Auf der Wolga und dem Kaspi.

Die Kalmückenstadt Zarizyn. — Wolgafahrt. — Eine interessante Bekanntschaft. — Die Stadt des Kaviars. — Ein galantes Abenteuer. — Im Teehaus. — Auf dem Kaspi.

Das war eine wandersame Fahrt voll seltsamer Abenteuer und fast märchenhafter Erlebnisse. Ein einsamer, passloser Flüchtling, verfolgt auf Schritt und Tritt, irrte ich monatelang umher in den Steppen und Wüsten des europäischen und asiatischen Russlands, durch die Landschaften an der Wolga und am Schwarzen Meere, durch die Gebirge des Kaukasus.


Von Orel kommend, wo ich gerade den Zaren getroffen, als er von der Eisenbahnkatastrophe bei Borki nach Petersburg reiste, langte ich an einem Samstag Nachmittags in Zarizyn an. Zwei Stunden Rast. Des ewigen Fahrens müde, sprang ich fröhlich aus dem Wagen und eilte in die Straßen der Stadt, um meine Gliedmaßen ein wenig wieder in Bewegung zu bringen und gelegentlich auch die Sehenswürdigkeiten der vielgenannten Kalmückenstadt in Augenschein zu nehmen. Aber Zarizyn hat gar keine Sehenswürdigkeiten, wenn man nicht die wenigen gepflasterten Straßen, die Paar Laternen und den unerhörten Schmutz als solche rechnen will.

Dagegen sind Handel und Verkehr dieser Stadt wohl der Beachtung wert. In einer zum Hafen vortrefflich geeigneten Bucht des Riesenstromes liegend, ist sie der Durchfuhrort aller Waren geworden, welche über Astrachan nach Asien gehen und von dort kommen. Die Reisenden nach Transkaspien und dem Kaukasus nehmen ebenfalls, so lange Schifffahrt ist, etwa von April bis Oktober, ihren Weg viel lieber über Zarizyn und die Wolga als über den Kasbeck und die grusinische Heerstraße.

In Zarizyn leben viele Kalmücken. Hier machte ich die erste Bekanntschaft mit dieser Menschenrasse, die ich später noch häufiger und näher kennen zu lernen gute Gelegenheit hatte.

Der Hafen der Stadt war voll von Dampfern, Segelschiffen und Ruderboten. Zum größten Teil hatten die bedeutenderen Fahrzeuge Naphta und Öl aus Baku an Bord. Sie sind eigens dazu eingerichtet, ihre Bäuche haben Reservoirs für Petroleum. Man pumpt dieses in Baku in die Schiffe hinein und in Zarizyn gießt man es wieder direkt aus den Schiffen in die bis zum Pristan oder Landungssteg herankommenden Eisenbahnwaggons, welche die Feuerspeise über Odessa und Riga in alle Weltgegenden tragen. Beim Umpumpen der Naphta bleiben Rückstände, Astatki genannt, welche man sammelt und in einen nahe bei Zarizyn befindlichen Teich schüttet. Dieser Petroleumteich ist nach und nach so groß geworden, dass man auf ihm in Boten herumfahren kann.

Nachdem meine Rastzeit abgelaufen, rief ich einen Iswoschtschik und fuhr auf holprigem Wege zum Dampfer „Weliky Knjäs Wladimir“, dem ich mich zur Reise nach Astrachan anvertrauen wollte.

Als ich das Schiff betreten, war ich von seiner Pracht erstaunt. Ein Riesendampfer nach dem System der Missisippifahrer, mit aller möglichen Bequemlichkeit. Er kam von der berühmten Messestadt Nishny-Nowgorod, hatte also eine starke Tour hinter sich; trotzdem fand ich an Bord nur wenige Passagiere. £s war die letzte Dampferfahrt jener Saison. Schon stand der sibirische Winter vor der Tür, und das Wasser des Riesenflusses verdickte sich da und dort zu Eisklumpen. Unsere Reise wurde durch die vorgeschrittene Jahreszeit behindert und verlängert, und wir brauchten statt 24 Standen volle 72. Mehrere Male blieben wir im Eise stecken, und es hieß, wir sollten an nächstbester Stelle aussteigen und uns mit Kalmückenpferden weiter bringen lassen. Glücklicherweise gelang es uns aber immer noch freie Waaserbahn zu bekommen.

Auf dem Schiffe war die Zeit indessen keineswegs zu lang. Es gab viel zu sehen und zu bewundern. Die Einrichtung des „schwimmenden Hauses“ war wirklich großartig. Prachtvolle Kajüten, Balkone und offene Galerien, ein Unterhaltungssalon mit Klavier, ein Speisesaal, eine Apotheke boten vielfache Annehmlichkeiten.

Die Gegenden, die wir passierten, zeigten zwar nichts Besonderes: eintönige, flache Uferlandschaften, häufig mit Schnee bedeckt. Dafür aber wussten die Passagiere selbst sich vortrefflich durch Erzählen von reizenden Geschichten zu unterhalten. Häufig setzte sich der Kapitän, — ein hoher Marineoffizier, denn er führte den Titel eines Kontre-Admirals — zu uns und erhöhte die gemütliche Stimmung durch Mitteilung seiner Erlebnisse in Krieg und Frieden. Er war ein ausgezeichneter Trinker und legte Proben davon nicht nur bei Tische ab, sondern goss auch mehrere Male außer der Zeit eine halbe Flasche Schnaps auf einmal wie Wasser hinunter.

Die einzige Station, welche wir von Zarizyn bis Astrachan machten, war Ssarepta, ein nettes Städtchen am rechten Wolgaufer, mit deutschen Ansiedlern und Nürnberger Lebkuchen. Hier stieg eine junge Dame, Pascha Dombrowa, in unser Schiff. Sie reiste nach Transkaspien, um bei einem General in Asschabad, der militärischen Hauptstadt dieser neuesten russischen Provinz, die Wirtschaft zu führen. Auf Empfehlung des Kapitäns, der ihr sagte, dass ich mit ihr ziemlich die gleiche Reise hätte, schloss sie sich mir an, und so saß ich denn Abends in ihrer Kajüte beim dampfenden Ssamowar und lauschte den Schilderungen ihres Lebens. Die waren gar interessant. Noch als Leibeigene, Anfangs der Sechziger Jahre geboren, wurde sie früh ihrer Eltern beraubt. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft kam sie unter sonderbaren Umständen und Verhältnissen überall im heiligen Zarenreich herum, machte viel Müh und Leid durch, war zuletzt bei einer deutschen Familie in Ssarepta und suchte nun in Transkaspien eine neue Heimat. Sie war sehr gescheid und resolut und hatte viel Männliches an sich: Kraft, Mut, Energie und einen — Schnurrbart, um den ich sie wirklich beneidete.

Gegen Abend des dritten Tages nach meiner Abfahrt von Zarizyn kamen wir in Astrachan an.

Die Stadt des Kaviars, die ehemalige Residenz der mächtigen Astarchanidenchane, ist womöglich noch schmutziger als Zarizyn, und man begreift, dass die Pest hier vor einem Jahrzehnt einen vortrefflichen Boden für ihre verheerende Ausbreitung finden konnte. Nun hatte es vor Kurzem auch geregnet, und so bildeten der Quai, die Märkte, die Straßen tiefe Kotlachen, die man zu Fuß kaum passieren konnte.

Noch ärger sah es in den Höfen der Häuser aus. Wo ich auch hineinschauen mochte —überall entsetzlicher Schmutz, der seit Wochen, vielleicht seit Monaten hier aufgehäuft liegt, und kein Mensch denkt daran, ihn fortzuräumen. Astrachan hat ebenfalls großen Handel und Verkehr. Die Stadt liegt im Delta der Wolgamündung am Kaspi und ist der Stapelplatz für alle Waren, welche die Wolga nach Zarizyn und Nishny-Nowgorod hinaufgehen und den Riesenstrom herabkommen. Bekannt ist der kolossale Fischhandel, der hier betrieben wird. Ein großer Teil der Einwohner obliegt dem Fangen der Fische, ein anderer großer Teil beschäftigt sich mit dem Trocknen, Salzen, Pökeln und Versenden derselben. Der Geruch, welchen die vielen Millionen und Millionen Fische und Fischlein verbreiten, ist unbeschreiblich. Auf verschiedenen Schiffen und in vielen Magazinen wohnte ich der Verpackung der Fische und des Kaviars bei. Da gingen die Arbeiter — zum Teil unbeschreiblich schmutzige Tataren, Kalmücken und Perser — mit der Essware so um, dass mir der Appetit, astrachanschen Kaviar zu schlucken, für immer vergangen ist. Wie in Zarizyn ist auch hier der Hauptverkehr vom April bis Oktober, dann bedeckt das Eis die Wolga mit einer riesigen Schlitterbahn, und in Astrachan herrscht bis zur Wiederkehr der wärmeren Jahreszeit Stille. Wir waren bei Winteranbruch angekommen — unser Schiff blieb hier bis zum Frühjahr liegen — und deshalb war das sonst wildstürmische Leben nicht so bewegt, aber noch immer lebhaft genug.

In Astrachan befindet man sich schon ganz in Asien. Kalmücken und Kirghisen, Perser und Tataren füllen die Straßen und Plätze, halten die Buden auf den Märkten, lungern am Quai und auf den Schiffen herum, besitzen große Magazine und kleine Werkstätten, dienen als Kutscher und Arbeiter. Die Häuser sind großenteils aus Holz, niedrig und meist nach orientalischer Sitte mit einem platten Dach versehen, auf welchem Abends die Frauen, gewöhnlich verschleiert, spazieren gehen und wo am Tage Wäsche trocknet.

Astrachan ist im Ganzen genommen eine reiche Stadt, doch herrscht hier neben kolossalem Reichtum ein Proletariat, wie es entsetzlicher kaum sonstwo in der Welt zu finden ist. Besonders die persischen Frauen sind ganz verkommen. In zerlumpten Hosen, ohne Überkleider, so dass selbst die delikatesten Stellen hervorschauen, stehen sie bettelnd an allen Straßenecken oder rennen sie in die Fabriken, wo sie mit Männern zusammenarbeiten. Von den Kalmücken und Zigeunern schon gar nicht zu reden; die sind in moralischer Hinsicht gleich Null.

Ich musste mich in Astrachan mehrere Tage aufhalten, da der Seedampfer nach Baku wegen heftiger Stürme nicht abgehen konnte.

Mit Rücksicht auf meine Passlosigkeit hatte ich es bisher immer vermieden in Gasthöfen abzusteigen und mochte dies auch hier nicht tun; ich mietete mir daher eine Droschke und fuhr den ganzen Abend in den Straßen umher. Als es Nacht ward, fragte ich meinen Kutscher, einen Tataren, ob er vielleicht einen Bekannten hätte, wo ich über Nacht absteigen könnte.

„Ja wohl, Barin!“

Er nickte und peitschte den Klepper, und fort ging’s durch die mit knietiefem Kot bedeckten Straßen, vorbei an öden Feldern, niedrigen Häusern und verfallenen Hütten.

Es war eine lange, lange Fahrt.

Müde von den Erlebnissen meiner Reise wurde ich vom Schlaf übermannt; das plötzliche Stillstehen des Wagens erweckte mich. Ich sah mich vor einem einsam daliegenden, langgestreckten, niedrigen Haus. Mein Tatar stieg aus, klopfte mehrere Male mit dem Peitschenstiel an die Pforte und rief:

„Fedor Afanassjewitsch, ein Gast ist da!“

Und bald darauf tat sich die Pforte auf und ein hoher Mann mit patriarchalischem Graubart erschien, hieß mich willkommen und lud mich zum Eintritt ein.

Einen Augenblick zögerte ich.

Dann befahl ich meinem Kutscher gegen angemessenes Trinkgeld auf der Straße bis zum Morgen zu warten — das war nichts Ungeheuerliches, da diese Leute auf ihren Droschken leben, essen, trinken, schlafen und sterben — und nun folgte ich dem Alten.

Wir schritten über einen unheimlich langen Hof in ein Hinterhäuschen. Der Wirt entriegelte die Tür und wir traten ein. Ah! ein Prachtzimmer! An den Wänden Teppiche, in der Mitte ein persisches Tischlein, davor drei übereinandergelegte Polster als Sessel. Von der Decke herniederhängend eine grüne Ampel. In einer Ecke ein breites Bett mit schneeweißem Leintuch und einer weichen Wolldecke.

Der Alte bat sich ein Trinkgeld auf „Tschay“ aus, wünschte mir gute Nacht und ging.

Ich nahm meinen Revolver, legte ihn unter den Kopfpolster und begann mich auszukleiden. Wie ich damit fertig bin und mich ins bequeme Bett legen will, klopft es leise, leise.

Ich öffne und herein tritt — ein Mädchen.

Anjutka heißt sie, bringt mir Tee und will mir über Nacht Gesellschaft leisten . . .

Nun ist mir klar, dass mein Tatar mich missverstanden hat. Aber ich füge mich in mein Schicksal. Anjutka ist ebenso schön wie jung, sie spricht zwar nur persisch, allein wir verständigen uns doch — — —

Da raschelt es am Fenster.

Erschrocken und gespannt lausche ich auf. Mag es Wahrheit, mag es Einbildung sein — ich sehe einen Menschen draußen lauern — schnell entzünde ich Licht und ergreife meinen Revolver. Das Mädchen schaut mir verwundert zu, rührt sich aber nicht von der Stelle.

Ich eile hinaus und rufe den Alten:

„Fedor Afanassjewitsch!“

Er kommt und sieht mich erstaunt an:

„Gehst Du schon, Herr Wohltäter? So früh? Gefällt Dir das Fräulein nicht? Ich sende Dir. ein anderes!“

„Danke, Freundchen! Heute habe ich keine Zeit. Aber morgen — morgen komme ich wieder.“

„Gut, Herr Wohltäter!“

Er schließt die Pforte auf und ruft meinen Kutscher.
Wie ich hinausgehe, fragt mich der Alte:

„Hat der Herr Wohltäter das Fräulein bezahlt?“

„Ja, Freundchen!“

„Wie viel, Barin?“

„Zwanzig Rubel!“ lüge ich.

„Zwanzig Rubel?“ Er beugt sich tief und küsst mir die Hand.

„Schon gut, Brüderchen“, sage ich lachend, springe in den Wagen und flugs geht’s davon — die ganze Nacht durch, Straßen auf und Straßen ab . . .

Endlich halte ich vor einem Teehaus, wo Damenbedienung ist, wo das in ganz Russland so beliebte „Organ“ oder „Maschinerieorchester“ Opern und Operetten vorträgt und Theater gespielt wird. Ich schlürfe behaglich meinen Tee, er tut mir ordentlich gut nach dieser Strapazennacht.

Wie ich mich ein wenig umschaue, sehe ich an einem Nebentisch ein Gesicht, das mir nicht unbekannt scheint. Scharfe Blicke hin und her und plötzlich haben wir uns erkannt. Ein Schulkamerad aus Riga — hurrah, alter Junge! Ich bin glücklich, überglücklich, erzähle ihm meine Schicksale und frage, ob er mich ein paar Tage bei sich behalten will. Aber er ist feige — o weh — er fürchtet sich.

Da verabschiede ich mich enttäuscht, verlasse das Teehaus, steige in die Droschke und von neuem beginnt das tolle Jagen, den ganzen Vormittag über.

Mittags fahre ich zum besten Astrachanschen Restaurant, speise dort und treffe Pascha Dombrowa. Beide sind wir erfreut und ich bringe den Nachmittag mit ihr zu. Gegen Abend gibt sie mir den Gedanken, mit ihr zusammen schon jetzt auf dem Dampfer „Cäsarewitsch“, mit welchem wir nach Baku reisen wollen, Station zu nehmen. Wir begeben uns an den Quai, aber das Schiff liegt nicht hier, sondern acht Stunden außerhalb des Hafens, der ihm zu seicht ist, im offenen Meer bei Dewjatfut oder Neunfuß. Der Dampfkawoss, der die Passagiere und ihr Gepäck zum „Cäsarewitsch“ bringt, geht erst in 30 oder 40 Stunden hin. Trotzdem erlangen wir vom Kawosskapitän gegen ein gutes Trinkgeld die Erlaubnis, über Nacht auf dem Schiffe zu bleiben.

Das war wieder eine unheimliche Nacht.

Dann kamen noch lange, bange Stunden, und endlich stachen wir mit dem Kawoss — einem Schiffe von der Größe eines gewöhnlichen Flussdampfers — in See. Das Meer war stürmisch erregt und abermals erlitten wir Verspätung, statt acht Stunden brauchten wir zwanzig.

Die Nacht war angebrochen. Dichter Nebel lagerte auf den bewegten Fluten des Kaspi, wilder Regen peitschte daher. Wir fuhren und fuhren und gaben Signale und Feuerzeichen und entluden unsere Kanonen. Aber vom Dampfer „Cäsarewitsch“ war weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Durch ein entgegenkommendes Schiff erfuhren wir, dass ihn der Sturm von seinem Ankerplatz Dewjatfut viele Werste weiter ins Meer hinausgetrieben.

Da wir selbst Nachts nicht weiter ins Meer hinauszufahren wagten, blieben wir an Ort und Steile liegen. Das kleine Dampferchen wurde von den wilden Wellen gewaltig hin und her geschleudert. Dazu war es fürchterlich kalt. Das Schiff hatte keine Einrichtung für Nachtaufenthalt, das Büffet war leer, nicht mal einen warmen Tee konnte man bekommen. Zum Glück führte ich einen kleinen Ssamowar mit mir, den stellte ich nun auf, und Kapitän, Steuermann und Passagiere — außer Pascha und mir waren es bloß noch sechs — setzten sich herum und suchten sich zu erwärmen und plaudernd zu zerstreuen.

Bald sank einer nach dem andern in Schlaf, und eng an einander gepresst lagen wir da, bis der Morgen graute. Endlich, endlich brach er an, durch die schwarzen Wolken, die vom Himmel bis zum Wasser dicht niederhingen, zuckten leicht und matt die wärmenden, erleuchtenden Strahlen der Sonne.

Der Kawoss pfiff, stieß dicken Rauch von sich und setzte sich in Bewegung. Wie das Ding wackelte und zitterte, und krachte, wie es von einer Sturzwelle nach der anderen übergossen ward! . . . Nun aber kam die Erlösung: wir erblickten den „Cäsarewitsch“, ein machtvolles, prachtvolles Schiff, noch größer als der „Wladimir“, noch schöner, noch
bequemer. Eine Treppe wird zu uns herabgelassen, erschöpft winde ich mich hinauf, stürze in meine Kajüte und sinke in festen Schlaf. . .

Heftiges Wellenschaukeln erweckt mich und jagt mich aufs Verdeck. Hochaufspritzende Fluten zischen empor, ergießen sich über mich. Der Himmel wolkenschwer. Stürmischer Wind, Schneeflocken mit sich fahrend, fegt daher. In dichten Pelz gehüllt, steht oben der Kapitän. Freundlich winkt er mich zu sich, erklärt mir die Reise und erzählt von früheren gefahrvollen Fahrten.

Bald geht es dann zum Mittagessen. Außer Pascha, einem langnasigen Armenier und mir fehlen alle Passagiere. Seufzend, seekrank liegen sie in ihren Betten. Ein vortreffliches Essen und Getränk und, trotzdem wir ewig hin und hergeworfen werden, ein lustiges Plaudern . . .

Am zweiten Tage der Fahrt gewahrten wir die Schneegipfel des Kaukasus und kurze Zeit darauf hielten wir bei der kleinen Festung Petrowsk, deren Häuserreihen von den Ufern des Meeres bergan steigen. Der Hafen ist nicht groß und eingegrenzt von halbkreisförmigen Steindämmen. Die Straßen von Petrowsk sind ziemlich nett und rein und breit. Den Sommer über kommen die Astrachaner gern her und erquicken sich in dem hier angelegten schönen Garten, den die Petrowsker stolz mit dem Petersburger „Ssad“ vergleichen.

Gegen Abendanbruch desselben Tages langten wir in der letzten Station vor Baku, in Derbend an; diese Küstenstadt ist durch ihre kunstvollen Teppiche berühmt und liegt nicht minder schön als Petrowsk. An Bord unseres Dampfers erschienen viele Perser und Perserinnen — die Stadt war früher persisch — und brachten Trauben, Birnen, Pfirsiche, Nüsse und Weine. Alles war spottbillig, so kosteten wundervolle Trauben 2 und 3 Kopeken das Pfand. Während bei unserer Abfahrt von Astrachan starker Schneefall eine gute Aussicht auf baldige Schlitterbahn eröffnet hatte, herrschte in Derbend eine wahre Julihitze.

Am anderen Vormittag um 11 — es war an einem Montag — kamen wir endlich, nachdem wir das Vorgebirge Apscheron, den weit in das Meer hineinspringenden Ausläufer des Kaukasus, umdampft hatten, in der Petroleumstadt Baku an. Wegen unserer ungeheuren Verspätung wurde ich von meinem in Tschomygorodok bei Baku lebenden Bruder nicht erwartet. So musste ich einen Wagen nehmen und zu seiner Fabrik hinausfahren.

Stundenlang ging es über Stock und Stein, über ungeebnete Wege, hügelauf und hügelab. Der Kutscher kannte sich nicht aus, führte mich von Fabrik zu Fabrik, bis sich schließlich ein Mann meiner erbarmte, sich auf den Wagen setzte und uns zum gesuchten Hause leitete.

Es war das letzte in der langen Reihe der Häuser, die Oehlrichsche Fabrik, hart am Ufer des Kaspi. Ich hielt, zahlte und sprang heraus.

Welch ein Wiedersehen! Bruder und Schwägerin waren schon in Angst um mich gewesen und nun glücklich, mich gesund und munter zu sehen. Sie führten mich zu einer Wiege — da lag die blondlockige Werotschka drin, eine holde Blume des Nordens in fernen Süden zu fröhlichem Gedeihen verpflanzt . . . Dann kam ein stattlicher Ssamowar auf den Tisch und prächtiges, schon seit Tagen fertiges Hausgebäck. Das ließ ich mir gut munden und war voll fröhlicher Gefühle, und nach langer, endlos langer, aufregender Reise genoss ich kurze Zeit ungestörter Ruhe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom Kaukasus zum Hindukusch.