48. Der Titisee.

Unterhalb der Seesteige stand in alter Zeit eine reiche Stadt mit einem Kloster. Als die Ueppigkeit ihrer Bewohner so groß geworden war, daß sie die Weißbrodleiber aushöhlten, die Brosame dem Vieh verfütterten und in der Kruste, wie in Schuhen, umhergingen, versank die Stadt in die Erde, und an ihrer Stelle entstand der Titisee. In dessen Tiefe ist bei hellem Wetter die Thurmspitze des Klosters noch sichtbar, das, wann jenes zu Friedenweiler versinkt, wieder aus dem Wasser emporsteigt. Vor vielen Jahren begann der See an der Schanze auf der Höllensteige auszubrechen. Da kam in der Nacht eine alte Frau, verstopfte, indem sie etwas sprach, die Oeffnung mit ihrer weißen Haube und verhinderte dadurch den Ausfluß. Von der Haube verfault jedes Jahr ein Faden, und wenn der letzte verwest ist, bricht der See heraus und überschwemmt das ganze Dreisamthal. Einige sagen, daß, zur Abwendung dieses Unglücks, in dem Freiburger Münster täglich eine Messe gelesen werde.

Nachdem schon manche vergebens gesucht hatten, die Tiefe des Sees zu ergründen, nahm einer sich vor, dieselbe schlechterdings auszumitteln. Er fuhr mit einem Kahn in die Mitte des Sees und warf an einer fast endlosen Schnur das Senkblei aus. Schon waren achtzehn Spulen Faden im Wasser und noch genug zum Nachlassen vorhanden, da rief aus den Wellen eine fürchterliche Stimme:


„Missest du mich,
So fresse ich dich!“

Oder, wie andere sagen:

„Willst du mich messen,
So will ich dich fressen!“

Voll Schrecken ließ nun der Mann von seinem Unternehmen ab, und seitdem hat niemand mehr gewagt, nach der Tiefe des Sees zu forschen.

In einem Sumpf bei Hinterzarten, eine Stunde vom See, ist einmal ein Paar zusammengejochter Ochsen versunken, und ihr Joch einige Jahre nachher im See an der Wutachbrücke gefunden worden.