Stolberger als eine Ausgeburt der Hölle erscheinen ließen, gehörte auch die, dass ich an Tagen, wo ich vormittags keine Schreiberdienste zu verrichten hatte, ziemlich lange schlief. Es war ruchbar geworden und für ruchlos befunden, dass ich, zumal an Sonntagen, noch gegen zehn Uhr, wo der heilige Gottesdienst längst begonnen, nachweislich im Bette gelegen hatte.

Süß ist der Schlaf am Morgen
Nach durchgeweinter Nacht

so beginnt eins der schönsten Lieder Platens aus seinem letzten Lebensjahr. Auch wir empfanden, nachdem wir uns die ganze Nacht mit Weinen beschäftigt hatten, den Schlaf am Morgen als eine süße Gottesgabe. Ich war daher durchaus nicht angenehm berührt, als mich eines Morgens gegen neun Uhr der Einhorn-Apotheker aus den lieblichsten Träumen riss.

Erstürmte schweratmend, mit dem Hute auf dem Kopf, mit einem hochroten Kopfe in mein stilles Schlafgemach und stand, nach Worten ringend, vor meinem Bette, während ich mir ärgerlich die Augen rieb.

— Verzeihen Sie . . . verzeihen Sie — brachte er schließlich heraus und nahm den Hut ab. — Mein Gott, was ist denn los ? — Er schnappte nach Luft;

— Sie . . sie ist da. Hier . . in Stolberg! —

Er musste sich auf den Stuhl niederlassen, auf dem noch meine Unterhosen lagen. Seine Arme sanken schlaff herab.

Ich richtete mich auf:

— Ach! Ihre Virtuosin? Das ist ja famos! —

— Lieber Herr Referendar: ich bitte, ich beschwöre Sie, nehmen Sie die Sache ernst. Sie sind der einzige, an den ich mich in meiner Not wenden kann, der einzige, der mir vielleicht zu helfen vermag. Verlassen Sie mich nicht.

Er hatte meinen linken Oberarm umklammert, und eine aufrichtige Angst sprach aus seinen gutmütigen Zügen.

Ich konnte ihm mein Mitleid nicht versagen. Beruhigend sprach ich:

— Vielleicht ist noch Rettung möglich, lassen Sie den Mut nicht sinken. Was an mir liegt, soll gewiss geschehen. Aber nun sagen Sie, wie ist denn das zugegangen?

— Ach es ist ja ein gar zu launenhaftes Geschöpf. Also stellen Sie sich vor: heute Morgen, vor einer halben Stunde, bringt mir der Eberhardsche Hausdiener diesen Brief. Hier, lesen Sie, bitte. — Ich las:

Geliebter Constantin! Die Sehnsucht ließ mir keine Ruhe! Wir sollten auf einmal Kostüm tragen und im Kostüm dasitzen und spielen. Und die sollten wir auch noch selber bezahlen. Na so dumm. Wenn ich schon sowas mache und setzte mich da hin vors vergnügte Publikum mit nackten Armen zur Belustigung der Einwohner, denn kann er das auch aus seiner Tasche bezahlen. Lieber Schatz, es zog mich so zu Dir hin! Wir haben uns nach einer andern Stellung umgesehen, haben aber keine gefunden, und weil es doch jetzt so schönes Wetter ist, sitzt man doch auch nicht gern in der ollen räuchrigen Bude.

Das Geld, das Du mir geschickt hast, langte noch gerade zu einem Billet bis Nordhausen, und weil Du doch immer gesagt hast, es soll so nett in Stolberg sein, bin ich hergekommen.

Wie schön, dass wir uns wiedersehen! Fünfzig Pfennige hab ich zwar noch gerade, aber bitte, gib Du lieber dem Friedrich das Trinkgeld, denn sonst hab ich gar nichts mehr, und ich weiß doch nicht, wann Du abkommen kannst.

Am liebsten möchte ich zwar gleich selber in Deine Arme fliegen, aber da Du gewiss hinter dem Schalter beschäftigt bist und wer weiß, vielleicht ist gerade die Frau Gräfin da und kauft Schweizerpillen, da will ich nicht stören.

Bitte, mein süßer Schatz, lass mich nicht so lange warten, sondern komme bald zu Deiner Dich innig liebenden Else.

P. S. ins Hotel Eberhard, Zimmer Nr. 6.

— Ein heiter gemütvolles Mädchen. Was gedenken Sie nun zu thun?

— Nichts. Um Gotteswillen! Gar nichts. Ich will still und unbefangen Medizin verkaufen und meine Offizin nicht verlassen, weder bei Tage noch bei Nacht. Denken Sie doch, wenn die Stolberger auch nur eine Ahnung bekämen . . was mir da bevorstände. Nein, nein, ich darf mich gar nicht sehen lassen. Sie müssen für mich handeln. Sie müssen — wenn Sie mich retten wollen — das Mädchen auf sich nehmen.

— Auf mich nehmen? Na nu!

— Ja. Sehen Sie; ihre Existenz kann den Stolbergern ja nicht verborgen bleiben. Und sofort wird gefragt werden: wieso, woher, für wen, wozu. Und sie werden, sie müssen auf mich verfallen, denn auch der Botengang Friedrichs zu mir kann nicht lange verborgen bleiben. Wenn Sie nun aber so edelmütig sein wollen, den Verdacht auf sich zu lenken, so wird den Stolbergern die Sache sofort so — entschuldigen Sie — so plausibel vorkommen, dass man nicht weiter nachfragen wird. Und ich bin gerettet. Liebster, bester Herr Referendar, sehen Sie: bei Ihrem Rufe kommt es auf etwas mehr oder weniger weiß Gott nicht mehr an. Sie verlassen dieses Jammertal in wenigen Monaten, und es bleibt Ihnen höchstens eine angenehme Erinnerung . . .

— Eine angenehme Erinnerung? Nun erlauben Sie mal, es wäre doch immerhin ein Opfer, das ich Ihnen brächte. Oder meinen Sie, dass es mir gleichgültig wäre, wenn demnächst bei Hofe etwa von mir erzählt würde, ich hätte mir Bruchstücke meines Berliner Harems hierher nachkommen lassen?

-Ja!

Dieses „Ja“ kam dem Einhorn-Apotheker aus so tiefem, offenem Herzen, dass ich laut lachen musste und also besiegt war.

— Na, also gut. Verfügen Sie über mich. Womit kann ich Ihnen dienen?

— Zunächst müssten Sie aufstehen und sich anziehen. Dann aber zu Eberhard gehen, sich auf ihr Zimmer führen lassen und darin möglichst lange verweilen . . . mit ihr allein bleiben ....

— Na, hören Sie mal, das ist aber eine starke Zumutung! Fürchten Sie denn da nicht . . .

— Nein ! — versetzte der Einhorn-Apotheker mit Bestimmtheit. — Ich brauche nichts zu fürchten. Else wird mir niemals untreu werden. Ich kenne sie! Dazu hat sie mich viel zu lieb. Aber sie muss vor allen Dingen machen, dass sie wieder aus Stolberg herauskommt, sie stürzt mich sonst ins Unglück, Sie müssen sie unter allen Umständen dazu bringen, dass sie augenblicklich nach Berlin zurückfährt. Augenblicklichst.

Er zog sein Portemonnaie und füllte meine Hand mit Gold.

— Hier haben Sie 200 Mark, geben Sie ihr, was sie verlangt.

— Sie sind sehr großmütig. Und wo treffe ich Sie nachher?

— Ich verlasse die Apotheke nicht eher, bis sie . . weg ist. Bitte kommen Sie sobald als möglich, O Gott, wenn nur alles gut geht . . es ist doch manchmal zu unangenehm sowas. Also adieu. Stehen Sie jetzt auf, ja? Bitte!

Er drückte mir die Hand, seufzte noch einmal tief und ging von dannen.




Ich kleidete mich mit möglichster Sorgfalt an, säuberte und glättete meinen Zylinder und ging zu ihr . . .

Als ich das Hotel betrat, fiel mir ein, dass ich ja gar nicht wusste, wie die Geigenfee mit ihrem elterlichen Namen hieß, und dass es doch einen demoralisierenden Eindruck auf die Seele des Oberkellners machen würde, wenn ich einfach nach Fräulein Else fragte. Ich wurde jedoch meiner Bedenken alsbald enthoben, denn kaum hatte ich die Hausflur betreten, so fühlte ich, wie mich jemand auf die Schulter klopfte: es war Eberhard, der mir mit einem schlauen Zwinkern seiner weinfröhlichen Augen zuflüsterte:

— Sie wartet schon. Numero sechs. Pst.

Später gestand er mir: er habe von vornherein gewusst, dass es sich bei diesem Besuche um mich handelte, und ich hätte daher nicht nötig gehabt, erst den unschuldigen Einhorn-Apotheker vorzuschieben.

Ich ließ ihn natürlich dabei. Der Gerechte hat viel zu leiden.

Auf mein Klopfen:

— Herein! —

Ich war doch etwas beklommen, Die Stimme klang so gut . . .

Nun weiß ich wirklich nicht mehr ganz genau, wie es dann weiter zugegangen ist. Ich bin ja auch absolut nicht verpflichtet, irgend jemandem darüber Rechenschaft zu geben. Den Teufel auch — das wäre noch schöner! Wenn ich jemandem eine Geschichte erzähle, so ist das mein guter Wille — was ich nicht erzähle, geht keinen was an. Ich stehe hier nicht als Angeklagter, habe auch nicht schwören müssen, die lautere Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen und nichts hinzuzusetzen — ich fühle lediglich das Bedürfnis, mein Lächeln über dies scherzhafte Dasein nicht allein zu lächeln, denn es ist eine alte Erfahrung, dass man peinlich wirkt, wenn man schweigend und einsam lächelt.

Übrigens der Einhorn-Apotheker hatte die Wahrheit gesprochen: sie war wirklich allerliebst. Auch war sie recht nett und elegant gekleidet, nur ihre Haartracht gefiel mir nicht. Ich zeigte ihr . . . (im Laufe des Gesprächs), wie sie sie nach meiner Ansicht tragen müsse, und sie versprach mir, sich von nun an so zu frisieren, wie ich es ihr angegeben hatte.

Überhaupt war sie durchaus entgegenkommend, ich fand bei ihr viel weniger Widerstand, als ich nach den Worten des Einhorn-Apothekers annehmen musste. Sie willigte ohne weiteres ein, die zweihundert Mark von mir anzunehmen, und unterschrieb mir lachend folgende in der Eile von mir entworfene Quittung:

200 Mark.

Endesunterzeichnete bestätigt hiermit, die Summe von 200 Mk. (Zweihundert Mark) aus den Händen des Herrn Referendars Otto Erich erhalten zu haben. Sie erklärt, von ihrem Besuch in Stolberg am Harz vollkommen befriedigt zu sein und spricht bei ihrem Scheiden von dort allen denen, die ihr Wohlwollen entgegengebracht haben, ihren herzlichsten Dank aus.

Else.

Nur eine Bitte hatte sie noch: ich sollte sie nach Nordhausen auf die Bahn begleiten. —

— Aber mein liebes Fräulein . . o

— Ach gehen Sie weg: wenn Sie das nicht mal für mich tun können, dann sind Sie nicht besser, wie die andern auch . . wie alle die Philister, über die Sie sich lustig machen, gehen Sie weg : . .

Ich hatte dem Einhorn-Apotheker versprechen müssen, mehrere Stunden mit seiner Geigenspielerin allein zu bleiben. Da ich ein Mann von Wort bin und lieber mehr tue, wenn ich etwas versprochen habe, als zu wenig, war es während unseres Zusammenseins Spätnachmittag geworden und nur noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt der Abendpost, mit der Fräulein Else unter allen Umständen nach Nordhausen zurückfahren musste.

— Liebes Kind — sagte ich daher — ich begleite Sie gewiss herzlich gern, aber Sie wissen: die Post fährt ihre vier Stunden . . . wenn ich jetzt mit Ihnen fahre, kommen wir erst gegen zehn Uhr in Nordhausen an, und es ist dann für mich ganz unmöglich, heute noch nach Stolberg zurückzukommen. Ich müsste schon die Nacht in Nordhausen bleiben, und da ich morgen früh Dienst habe, mit der Frühpost um 6 Uhr von dort wieder abfahren. Das würde eine heillose Strapaze . . .

Aber sie würdigte meine Einwände nicht; im Gegenteil: sie schlug die Händchen zusammen und rief:

— Ach, das trifft sich ja famos! Da können wir ja in Nordhausen noch zusammenbleiben! Nein: Du musst mit: bitte, bitte, bitte . . .

Ich brachte also auch dieses Opfer noch.

Als ich dann am andern Morgen um neun aus der Postkutsche stieg und mich direkt auf das Bureau begab, hatte ich trotz meiner großen Müdigkeit und Zerschlagenheit das angenehme Gefühl einer guten Tat und einer freudig erfüllten Pflicht.




Sobald die Termine beendet waren, ging ich in die Einhorn-Apotheke und erlöste den seit nunmehr fast siebenundzwanzig Stunden In Zweifelsängsten hangenden Apotheker.

Er gestand mir, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hätte, und ich erzählte ihm, wie auch ich die Nacht nur wenig geschlafen habe, wie aber sonst die Sache glücklich und zu unser aller Zufriedenheit abgelaufen sei.

Ich machte ihm vor allem mein Compliment wegen seines guten Geschmacks und gestand ihm, dass ich alles nur zu begreiflich fände, dass jemand, der von einem so holdseligen Geschöpfe beglückt würde, kein Gelüst verspüren könne, mit einer dieser korrekten Stolberger Gänse zusammen in das Joch der Ehe gespannt zu werden.

Da machte er ein sehr merkwürdiges Gesicht.

— Wie meinen Sie das, Herr Referendar? —

Ich versuchte deutlicher zu werden. Da wies er mich mit einer traurigen Entschlossenheit zurück. So weit wäre er mit ihr noch nicht. Er scheue es, das Gefühlsleben eines Weibes, das offenbar seinen ganzen Anlagen nach eine Künstlerin sei, mit voreilig plumpen Fingern zu betasten. Er wisse zwar, dass es ihr vielleicht nicht unlieb sein würde, wenn er ungestümer vorgehe . . . jedoch einstweilen habe er noch widerstanden .... Ich nahm das alles schweigend hin, denn wir befanden uns in einer Apotheke, und wenn ich meiner abweichenden Überzeugung den Ausdruck gegeben hätte, zu dem mich in dem Momente mein Naturell drängte, wäre es ihm, der mir gerade einen der von mir so geliebten Apothekerschnäpse zusammengoss, ein Leichtes gewesen, mich zu vergiften. So wird sich ein verständiger Mann stets hüten, einen wegen seines Jähzorns bekannten Barbiergehilfen unnötig zu reizen, solange er sich noch unter dessen Messer befindet. Als ich dann den Schnaps getrunken hatte, übergab ich dem Einhorn-Apotheker die Quittung, die ich mir von Else hatte ausstellen lassen, und gewahrte alsbald, dass ihn darob eine peinliche Empfindung überkam.

— So hat sie also gleich die ganze Summe verlangt? — fragte er.

Da fiel es mir schwer aufs Herz, dass ich ja ganz vergessen hatte, erst zu handeln. Was sollte ich nun sagen? Ich war in großer Verlegenheit. Schließlich stammelte ich:

— Ja, ich muss um Entschuldigung bitten, aber sie war ihrerseits so conciliant und loyal, dass ich . . übrigens, wenn es Ihnen zu viel ist . . es ist ja meine Schuld, und ich bin natürlich gern bereit . . . Er unterbrach mich großmütig:

— Wo denken Sie hin, lieber Herr Referendar: im Gegenteil: ich fühle mich noch tief in Ihrer Schuld. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank für diesen wahrhaften Freundesdienst, und wenn ich Ihnen jemals einen ähnlichen Dienst erweisen kann . . .

Aber jetzt unterbrach ich ihn:

— Ach nein! Lieber nicht! Das heißt: ich will hoffen, dass ich nie in eine ähnliche Verlegenheit gerate. —

Der Einhorn-Apotheker schüttelte noch immer mit beiden Händen meine rechte. Er war wirklich ein braver Mensch mit einem dankbaren Herzen. Ich konnte ihm auf die Dauer nicht böse sein.

Sobald es anging, machte ich aber doch, dass ich fortkam. Die einhundertundfünfzig Steinstufen, die den Berg hinauf, an der Kirche vorbei, zu meiner Wohnung führten, wurden mir recht sauer. Sobald ich daheim war, legte ich mich hungrig, wie ich war, ins Bett und schlief den Schlaf des Gerechten.




Von den vielfachen Torheiten, zu denen mich die geigenspielende Else verleitet hatte, verdient noch die einer besonderen Erwähnung: dass ich nämlich der Bitte, ihr einen feschen Freund von mir in Berlin, der nicht so ernsthaft wäre wie ihr Constantin, zu empfehlen, nachgegeben und ihr die Adresse meines Freundes, des Kleinen, verraten hatte.

Man wird dies vielleicht unbegreiflich von mir finden, aber einerseits hatte sie mir in so ergreifenden Tönen ihr Leid geklagt, dass sie so gar niemanden hätte, der sie „verstände“, und andrerseits wusste ich ja von dem inzwischen völlig zum Teufel gewordenen Kleinen, dass es bei ihm keine Gefahr hatte.

Seit den Tagen der lieben Lore glaubte ich überzeugt sein zu dürfen, dass ihm, was mir vordem gefallen hatte, auch wohl gefallen würde, und hoffte daher auf ein freundliches Einvernehmen zwischen den beiden.

Nach etwa acht Tagen erhielt ich folgenden frischen Brief vom Kleinen:

„Alter Esel! Wann wirst Du mal verständig werden? Glaubst Du, dass die preussische Regierung Dich zu dem Zwecke nach Stolberg am Harz (NB. Etwas Fauleres war für Dich schon nicht aufzutreiben!) geschickt hat, dass Du da eine Versuchsstation errichtest? Arbeiten sollst Du, Gott verdamm mich, die Nase in die Bücher stecken und Deinen Vorgesetzten Freude machen. Verbeugen sollst Du Dich und allem weiblich Gnädigen die Handküssen: meine Weiber such' ich mir schon von alleine, ich verbitte mir da jede Einmischung. Für diesmal will ich es Dir noch verzeihen, denn sie hat auf dem Rücken, oberhalb der linken Hüfte, einen berauschenden Leberfleck. Prosit Du altes, aber ehrliches Stück Unglück!

Dein Kleiner.

Der Brief hätte stofflich reichhaltiger und klarer sein können, immerhin entnahm ich daraus die Thatsache, dass die Annäherung zwischen den beiden inzwischen erfolgt war. Ich wusste nur nicht recht, ob ich mich darüber freuen sollte.

In Stolberg, am Stammtisch bei Eberhard war ich inzwischen der Gegenstand neidischen Hohnes geworden. Der Oberstabsarzt war unerschöpflich in bösartigen Wendungen.

— Sagen Sie, mein lieber Referendar, wie wäre es, wenn Sie den Staatsdienst quittierten und sich dauernd in Stolberg niederließen?

Sie sehen: die Bevölkerung geht hier nicht nur numerisch zurück, sie wird auch durch die herrschende Inzucht immer mangelhafter. Da wären Sie doch eigentlich ganz der kommende Mann u. s. w.

Der Einhorn-Apotheker hörte all diese Angriffe auf meine Tugend mit einem milden, aber doch verschmitzten Schmunzeln an, in seinem Incognito empfand er das alles offenbar als versteckte Schmeichelei.

Endlich kam einmal wieder die Zeit, wo ich mich auf ein paar Tage frei machen und nach Berlin fahren konnte. Urlaub hatte ich zwar nicht bekommen, aber es passte so . . ich weiß nicht mehr wie.

Der Kleine empfing mich auf dem Bahnhofe mit einem schallenden Gelächter, als ob meine Ankunft ein guter Witz sei.

— Du bist ein Kerl! — rief er ein übers andre Mal. — Du bist ein Kerl! —

Dann, nachdem er sich endlich satt gelacht, fing er an in seinem rasenden Tempo zu erzählen.

Also die Else hatte zu ihm geschickt. Er — aus Neugierde — war hingegangen — in das Lokal, in dem sie ihre Kunst übte . . .

— Weißt Du, was eine Blindspielerin ist?

Ich verneinte.

— Natürlich. Du hast keine Ahnung.

— O doch, halt mal! Blindspielen beim Schachspielen ist, wenn man . . .

— Halt die Schnauze. Du hast keine Ahnung. Also, das ist ein sehr ehrenwerter Beruf, dem so und so viel hundert junge Mädchen angehören. Bei den zahllosen „Damenkapellen“, die heutzutage in Berlin spielen, ist es ganz unmöglich, dass alle Damen auch wirklich spielen können . . ist auch gar nicht nötig, denn der Radau ist so schon elend genug. Da hat sich nun das Gewerbe der Blindspielerinnen herausgebildet. Junge Mädchen, die sich äußerlich von wirklichen Geigenspielerinnen absolut nicht unterscheiden, höchstens manchmal hübscher und jünger sind, sitzen in der ersten Reihe solcher Kapellen und ahmen die Bewegungen eines Joachim täuschend nach. Die Sehne ihres Bogens ist mit Schmalz beschmiert: Lautlos gleitet Sie über die zartesten Saiten!

Er sah mich nach dieser Erklärung mit herausfordernder Fröhlichkeit an. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Er aber fuhr fort:

— Und ich kann Dir versichern, auf diese Weise spielt die Else die schwierigsten Sachen. Auf ihrem Notenpult liegt unverändert „Hannchens letzte Liebe“, und ich habe darnach die Tell-Ouvertüre gehört, dass es eine Freude war.

— Ja so: unser Einhorn-Apotheker war ja auch ganz entzückt; er hat sich zu allererst in ihr Talent verliebt.

— Nun erlaube mal; sie hat auch Talent. Bei den andern merkt man es sofort, wenigstens wenn man nicht allzu heftig auf den Kopf gefallen ist, dass sie keinen Schimmer vom Violinspielen haben. Bei ihr muss man schon ganz genau aufpassen, eh man's merkt: so täuschend vermag sie den Bogen zu führen. — Ach, neulich, das hättest Du erleben müssen! Da haben rohe Menschen eine Kollegin von der Else um ihren musikalischen Ruf gebracht, indem sie ihr heimtückischerweise den Bogen mit Colophonium eingerieben haben. Denk Dir das Entsetzen, wie ihre Geige da auf einmal tönte. Es war ergreifend.

Wir saßen während dieses Gespräches in einer Kutsche und fuhren ins Hotel. Der Kleine begleitete mich, und während ich mich von den Spuren der Reise reinigte, lief er in dem langen, einfenstrigen Zimmer auf und ab und räsonnierte in einem fort. Nicht alles von dem, was er rastlos hervorsprudelte, lässt sich hier wiedergeben. Sein Schimpflexikon hatte, seit er Soldat gewesen war, etwa so zugenommen, wie der Kürschnersche Literatur-Kalender in den letzten zehn Jahren, aber was ihm von den Lippen kam, waren nicht die stillen Namen guter, stiller Dichter, sondern allerlei Dinge, die Menschen ohne militärische Vorbildung leicht zu derb finden möchten . .

Dann gingen wir zum Abendessen und gedachten in behaglichem Zwiegespräch unserer gemeinschaftlichen Vettern in Hannover und ihres so verschiedenartigen, buntschimmernden Stumpfsinns.

Aber plötzlich unterbrach der Kleine mich, er hatte nach der Uhr gesehen und rief:

— Du, es wird die höchste Zeit! die Polizei ist der Ansicht, dass man so schwere Orchestermusik, wie sie die Kapelle „Fernando“ verzapft, bloß bis elf Uhr abends vertragen könne. Wenn wir die Else also heute noch treffen wollen . . .

Wir brachen auf. —

Das Lokal, in dem die Geigenfee wirkte, hieß „Oase für Junggesellen“. — Ich war sehr froh, dass wir kurz vor Thorschluss anlangten, und habe selten eine widrigere Enttäuschung erfahren, als da ich das niedliche Geschöpf in dem elenden, von Proleten vollgepfropften Raum, in einer entsetzlichen, von schlechten Zigarren stickig und stinkig gewordenen Luft wiedersah. Da saß sie auf einem engen Podium in einem geschmacklosen, offenbar gemieteten und deshalb gar nicht sitzenden Kostüm und spielte zum Gespött aller denkenden Menschen mit einem geschmalzten Bogen auf einer Kindergeige. Ich brachte kaum das Lächeln der Begrüßung fertig, mit dem ich auf ihr unbefangen freudiges Kopfnicken antwortete, während sie mit kindlicher Seelenruhe ihr falsches Spiel fortsetzte.

Der Kleine ehrte mein Schweigen und mein ernstes Gesicht. Er sagte mit einem Seufzer:

— Ja, ja: so sind die Weiber . . Endlich saßen wir, Gott sei Dank, bei Wildgrube, einem stillen Weinlokal in der Mittelstrasse, wir drei allein, der Kleine, die Else und ich. Man gelangte langsam wieder zu seinem Humor.

Wir hätten ja nicht drei im Grunde so vergnügte Menschenkinder sein müssen, wenn nicht allmählich eine gute, gesunde Stimmung über uns gekommen wäre.

— Nun sag' mir, meine liebe Else, erkläre mir das eine: unser guter Einhorn-Apotheker schickt Dir doch monatlich Geld, wie?

— Jawohl! Natürlich! Jeden ersten.

— Na also: aus Not machst Du doch diese lächerliche Sache da nicht mit. Wie kommst Du nur darauf?

— Ja, meinst Du denn, ich will vor langer Weile umkommen? Ich habe mich so, so unglücklich gefühlt, als ich keine Stellung hatte? Wenn Du nicht so nett gewesen wärest, mir die Adresse vom Kleinen zu geben . . .

Die beiden wechselten einen innigen Händedruck. Es war mir überhaupt schon aufgefallen, dass ein recht herzlicher Ton zwischen ihnen herrschte.

— Bloß schade, dass er nie Geld hat! — rief die Else und wollte sich totlachen.

Wir tranken Porter, und ich erhob meine Schale.

— Meine Herrschaften! — sprach ich gewichtig — gedenken wir auch der Abwesenden. Unser Einhorn-Apotheker: er lebe hoch!

— Hoch!

— Hoch!!

Die Else war die lauteste. Die Gläser klangen nicht gut zusammen.

Wir tranken lange. Dann wischte sich der Kleine den Schnurrbart und sagte nachdenklich:

— Es muss ein guter Mensch sein. Ich möchte nur wissen, warum er der Einhorn-Apotheker heißt?


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom gastfreien Pastor