Vom Kerbholz zur Rechen- und Diktiermaschine

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1928
Autor: Von Dozent Dr. R. W. Schulte Leiter der Psychotechnischen Hauptprüfstelle für Sport- und Berufskunde in Berlin-Spandau, Erscheinungsjahr: 1928

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kerbholz, Rechenmaschine, Schreibmaschine, Nachrichtenmittel,
Es ist ein weiter Weg vom Kerbholz, in das die ungefüge Hand des Primitiven das Schuldkonto einschlug, bis zum automatischen, sinnvoll ineinander greifenden Rädergefüge des mechanischen Gehirns der modernen Rechenmaschine, die klar, stumm und fehlerlos Tag um Tag und Jahr um Jahr Fragen beantwortet, die früher nur auf geistigem Wege lösbar schienen. Aus der Keilschrift des babylonischen Kämmerers, aus der hieroglyphischen Bilderschrift des Papyrus zur Zeit der Pharaonen, aus Tontäfelchen, Pergament und kunstvoller Schnörkelzier vergangener Epochen ist die rationell nüchterne, praktische und zweckvolle Buchführung der Neuzeit geworden. Symptom und Ursache dieser Wandlung ist wesentlich die ungeahnte Entwicklung der Verkehrs- und Nachrichtenmittel in
Dimensionen, die noch im Anfang des vorigen Jahrhunderts als Utopie erscheinen mussten: der Wandel der Jahrtausende setzte an die Stelle der menschlichen Lastenträger, der Karawanen und Kauffahrteischiffe das Netz der Eisenbahnen und Großfrachtdampfer; Kraftfahrzeuge und Flugmaschinen erschließen die wirtschaftlichen Kräfte dunkler Erdteile.

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An die Stelle der Läuferstafetten des chinesischen Reiches, der Laut- und Feuersignale primitiver Völker und Stämme, der reitenden Boten sind Fernsprecher, Fernschreiber und der tönende Funke getreten, die Raum und Zeit überbrücken und uns Ereignisse fast im Augenblick des Entstehens erleben lassen. Kann denn unser Verstand überhaupt noch die Tatsache fassen, dass die elektromagnetischen Wellen durch das im Glockenstuhl von „Big Ben“, der vom Volk so genannten großen Glocke aus dem Parlamentsgebäude in London, angebrachte Mikrophon den Stundenschlag schneller nach Indien tragen, als die akustischen Wellen ihn den unten auf der Straße Vorübergehenden zu Gehör bringen? Eine solche Zeit, eine Generation, die sich in ihrem Bewusstsein darauf einstellt, bald nichts mehr verwunderlich zu finden, hat naturnotwendig ihre eigenen neuen Wirtschafts- und Vermittlungsformen. Sich jagende Fragen, Meldungen, Entschlüsse, Anweisungen; die ausgepumpten
Lungen des Läufers von Marathon ehemals — und jetzt der spielende Druck der Rohrpostleitungen. Die technische Seite der Dinge und Mittel steigert sich bis zur Übertreibung. Mit Strömen von Nachrichten, Mitteilungen, Angeboten wird die Welt überschüttet; das Schlagwort ist die Vielfalt, die große Zahl, die Stärke des Eindruckes. Man hat kaum mehr Zeit zur Einzelarbeit, deshalb nehmen überall unablässig rollende Vervielfältigungsapparate und -Maschinen dem Menschen Arbeit ab; das Adressenschreiben — eine eintönige und unwürdige Aufgabe — besorgen eigene Vorrichtungen mit spielender Leichtigkeit; die Portokasse beginnt bei Massensendungen durch Frankiermaschinen ersetzt zu werden, die den rasenden Stempelmaschinen der Post in die Hände arbeiten, und schon stempeln die Betriebe selbst ihre Sendungen durch besondere Automaten. Abschriften: ein mitleidig belächelter Begriff vergangener Zeiten! Wozu gibt es Durchschlagpapier und Kopiermaschine, photographische oder Lichtpausreproduktionen wichtiger Originale? Diktaphone entlasten Hand, Auge, Ohr und Bewusstsein, das Gedächtnis wird ersetzt durch Terminkalender, Kartenreiter und eine Fülle anderer Hilfsmittel. Und nicht lange mehr, da wird der Setzer im Zeitungsbetrieb mit dem Radiokopfhörer die neuesten Tagesereignisse aus fremdem Erdteil empfangen und unverzüglich dem flüssigen Metall einprägen.

Während so der technische Fortschritt allenthalben in den modernen Großbürobetrieb eindringt, der längst nichts mehr von dem stillen, beschaulichen Geist der Kaufmannstube vergangener Jahrhunderte trägt, sucht der Spürsinn und Sparsinn des Menschen auch im Kleinen, dessen tausendfache Wiederkehr ihn zum Nachdenken reizt, zu bessern. Äußerste Rationalisierung ist das Schlagwort der Nachkriegszeit; höchste Einfachheit und Wirtschaftlichkeit, größte Leistung bei geringstem Aufwand sind die kategorischen Imperative der modernen Geschäftsorganisation. Jener technische Luxus ist nur ein scheinbarer; denn er ersetzt teure, unsichere, langsam arbeitende andere Kräfte. Intensivierung, auf Tüchtigkeit beruhende Stärke des Erfolges, ist Ziel und Merkmal des fortschrittlich denkenden Betriebs- und Büroleiters; die Extensität, die Ausdehnung in die Breite, wird dann stets die Folge sein. Der rationell eingestellte Betriebsorganisator packt mit Instinkt, tiefdringendem Blick und zäher Zielsicherheit, wie ein Feldherr von hoher Warte blickend, die Dinge an vielen Stellen zugleich an; in seinem Geiste laufen die Fäden zusammen, die seine Entschlüsse bestimmen, seine Anordnungen auslösen. Überall siegt das Rationale, Vernünftige; die wichtig und geheimnisvoll tuenden Aktenstöße weichen einfachen Zweckformen der Registrierung, die geniale Unordnung wird abgelöst durch peinlich saubere Klarheit im Arbeitsraum, im Lager, auf dem Schreibtisch. Die sogenannte Kleinigkeit wird mit liebevoll forschendem Blick betrachtet: überall ergeben sich Verbesserungen, Erleichterungen, Verbilligungen, die sich unendlichfach multiplizieren können. Das tägliche Gerät muss hand- und griffgerecht, bequem liegen, die Folge der Arbeitsgänge bis ins Kleinste geregelt sein, die Zusammenarbeit der einzelnen Zusammenarbeitenden Menschen auf höchsten Wirkungsgrad abzielen. Form, Länge, Art von Schreibgerät, insbesondere von Federhaltern, wurden wissenschaftlich-praktisch untersucht, um im Interesse von Betrieb und Schreiber geringste Ermüdung, größte Leichtigkeit und beste Leistung zu erzielen. Tintenfässer mit vorn angebrachter Eintauchöffnung bringen gegenüber solchen mit der üblicherweise oben angebrachten Öffnung eine nennenswerte Zeitersparnis infolge Wegverkürzung. Kleine Unzweckmäßigkeiten, geringe Verdrießlichkeiten steigern sich ins Ungemessene, wenn Blick oder Hand vergeblich nach Bleistift, Löscher oder Gummi suchen müssen; Türschilder sollen groß und gut lesbar in der für den Beschauer gerade richtigen Höhe angebracht sein; an jedem Telefon muss sich ein Notizblock befinden, denn sonst wird mit unfehlbarer Sicherheit die Umgebung verschandelt; die Beleuchtung — ein Kapitel für sich — fast stets fehlerhaft, ermüdend, unzureichend, unregelmäßig oder zu grell; Ablenkungen, Störungen des arbeitenden Menschen durch Türenschlagen, Kommen und Gehen, Straßenverkehr — wie selten werden sie befriedigend vermieden?

Damit sind wir schon auf den Faktor „Mensch“ im Bürobetrieb gekommen. Also trotz aller Technik doch noch der arbeitende Mensch! Aber wie hat sich sein Erscheinungsbild gewandelt! Aus dem Sklaven der Antike, der das Schreibrohr besser zu führen verstand als sein Herr, aus dem Sekretarius der mittelalterlichen Kaufleute wurde im Zeitalter der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Frau „das mechanische Fräulein“. Hier liegen hinter Bubikopf und Seidenstrumpf menschlich-soziologische Probleme von größter Tragweite. Sprechen wir es doch ruhig aus: liegt nicht auch in der überstürzten und besinnungslosen Heranziehung der Frau, des einfachen. Mädels und der Dame, eine der großen tragischen Situationen der Menschheitsentwicklung? Unser Arbeits- und Lebenstempo ist so rasend und so überwältigend geworden, dass wir, nur an den Tag denkend, die klare Vorausschau vergessen. Nur zu recht hat einer unserer großen Techniker, der die Arbeit der Telefonistin menschlich unwürdig findet, weil sie besser und billiger durch automatische Ämter ersetzt zu werden vermag; und mit vollem Recht spricht ein russischer Forscher von der biologischen Tragödie der Frau. Sicherlich sind wir zurzeit in einem wirtschaftlich-technisch kritischen Übergangsstadium, das erst zu neuen Formen,
neuen Begriffen und Anschauungen führen wird. Pflicht eines jeden Einsichtigen muss es sein, mit allen Mitteln das öffentliche Interesse hinzulenken auf Fragen, die bei der allgemeinen dringlichen wirtschaftlichen Not von den betreffenden arbeitenden Menschen selbst zwar immer wieder aufgegriffen, von breiteren Kreisen jedoch nicht beachtet zu werden pflegen. Es sei anerkannt, dass auch in den die menschliche Persönlichkeit betreffenden Problemen viel Fortschritt zu verzeichnen ist: der Aktenstaub vergangener Jahrzehnte ist vielfach geschwunden, die Arbeitsräume werden gesünder, die allgemeinen Arbeitsbedingungen vielleicht etwas günstiger, die Reichsarbeits- und -Wohlfahrtsverwaltung betreibt eine segensreiche organisatorische und aufklärende Tätigkeit; aber noch mehr müssten Vorträge und Ausstellungen auf weiteste Kreise Einfluss ausüben. Leistungssteigerung wird auch „vom mechanischen Fräulein“ verlangt, es wird zu Objekt und Nummer des Betriebes; seine Leistungswerte werden in Zahlen fixiert. Die flinken Hände, die uns täglich helfen, ohne die unser Leben undenkbar würde, müssen immer größeren Anforderungen gewachsen sein. Der rasche Stift und die geschäftigen Finger, die klare Auffassung und die Zuverlässigkeit der Ausführung heben die Geeignetsten heraus. Aber wir wollen, wenn wir wahrhaft sozial und auch wirtschaftlich-rationell denken, keine Konkurrenzauslese der Besten im Kampf ums Dasein; wir wollen in erster Linie allgemeine Niveauerhöhung durch Erleichterung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen beim Bürobetrieb und insonderheit beim Maschinenschreiben. Damit kommen unsere Bestrebungen den Wünschen der Arbeitnehmer selbst, den Anforderungen der Betriebe und den Absichten der behördlichen Aufsichtsstellen entgegen. „Arbeitshygiene und Leistungssteigerung in der Büroarbeit“ — dazu gehört die Ausschaltung aller gesundheitsschädlichen Momente: ungeeignete Stühle von falscher Form, Höhe, Entfernung vom Tisch, unzweckmäßige Steharbeit an Pulten, Reißbrettern und so fort, ungenügende Ventilation, unzweckmäßige, unzureichende oder falsche Beleuchtung und vieles andere. So haben wir (mit Unterstützung der A. E. G.) die besten, gesündesten, am wenigsten ermüdenden und die Leistung ohne größere Anstrengung erhöhenden Arbeitsbedingungen, Möbel und Geräte für die Bedienung der Schreibmaschine untersucht und in Verbindung mit Praktikern Hilfsmittel angegeben, die dem Fortschritt auf diesem Gebiete dienen sollen. So werden durch besondere Tischformen die lästigen und nervös machenden Erschütterungen durch die Maschine beseitigt; die vornübergebeugte gesundheitsschädliche Haltung und die vielen seitlichen Kopfdrehungen zum Manuskript werden sicher vermieden durch einen Konzepthalter mit der erprobten besten Beleuchtung, der, direkt über der Walze der Maschine angebracht, leichteste Arbeit und bequemste Haltung des Körpers der Schreiberin verbürgt. Dem gleichen Zweck dienen einfache, rationalisierte Sitzformen, Fußstützen, Schalldämpfungen und andere Hilfsmittel. Auch für die Hilfsgeräte, wie Bleistifte, Papier, Stenogrammblocks und so fort, sind Richtlinien zur Arbeitserleichterung und Leistungssteigerung aufgestellt. Wir beginnen, langsam die großen Linien der Zukunftsentwicklung zu sehen. Wir leben in einem „papierenen“ Zeitalter. Die Presse wirft aus gewaltigen Rotationsmaschinen Zivilisations- und Kulturwerte hinaus, Schlachten werden heute mit Papier geschlagen, jeder Tag bringt neue Formen, neue Möglichkeiten, neuen Fortschritt. Sieg auf der ganzen Linie, scheint es ... Sorgen wir dafür, dass wir vor unserem Gewissen und vor dem Urteil der menschlichen Kulturgeschichte

Das Kerbholz des Bronzezeitmenschen

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Die Diktiermaschine im modernen Großbetrieb

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