99. Seemännlein.

In dem Seebenweiher oder Glaswaldsee, der unergründlich ist, hielten vordem sich Seemännlein auf, welche so groß wie Kinder und oben wie Menschen, unten wie Fische gestaltet waren, auch sich unsichtbar machen konnten. Eines derselben war mit den Leuten des Seebenhofs, der drei Viertelstunden weiter unten am Berge liegt, so befreundet, daß es jeden Morgen sie weckte und bis zum Abend bei ihnen blieb, wo es in den See zurückkehrte. Den ganzen Tag schaffte es für sie, besonders lag es der Wartung ihres Viehes ob, das dabei schöner als je gedieh. Uebrigens mußten sie, wenn sie dem Männlein eine Arbeit auftrugen, jedesmal sagen: „Nicht zu wenig und nicht zu viel!“ sonst that es entweder viel zu wenig oder viel zu viel. Täglich bekam es auf dem Hofgute sein Frühstück, Mittag- und Nachtessen, das ihm unter die Treppe gestellt werden mußte, wo es, alleinsitzend, dasselbe verzehrte. Obschon sein Anzug, wie sein Schlapphut, stark abgetragen und seine Jacke obendrein verrissen war, hielt es doch stets den Seebenbauer ab, ihm andere Kleidungsstücke anzuschaffen. Endlich aber ließ derselbe im Winter heimlich ein neues Röcklein machen und gab es abends dem Männlein. Da sagte dieses: „Wenn man ausbezahlt wird, muß man gehen; ich komme von morgen an nicht mehr zu euch.“ So sehr der Bauer auch versicherte, daß der Rock kein Lohn, sondern nur ein Geschenk sei, konnte er doch das Männlein von seinem Vorsatze nicht abbringen.

Hierüber böse, gab die Magd dem Männlein kein Nachtessen, und es ging mit leerem Magen von dannen. Am andern Morgen fand man vor dem Hause die Magd todt und auf den Kopf gestellt, welcher ganz in dem Boden eingegraben war. Das Seemännlein hat niemals mehr auf dem Seebenhofe sich blicken lassen.