Volkswirtschaftliche Briefe aus Russland. Waag-Neustadt, 26. Juni 1864.

Nordische Revue. Bd. 1. Internationale Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
Autor: Ant. E. Horn, Erscheinungsjahr: 1864

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Handel, Wirtschaft, Banken, Bankhäuser, Papiergeld, Finanzprojekte, Rubel, Einnahmequellen, Finanzreform, Branntweinmonopol, Tabaksteuer,
Inhaltsverzeichnis
  1. Erste Fortsetzung
Ihr russischer Korrespondent, Herr Redakteur, schreibt und sendet Ihnen seinen ersten Bericht vom Waagufer, aus Ungarn. Ist das nicht schon an sich ein gutes Vorzeichen für die Unparteilichkeit seiner Mitteilungen, so dient der Umstand — und darum eigentlich wird er erwähnt — als Entschuldigung für etwaige Mängel und Irrtümer, die sich leicht später berichtigen lassen werden. Ich habe leider für die kurze Reise in meine Heimat nicht all die Belege mitgenommen, die zu einer gründlichen Arbeit über russische Finanzen notwendig wären, aber das Nötigste ist vorhanden, und mit Hilfe eines nicht zu schlechten Gedächtnisses hoffe ich die Reihe volkswirtschaftlicher Berichte aus Russland, die Sie in Ihrer geschätzten Revue unterbringen wollen, in des Stoffes nicht unwürdiger Weise zu eröffnen.

Seit dem 15. Januar d. J. kann man bekanntlich von russischen Finanzen nicht reden oder schreiben, ohne des Hrn. Professors Wolowski zu gedenken, der in der „Revue des Deux Mondes " diesen Finanzen ein so erschreckendes Horoskop gestellt. Es hat mit jenem berühmten Artikel seine besondere Bewandtnis, und die Geschichte desselben ist noch nicht geschrieben. Ich meine nicht seine Entstehungsgeschichte, die sich leicht auf den militärischen Misserfolg der polnischen Insurrektion zurückführen lässt, sondern die Geschichte dessen, was der Artikel in Russland zur Folge hatte. Es muss gesagt werden, dass der erste Eindruck ein gar nicht ungünstiger war. Man ist einerseits in Russland bescheiden und andererseits frondeur. Man beugt sich willig unter das Urteil des Auslandes, besonders wenn es wissenschaftlich begründet oder durch einen Namen von Klang gedeckt ist; überdies hatten die Russen selbst nichts weniger als eine gute Meinung von ihren Finanzen, und endlich hatte Herr Wolowski, nicht ungeschickt und wohl auch nicht absichtslos, das System angegriffen, die Personen aber auf das lobendste erwähnt. Dazu kam, dass die Fakta, welche Herr W. anführte, im Lande selbst längst bekannt waren, und man dort bereits, je nach den persönlichen Meinungen, entweder mit dem französisch-polnischen Professor die desperaten Schlussfolgerungen gezogen, oder aber auf Mittel zur Änderung und Besserung gesonnen oder auch sich in das fatalistische nationale „nitschewo" ergeben hatte. Waren auch einzelne allerdings bedeutende faktische Irrtümer unterlaufen, so hielt man sie dem Ausländer zu gute, da es bekannt, dass selbst die gewissenhaftesten Forscher sich zuweilen im Studium unserer nicht allzu luciden Finanzdokuments verirren. Erst als man den Zweck der Wolowski'schen Polenreklame erkannte, als man sah, wie gierig sich alle Russenfeinde um dieselbe scharten, um wie emsige Bienen daraus neuen Honig für ihre Polemik zu saugen, da trat ein gewaltiger Umschlag ein, und Wolowskis Artikel bewirkte in den Finanzfragen, was die austro-anglo-französischen Mahn- und Drohnoten im Vorjahre in Bezug auf die politischen Meinungen des Landes getan: alle Verschiedenheiten schwanden, und wer zur Feder griff, tat es, um über Verleumdung, boshafte Entstellung der Tatsachen, absichtliche Fälschung der Ziffergruppierung u. s. w. zu klagen. Einige Wenige, deren Wort gerade auch nicht ohne Bedeutung gewesen wäre, schwiegen. Da die Zeit nicht dazu angetan war, dass man Alles sagen konnte, enthielten sie sich lieber einer Polemik, in der es dem Kundigen bald offen werden musste, wie man in beiden Lagern sehr wohl wusste, dass auch die Behauptungen der gegnerischen Partei nicht ganz wertlos seien. Einen Dienst indes leistete Herr Wolowski unstreitig Russland: er lenkte die Aufmerksamkeit des Auslandes auf dessen Finanzen, welche — wir konnten dies eben erst anlässlich der W.'schen Polemik' konstatieren — demselben ein vollständig fremdes Terrain waren*), und da nun einmal bei uns ebensoviel, ja mehr, auf die Meinung des Auslandes als auf das Urteil des Inlandes gegeben wird, so lässt sich hoffen, jene Aufmerksamkeit werde dem Lande zu großem Nutzen gereichen und die Finanzleiter anspornen, den vorhandenen Mängeln mit immer wachsender Energie entgegenzuarbeiten.

*) Es ist vorgekommen, dass ausländische Bankhäuser ersten Ranges, welche mit großen Finanzprojekten nach Russland kamen, von der Existenz der wöchentlichen Bankbilanz nicht einmal etwas wussten.

Der Hauptsitz dieser Übel ist unstreitig im System unsres Kreditwesens zu suchen. Es ist in letzterer Zeit in Zeitungsartikeln, Revuen und Broschüren Vieles über diese Seite unsrer Finanzwirren geschrieben worden, und jedenfalls ist die Frage spruchreif und die Anwendung der Heilmittel dürfte gar nicht lange mehr auf sich warten lassen. Dennoch aber muss ich Sie bitten, mir zu gestatten, dass ich für heute die eigentliche Kredit- d. h. die Papiergeldfrage mit Stillschweigen übergehe, und wäre es auch nur, weil vor wenigen Tagen erst der Jahresbericht der Staatsbank dem betreffenden Komitee vorgelesen wurde und dessen Veröffentlichung demnächst zu erwarten steht. Wir werden also dort die neuesten Daten über den Stand der Bankoperationen, welche mit dem Staatskreditwesen so innig, leider viel zu innig verschmolzen sind, zu suchen haben. Vorläufig aber wenden wir uns dem Staatsbudget zu, das vor kaum drei Wochen für das Jahr 1864 veröffentlicht wurde.

Das Budget von 1864 ist das dritte seiner Art. Das erste wurde bekanntlich im Januar 1862 veröffentlicht: ein schwacher Staatsfinanzenausweis, dem man seine vorzeitige Geburt ansah. Hierauf wurde Herr v. Reutern Finanzminister, und schon im Juni 1862 erschien von diesem ein Bericht an den Kaiser, worin die Notwendigkeit einer detaillierten Budgetveröffentlichung nachgewiesen wurde. Diesem Berichte gemäß sind auch die zwei andern Budgets (1863 u. 1864) abgefasst. Wenn Russland dereinst zu einer parlamentarischen Verfassungsform gelangt, werden seine Kammerredner nicht erst, wie in Preußen und in Frankreich, die dort seiner Zeit vielbesprochene „Spezialität" des Budgets zu erkämpfen haben. Das russische Budget lässt in dieser Beziehung nichts zu wünschen übrig. Freilich wird dasselbe bis jetzt dem Publikum nur „zur Kenntnisnahme und Danachachtung" mitgeteilt, und man könnte somit das Interesse an diesen langen Zahlenreihen als ein rein statistisches, d. h. nicht unmittelbar praktisches oder gar als ein bloßes interêt de curiosité hinstellen. Mitnichten jedoch. Ist auch noch keine gewählte Landesversammlung zur Hand, um an den 43 Einnahme- und den 196 Ausgabe-Posten ihre prüfende, bewilligende oder versagende Kritik zu üben, so ist doch der öffentlichen Meinung die Möglichkeit gegeben, diese Kritik in der Presse zu üben, auf Missbräuche hinzudeuten und für neue Bedürfnisse Befriedigung zu erlangen.

Das russische Budget kann unstreitig das Verdienst in Anspruch nehmen, dass es, namentlich in seinen Einnahmeposten, sich einer ziemlich primitiven Einfachheit erfreut. So lassen sich denn auch diese Posten in nicht zu vielen Ziffern zusammenfassen, ohne dass dem Verständnis Eintrag geschehe. Die Gesamtziffer der für 1864 angesetzten Bruttoeinnahmen beläuft sich auf 401.094.798 Rubel, wovon auf die gewöhnlichen Einnahmen 346 ¼ Mill., ferner 8 1/3 Mill. auf die durch gleichsummige Ausgaben aufgewogenen Einnahmen (genannt recettes d’ordre) und endlich 46 ½ Mill. auf die außerordentlichen Einnahmen, durch innere und äußere Anleihen gedeckt, kommen. Zieht man die Erhebungskosten von den gewöhnlichen Einnahmen mit 38 Mill. ab, so bleibt eine Nettoeinnahme von 363.100.000 R. Die direkten Steuern, wenn auch an die Spitze des Budgets gestellt, liefern doch kaum den achten Teil der Staatsmittel, nämlich 45 1/5 Mill., wovon 35 ½ Mill. an Personal- und andern Steuern und 9 2/3 Mill. an Handelstaxen. Bei den indirekten Steuern hat die vor 14 Jahren auf neue Basis gestellte Getränkesteuer die höchsten Erwartungen übertroffen, und während im Vorjahre der Bruttoertrag sich nur auf 108 Mill. belief, wird für das Jahr 1864 die Nettoeinnahme auf 118 ½ Mill. angenommen, nach bereits erfolgtem Abzug von 9 ¼ Mill. für Erhebungskosten. Allerdings erinnert der Bericht des Herrn Finanzministers daran, dass vom 1. Juli 1864 an eine Erhöhung der Getränke-Akzise eintritt, aber ist schon nach allgemeiner Anerkenntnis diese Erhöhung eine vollkommen gerechtfertigte und durchaus erträgliche, weil seit Abschaffung des Monopols die Preise der geistigen Getränke bedeutend heruntergegangen und deren Konsumtion in erschrecklicher Weise zugenommen, so wird vom rein finanziellen Standpunkte aus jene Steuererhöhung noch durch eine Verminderung der Biertaxe teilweise ausgeglichen. Von den weiteren indirekten Einnahmen nennen wir die Salzsteuer (8 4/5 Mill. Nettoerträgnis), Tabaksteuer (3 3/5 Mill.), Zollabgaben (an 31 Mill.), Stempelgebühren (5 1/3 Mill.), Bergwerk- und Münzerträgnis (4 ¼ Mill.), Post und Telegraphen (997.000 R.; bei einem Bruttoertrags von nahe an 14 2/3 Mill. und Auslagen von 135 Mill.) Eine weitere Einnahmequelle bilden die Staatsdomänen mit 45 2/5 Mill., die von den Provinzen und Distrikten geleisteten Zuschüsse (185 Mill.), endlich der (allerdings nur zu fiktive) Überschuss aus den Einnahmen Polens mit 3 1/6 Mill. Ich übergehe die übrigen minder bedeutenden Posten und will für heute bezüglich der oben spezifizierten nur sagen, dass jeder einzelne derselben entweder im Laufe der letzten zwei Jahre einer vollständigen Umwandlung unterzogen wurde oder einer solchen demnächst entgegensehe.

Es ist in der Tat besonders zu konstatieren, dass wohl kaum ein Land in Europa, selbst England nicht ausgenommen, wo Gladstone seit drei Jahren mit fortwährenden Steuerreduktionen und Reformen vorgeht, dass, sage ich, kein Land einer so durchgreifenden Finanzreform unterworfen wurde, wie Russland seit zwei Jahren. Das Branntweinmonopol, diese Grundfeste unseres ganzen Steuersystems, ist vor kaum 18 Monaten gefallen; das Geschrei eigennütziger Pessimisten ist verstummt; nicht nur entspricht das neue System dem Gesetze der Billigkeit und der Gerechtigkeit, dem modernen Streben nach industrieller Freiheit; sondern es ist auch die Furcht vor einem Defizit in den Einnahmen beseitigt; schon im ersten Jahre, trotz der polnischen Revolution und der in der Sache selbst begründeten Übelstände, haben die Einnahmen aus diesem Zweige um nahe an elf Millionen mehr betragen, als die Regierung in ihrem Budget vorausgesehen hatte, und gleichzeitig ist der Preis des Getränkes billiger geworden, die Fabrikation hat zugenommen, und selbst heute, nachdem die Regierung eine Erhöhung um 25% angeordnet, ist die Ausfuhr des Branntweins ins Ausland noch möglich. Es hat freilich auch an Solchen nicht gefehlt, die in dieser zu großen Zugänglichkeit der geistigen Getränke eine Gefahr für die Moralität der Massen erblickten, und mit einem gewissen schauerlichen Wohlbehagen werden die Ziffern gruppiert, welche dartun sollen, wie unendlich die Zahl der Branntweinhäuser gewachsen, und wie sehr die daraus entstehenden Unglücksfälle zugenommen. Et après? könnten wir diese Leute fragen; ist das Privilegium einiger Weniger, den Branntweintribut aus den Taschen der ärmsten Volksklassen zu ziehen, wirklich eine Garantie für die Moralität dieser letzteren? Doch wohl nicht. Haben die Trunkenheitsfälle wirklich seit 18 Monaten zugenommen, was erst noch zu beweisen wäre, so dürfte das Mittel, dem zu steuern, weder in einer Verminderung der Schenken noch in einem übermäßigen Hinaufschrauben des Getränkepreises zu finden sein. Ersteres Mittel dürfte nur ein Privilegium zu Gunsten der übrigbleibenden schaffen, das andere würde zu den gröblichsten Getränkefälschungen Anlass geben; keines aber die Sittlichkeit oder die Gesundheit der Bevölkerung befördern.

Die Regierung indes, man muss das zu ihrem Lobe sagen, ist keinesfalls gesonnen, eine ins Werk gesetzte Reform auf unverständiges oder interessiertes Geschrei hin sofort wieder rückgängig zu machen. Der ministerielle Bericht, welcher dem Budget beigegeben ist, konstatiert vielmehr, dass auf den Wegen der Reformen beharrlich fortgeschritten wird und so weist auch die Salzsteuer gegen das Vorjahr ein Mehrerträgnis von einer halben Million nach, wovon die eine Hälfte durch Ersparnisse, die andere durch bessere Manipulation erzielt wurde. Auf die Reformen dieser Branche, ebenso bezüglich der Stempelsteuer und der Domänengefälle kommen wir später wieder zurück. Für heute drängt es uns zum Ausgaben-Budget von 1864, dessen wir bisher noch gar nicht Erwähnung getan.

Alexander I. Zar von Russland

Alexander I. Zar von Russland

Zar Peter der Grosse

Zar Peter der Grosse

Alexander III. (1845-1894) Kaiser von Russland

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Anatolische Türken

Anatolische Türken

Armenisches Büffelgespann

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Auf der Flucht 1913

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Tarantaß - Russlands Postkutsche

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Garde Tscherkesse

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Gasthaus im Kaukasus

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Kosaken beim Beutemachen 1913

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Gefallener Kosak

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Gefangennahme von Zivilisten 1913

Gefangennahme von Zivilisten 1913

Grusiner

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Hamal - armenischer Lastträger

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Russland 002. Petersburg, Winterpalast, Architekt Rastrelli

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Russland 002. Petersburg. Der Taurische Palst (Gebäude des Reichsduma)

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Russland 003. Petersburg, Denkmal Peters des Großen

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Russland 007. Petersburg, Vorhalle der Isaakskathedrale

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Russland 010. Petersburg, Die große Moschee

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Russland 010. Petersburg, Isaaksplatz

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Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

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Russland 011. Schlitten

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Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

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Russland 078. Jüdische Handwerkerfamilie in Podolien

Russland 078. Jüdische Handwerkerfamilie in Podolien