72. Suggenthal.

In diesem Grunde befanden sich vor Zeiten viel reiche Gold- und Silbergruben, worin fünfzehnhundert Bergleute arbeiteten; er war so voll Häuser, daß die Katzen von der Elz bis zum obersten Hof auf den Dachfirsten kommen konnten, und auf der heutigen Schloßmatte stand ein stattliches Grafenschloß. Darin und in dem ganzen Orte herrschte großer Reichthum, aber auch große Hoffart und Ueppigkeit. Die Gräfin hatte eine einzige, wunderschöne Tochter, um die sich viele bewarben; allein dieselbe wollte nur denjenigen nehmen, welcher im Schloß einen gläsernen Weiher mit lebendigem Wasser anlegen würde, daß sie aus ihrem Bett die Fische darin umherschwimmen sähe. So schwer diese Bedingung auch zu erfüllen war, so ließ doch der Anführer der Bergleute sich nicht abschrecken, sondern führte mit unsäglicher Mühe eine dreistündige Wasserleitung (deren Ueberbleibsel jetzt der Mauerweg heißen) von der Platte bis zum Schlosse, wo er den Weiher, ganz nach des Fräuleins Verlangen, anlegte. Auf dieses schenkte sie ihm ihre Hand; die Hochzeit ward im Schloß und Ort aufs üppigste gefeiert, und endlich der Uebermuth und die Frechheit so groß, daß sie die Brosamen des Weißbrodes herausschnitten und in der Kruste wie in Schuhen tanzten, ja, ganz nackt Reigen aufführten.

Während dessen ging der Pfarrer mit dem hochwürdigen Gut am Schlosse vorüber zu einem Kranken, wobei der vorangehende Meßner üblicher Weise schellte. Da wollten einige mit dem Tanz einhalten und niederknieen, aber die Gräfin rief: „Was fragt ihr nach der Schelle, jede meiner Kühe hat auch eine solche!“ und nun ging es fort mit Spielen und Tanzen. Auf dem obersten Hof bei dem Kranken, der ein christlicher, alter Mann war, angekommen, versah ihn der Pfarrer mit den heiligen Sakramenten und entfernte sich dann wieder in Begleitung des Meßners. Nicht lange darauf schickte der Mann seinen sechzehnjährigen Sohn, welcher allein bei ihm war, an das Fenster, um nachzusehen, ob am Himmel keine Wolke sei. Die Antwort lautete: es komme ein Wölkchen, so groß wie ein Hut, über den Schwarzenberg. Noch zweimal mußte der Sohn nach der Wolke schauen; das erste Mal hinterbrachte er: sie sei so groß wie eine Wanne; das zweite Mal: sie habe die Größe eines Scheuerthors. Da befahl ihm sein Vater, ihn geschwind auf den Luser zu tragen, denn Gottes Gericht breche jetzt über das Thal herein. Nachdem sie auf dem Berg angelangt waren, setzten sie sich nieder und betrachteten das kohlschwarze Gewitter, welches inzwischen über dem Thal sich zusammengezogen hatte, und nun mit schrecklichen Blitzen und Donnerschlägen und einem ungeheuren Wolkenbruche sich entlud. Alle Gebäude, außer der Kirche und dem obersten Hofe, wurden entweder vom Wasser weggerissen, oder von den einstürzenden Bergen bedeckt, sämmtliche Gruben zerstört, und von der ganzen Einwohnerschaft nur der alte Mann mit seinem Sohn und ein kleines Kind am Leben erhalten. Dieses Kind, ein Knäblein, schwamm in seiner Wiege mitten in der Fluth, und bei ihm befand sich eine Katze. So oft die Wiege auf eine Seite sich neigte, sprang die Katze auf die entgegengesetzte und brachte so die Wiege wieder ins Gleichgewicht. Darüber gelangte diese glücklich bis unterhalb Buchholz, wo sie im Dold oder Wipfel einer hohen Eiche hängen blieb. Als der Baum wieder zugänglich geworden, holte man sie herunter, und fand Kind und Katze lebend und unverletzt. Da niemand wußte, wer des Knäbleins Eltern gewesen, so benannte man es nach dem Wipfel des Baumes: Dold, und dieser Name wird von seinen Abkömmlingen noch heute geführt. Nachdem das Wasser aus dem Thal abgelaufen war, fanden die Leute der Nachbarschaft viele Leichen, die sie noch erkannten; auch stifteten sie für die Umgekommenen zahlreiche Seelenmessen. An der Kirche hatte das Wasser ein Zeichen seiner Höhe hinterlassen, das auf keinerlei Weise mehr weggebracht werden konnte.


Der ganze Grund, welcher bisher Reichenthal geheißen, erhielt nun den Namen Sunkenthal, und daraus ist in der Folge Suggenthal geworden.