36. Die weiße Jungfrau und der Schustergesell.

Vor ungefähr siebzig Jahren ging eines Sonntags ein katholischer Schustergesell, der zu Britzingen in Arbeit stand, auf das verfallene Bergschloß Neuenfels. Dort kam eine schneeweiße Jungfrau zu ihm und fragte, was er da mache, und ob er sich in der öden Burg nicht fürchte. Auf die Antwort: daß er sich Haselnüsse breche und, da er niemand etwas zu Leid thue, keinen Grund zur Furcht habe, hieß sie ihn mit ihr gehen, was er auch ohne Bedenken that. Bei einem Steine öffnete sie, mit einem Schlüssel ihres Gebundes, die eiserne Pforte eines unterirdischen Ganges, der sein Licht durch Zuglöcher an der Decke erhielt. Als sie hindurch gegangen waren, kamen sie, mittelst der Schlüssel, nacheinander in drei mit Eisenthüren versehene Gewölbe, in deren jedem ein großer schwarzer Hund viele Kisten bewachte. Auf Geheiß der Jungfrau sprangen die Hunde von den Kisten herab, sie machte diese auf, die im ersten Gewölbe waren mit Silbergeld, die im zweiten mit Goldmünzen, die übrigen mit kostbarem Schmuck, goldenen und silbernen Gefäßen angefüllt. Nachdem der Gesell alles betrachtet hatte, führte ihn seine Begleiterin wieder zurück und auf den Platz, wo sie zuerst ihn getroffen. Daselbst sprach sie zu ihm Folgendes: „Du kannst mich erlösen, und dir dadurch alle die Schätze, so wie deinem Hause immerwährendes Glück verschaffen. Komme drei Samstage hintereinander, Abends nach der Betglocke, auf das Schloß, wo du mich stets auf dem Stein bei der Thüre des unterirdischen Ganges finden wirst. Von dort trage mich jedesmal auf deinem Kopfe, da, wo du den heiligen Chrisam empfangen, bis zu diesem Steine hier. Reden mußt du nichts, dich auch durch das, was dir etwa begegnet, nicht schrecken lassen; denn es wird dir kein Haar beschädigt.“ Der Bursch versprach, alles zu thun, kam auch die beiden folgenden Samstage zur bestimmten Zeit in die Burg und trug auf seinem Kopfe die Jungfrau von dem einen Stein zum andern, ohne auf ein Hinderniß zu stoßen. Als er am dritten Samstag den Schloßberg hinanstieg, blitzte und donnerte es, und ein Tonspiel ließ sich hören; allein er ging getrost hinauf und begegnete einer alten Frau, welcher aus der Nase der Rotz, gleich einem Eiszapfen, bis auf den Bauch hing. Sie fragte ihn nach dem Weg auf einen benachbarten Ort, wo sie morgen bei einer Hochzeit zu kochen habe. Ohne ihr zu antworten, sagte er leise vor sich hin: „Du magst mir eine schöne Köchin sein, mit deiner silbernen Rotznase!“ Kaum hatte er dies gesprochen, so verschwand die Frau, und es krachte so fürchterlich, wie wenn der ganze Wald zusammenbräche. Entsetzt entfloh er, und obgleich die weiße Jungfrau, vom unterirdischen Gang her, ihm zurief: „Freund, sei standhaft und vollbringe dein Werk, es wird dir kein Haar beschädigt!“ so ließ er sich doch nicht halten. „Wehe mir, die Eichel ist noch nicht im Boden, aus deren künftigem Stamm die Wiege des Jünglings gemacht wird, der mich wieder erlösen kann!“ dies hörte er auch noch die Jungfrau ihm nachrufen; allein er eilte unaufhaltsam fort und kam ganz verstört nach Hause. Im Gefühl seines nahen Todes verlangte er einen Beichtvater seines Glaubens, erzählte ihm und seinem Meister, was ihm auf der Burg widerfahren und starb am folgenden Morgen.